Ausländische Gefangene: Unversichert hinter Gittern

Nr. 12 –

Jede:r dritte in der Schweiz Inhaftierte hat keine Krankenversicherung. Das verstösst gegen internationale Menschenrechtsstandards. Doch jetzt kommt Bewegung in die Sache.

Zelle im Genfer Universitätsspital für die Behandlung Gefangener
Frisch renoviert: Die Genfer Universitätsspitäler betreiben einen speziellen Zellentrakt für die Behandlung Gefangener aus der französischen und der italienischen Schweiz. Foto: Martial Trezzini, Keystone

Die schwangere Frau verweigert den Arztbesuch. Obwohl die gynäkologische Untersuchung für sie und ihr Kind wichtig wäre, will sie nicht ins Spital. Die Insassin eines Schweizer Gefängnisses fürchtet die Kosten der Konsultation. Sie hat keine Krankenversicherung.

Ihre Geschichte sei bei weitem kein Einzelfall, betont Hans Wolff. Gefangene, die aus Angst vor den Kosten ärztliche Behandlungen ausschlagen oder Medikamente absetzen: Solche Geschichten kann der Präsident der Schweizer Gefängnisärzt:innen zahlreiche erzählen. Er sagt: «In Schweizer Vollzugsanstalten gibt es eine massive Ungleichbehandlung.»

Der Grund: Ausländische Gefangene ohne festen Wohnsitz in der Schweiz fallen nicht unter das Krankenkassenobligatorium. So sind laut Schätzung der Behörden rund ein Drittel der in der Schweiz inhaftierten Personen nicht versichert. Werden sie krank, haben sie oftmals nur Anspruch auf eine Notfallversorgung.

Gefängnisärzt:innen wie auch Menschenrechtsinstitutionen kritisieren diesen Missstand seit Jahren. Die Situation sei ein Verstoss gegen die sogenannten Nelson Mandela Rules, sagt etwa das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte. Diese Mindestgrundsätze der Uno halten Staaten dazu an, Personen in Haft den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung zu ermöglichen wie dem Rest der Bevölkerung. Äquivalenzprinzip heisst das im Fachjargon.

Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) will das Krankenkassenobligatorium auf alle Inhaftierten ausdehnen, auch auf solche ohne Schweizer Wohnsitz. Am 7. März ist die Vernehmlassungsfrist für eine Gesetzesvorlage abgelaufen. «Wir begrüssen sehr, dass endlich alle am selben Strick ziehen», sagt der oberste Gefängnisarzt Hans Wolff dazu. Doch in der aktuellen Form löse die Gesetzesvorlage leider nur einen Teil des Problems.

Kantonaler Flickenteppich

Werfen wir einen Blick zurück. 2016 machte ein Fall aus der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies Schlagzeilen: Die «Tagesschau» des Schweizer Fernsehens berichtete, wie ein Arzt bei einem Insassen einen drohenden Harnverhalt diagnostizierte. Der Patient müsse «unbedingt operiert» werden, riet der Arzt. Weil der Insasse nicht krankenversichert war, hätte das Sozialamt den Eingriff bewilligen müssen. Doch dieses lehnte alle Gesuche für eine Kostenübernahme ab, und der Mann wurde nur notfallmässig behandelt.

Acht Jahre nach dem aufsehenerregenden Fall ist die Lösung des Problems noch immer nicht spruchreif. Die WOZ und das WAV-Recherchekollektiv haben, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, Einsicht in die Akten des Gesetzgebungsprozesses erhalten. Diese zeigen, dass das BAG bereits 2017 gemeinsam mit der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektor:innen (KKJPD) eine Arbeitsgruppe zum Thema einsetzte.

Finde sich für die Gesundheitskosten im Vollzug kein Kostenträger, «kann dies zu einer medizinischen Unterversorgung von Betroffenen und negativen Folgen für die öffentliche Gesundheit führen», skizzierte das BAG das Problem. Ursprünglich hätte die Arbeitsgruppe bis Ende 2017 eine erste Analyse mit Lösungsvorschlägen vorlegen sollen. Das gelingt aber nicht. Es wird klar: Man muss sich zuerst einmal durch das Dickicht föderaler Regelungen kämpfen.

Nicht einmal die genaue Anzahl Betroffener lässt sich ermitteln. In einem Dokument aus dem Jahr 2020 heisst es, nicht versichert seien «schätzungsweise mehr als ein Drittel, mehrheitlich ausländische Staatsangehörige». Gemäss Bundesamt für Statistik befinden sich zu diesem Zeitpunkt schweizweit rund 6000 Personen in Haft.

Aus der ersten Arbeitsgruppe wird eine zweite, dieses Mal unter Federführung der KKJPD. Diese beauftragt das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV), eine Umfrage bei den Kantonen durchzuführen und einen definitiven Lösungsvorschlag auszuarbeiten.

Der bisher unveröffentlichte Abschlussbericht des SKJV liegt den Autor:innen vor. Er zeigt, dass im Jahr 2018 nur 20 von 26 Kantonen ihren Gefangenen eine medizinische Versorgung gemäss dem Krankenversicherungsgesetz (KVG) garantierten. In 6 Kantonen haben Gefangene also keinen Anspruch auf die von der Grundversicherung gedeckten Leistungen. Für die Gesundheitskosten im Vollzug, so zeigt der Bericht ebenfalls auf, kamen in 16 Kantonen die Justizbehörden auf, in den übrigen 10 zum Teil auch die Sozial- oder Migrationsämter.

Hätte der Mann mit dem Harnverhalt seine Strafe also in einem anderen Kanton abgesessen, wäre die Geschichte vielleicht anders ausgegangen. Der aktuelle Gesetzesvorschlag will das in Zukunft verhindern: Auch Gefangene ohne Schweizer Wohnsitz sollen zwingend in allen Kantonen krankenversichert werden. Das würde nicht nur dem in den Mandela-Regeln verankerten Äquivalenzprinzip entsprechen, sondern auch die Praxis der Kantone vereinheitlichen.

Der Vorschlag besagt zudem, dass die Kantone die Wahl des Versicherers einschränken können, und zwar für alle Insass:innen, unabhängig vom Wohnsitz. Damit würden auch Personen, die bereits eine Versicherung haben, während ihrer Inhaftierung über den Rahmenvertrag des Kantons versichert, in dem das Gefängnis liegt. Zuständig für die Kosten wäre der Kanton, der die Inhaftierung anordnet.

Teurer werden dürfte das für die Kantone insgesamt aber nicht. «Einige Kantone äusserten in der Befragung Bedenken wegen der Kosten, etwa wegen der Prämien», sagt Patrick Cotti, Direktor des SKJV. «Doch wahrscheinlich bleiben die Kosten ungefähr gleich. Sie werden aber vorhersehbarer, gerade für kleinere Kantone.»

Und die Kostenbeteiligung?

Wären damit also alle Probleme gelöst? «Nein», sagt Gefängnisarzt Wolff. Der Vorschlag in seiner aktuellen Form hätte zwar das Problem mit dem Harnverhalt im Gefängnis Pöschwies entschärft, die Krankenkasse des Versicherten hätte die Kosten übernommen. Doch die eingangs erwähnte Schwangere hätte sich auch mit Krankenversicherung nicht unbedingt untersuchen lassen.

Das Problem ist die Kostenbeteiligung. Die Kantone bezahlen nur, wenn die Insass:innen nicht selbst dafür aufkommen können: Die Kostenbeteiligungen und Prämien sollen primär und «soweit zumutbar» von der inhaftierten Person bezahlt werden, heisst es im Vernehmlassungsbericht. Was als zumutbar gilt, ist allerdings noch nicht definiert. Das BAG schreibt auf Nachfrage, dass die ungedeckten Kosten allenfalls von der Sozialhilfe übernommen würden – falls der zuständige Kanton zustimme.

«Die meisten Gefangenen sind arm», sagt Wolff. Prämien, Franchise und Selbstbehalt müssten deshalb in den allermeisten Fällen vom Staat finanziert werden. «Für 95 Prozent der Personen in Haft ist es nicht realistisch, dass sie die 700 Franken Selbstbehalt bezahlen», so der Gefängnisarzt. Verweigerten sie aus diesem Grund weiterhin notwendige Behandlungen, habe sich ausser einem administrativen Mehraufwand nicht viel geändert: «Die Abklärung der finanziellen Verhältnisse wird sehr aufwendig werden», prognostiziert der Gefängnisarzt. Gewisse medizinische Untersuchungen – etwa bezüglich Suizidgefährdung – müssten aber sofort geschehen. «Es ist nicht geklärt, wer die Abklärungen macht und was in der Zwischenzeit passiert.»

Das sieht auch der Uno-Unterausschuss zur Verhütung von Folter so. Nach seinem ersten Besuch in der Schweiz forderte er die Behörden 2019 auf «sicherzustellen, dass Insassinnen und Insassen von Strafanstalten landesweit kostenlosen Zugang zur Gesundheitsversorgung» haben. Wolff doppelt nach: Inhaftierte Personen würden elementare Gesundheitsleistungen aus Mittellosigkeit verweigern. Oder aus Angst, sie müssten das wenige hinter Gittern verdiente Geld für eine Behandlung ausgeben, die sie später in ihrer Heimat für einen Bruchteil in Anspruch nehmen könnten. «Das ist nicht nur für die Inhaftierten selbst ein Problem, sondern auch für den Rest der Bevölkerung», sagt der Gefängnisarzt. Etwa dann, wenn übertragbare oder psychische Krankheiten unbehandelt blieben. Denn: «Die meisten werden irgendwann entlassen.»

Aber sind die Gesundheitskosten nicht auch ausserhalb der Gefängnisse für viele eine Herausforderung? Drei Prozent der Bevölkerung verzichten aus finanziellen Gründen auf notwendige medizinische Leistungen, wie Daten des Bundes zeigen. Dieses Argument lässt Hans Wolff nicht gelten. «Es geht nicht darum, wie grosszügig man ist. Es geht darum, dass menschenrechtliche Prinzipien eingehalten werden.» Der Staat habe eine besondere Fürsorgepflicht gegenüber seinen Gefangenen und grundsätzlich allen vulnerablen Gruppen in der Gesellschaft. «Meines Wissens ist die Schweiz das einzige der 46 Länder des Europarats, das die Gesundheitsversorgung in diesem Mass auf die Insassen abwälzt.»

Patrick Cotti dagegen kann nachvollziehen, dass man die Gefangenen zur Kasse bitten möchte. «Es ist ein Spannungsfeld», sagt der SKJV-Direktor. Die Mandela-Regeln postulierten zwar eine kostenlose Gesundheitsversorgung hinter Gittern, um dem Fürsorgeprinzip gerecht zu werden. Doch handle es sich um sogenannte «soft rules», um nicht zwingende Standards. Auf der anderen Seite stehe das im Strafgesetzbuch verankerte Normalisierungsprinzip. Dieses besagt: «Der Strafvollzug hat den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich zu entsprechen.» Sprich: Inhaftierte sollen sich an Kosten beteiligen, wie das Menschen in Freiheit auch tun.

Auch Alain Hofer, stellvertretender Generalsekretär der KKJPD, sieht bei der Kostenbeteiligung noch Klärungsbedarf: «Es gibt ein paar offene Fragen. Viele Inhaftierte werden sich nicht beteiligen können oder wollen. Wer welche Kosten übernimmt, muss noch geklärt werden.» Noch offen sei zudem, ob Häftlinge in allen Kantonen Anrecht auf Prämienverbilligung hätten und ob sie mit ihrem Arbeitsentgelt für Gesundheitskosten aufkommen müssten. Der aktuelle Vorschlag, so Hofer, sei aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Dem stimmt auch der oberste Gefängnisarzt zu.

Jennifer Steiner und Balz Oertli sind Teil des WAV-Recherchekollektivs (www.wav.info).

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