Kost und Logis: Der blinde Fleck

Nr. 11 –

Ruth Wysseier plädiert für eine Inklusionsversicherung

Warum eigentlich heisst die Invalidenversicherung heute noch Invalidenversicherung? Invalid bedeutet unwert, ungültig. Der Begriff wurde ursprünglich für Soldaten gebraucht, die wegen einer Kriegsverletzung für den Kampfeinsatz nicht mehr zu gebrauchen waren. Ein furchtbar diskriminierender Begriff.

Vor fünfzig Jahren hatte ich eine Tante, die war ein Fräulein, weil unverheiratet, und eine andere, die war invalid, weil gelähmt.

Junge Fräulein galten damals als kleine, ältere als halbe Frauen. Seither hat sich für das Fräulein viel getan. Es wurde verbannt, die Frauen wurden laut, kritisierten die Sprache und erfanden sie neu mit Binnen-I, Genderstern und -doppelpunkt. Sie kämpften gegen diskriminierende Gesetze (Stimmrecht, Scheidung, Gleichstellung), bis diese neu geschrieben wurden.

Alles auf guten Wegen also? Was hat sich an der Diskriminierung der invaliden Tante geändert? Nun ja, fortschrittliche Leute würden sie heute als Mensch mit Behinderung oder Beeinträchtigung bezeichnen, und die eine oder andere soziale Institution spräche sie als Klientin an.

Aber die Versicherung heisst immer noch Invalidenversicherung, die Rente Invalidenrente. Die lauteste Diskussion dazu kam nicht von protestierenden Betroffenen, nein, die SVP hatte sie losgetreten, als sie auf Stimmenfang ging, indem sie auf die Schwächsten der Gesellschaft eindrosch: Sie lancierte den Kampfbegriff Scheininvalide, schürte Misstrauen und Verachtung. Es wurde ein bösartiges gewinnorientiertes Begutachtungssystem gezimmert, um die Versicherungskasse zu entlasten und möglichst viele Ansprüche abzuschmettern.

Der Begriff Invalidenversicherung hat diversen Postulaten, Motionen und Gesetzesrevisionen standgehalten; die jüngste Motion «Gegen die sprachliche Diskriminierung von Menschen mit Behinderung» hatte 2016 Nationalrätin Marianne Streiff-Feller mit 32 weiteren Rät:innen eingereicht. Der Bundesrat beantragte Ablehnung, und 2018 wurde sie sang- und klanglos abgeschrieben, weil sie nicht innert zweier Jahre im Rat behandelt worden war.

Der Bundesrat hatte sich dabei auf den Aufsatz eines Bundeskanzleiexperten für juristische Sprache gestützt, der kenntnisreich und spitzfindig «laienlinguistische Fehlmeinung» ausmachte und argumentierte, Wörter allein seien nicht diskriminierend. Er tadelte die «Politikerinnen und Politiker, die zwar im Brustton der Überzeugung sagen, was nicht geht, aber nicht sagen, wie es denn gehen könnte».

Dem Mann kann geholfen werden, dachte ich spontan. Nennen wir sie doch ab sofort Inklusionsversicherung / Assurance-inclusion / Assicurazione per l’inclusione. Der Vorschlag ist günstig, nicht mal die Logos (IV oder AI) müssen geändert werden. Und die Höhe der Rente wird künftig so berechnet, dass mit ihr die grösstmögliche Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben möglich ist. So könnte es doch gehen!

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee. Sie wünscht sich, dass der 3. Dezember so bekannt wird wie der 8. März.