Parlamentswahlen in Grossbritannien: Der Herausforderer

Nr. 13 –

Die Labour-Parteispitze ist in den vergangenen Monaten zunehmend unter Druck gekommen. Es geht um gebrochene Versprechen und fehlende Visionen, aber auch um Gaza. Politaktivist Andrew Feinstein will gegen den Oppositionsvorsitzenden Keir Starmer antreten.

Andrew Feinstein in London
«Die Politik weltweit ist ein einziger Schlamassel – und Keir Starmer personifiziert so viel von dem, was derzeit falsch läuft»: Andrew Feinstein will eine wahrhaft progressive Politik.

Beim letzten Mal, als Andrew Feinstein zum Parlamentsabgeordneten gewählt wurde, herrschten aussergewöhnliche Zeiten. Es war das Jahr 1994, in Feinsteins Geburtsland Südafrika fanden die ersten demokratischen Wahlen statt. Nelson Mandelas African National Congress (ANC) feierte einen historischen Sieg. Einer der 252 ANC-Sitze ging an den damals dreissigjährigen Feinstein, seit seinen Teenagerjahren Parteimitglied und Aktivist in der Antiapartheidbewegung. Nach einigen aufregenden Jahren im Parlament habe bald «die übliche Politik» eingesetzt, sagt Feinstein – der ANC wollte einen korrupten Waffendeal unter den Teppich kehren –, und so entschied er sich 2001, das Handtuch zu werfen.

Jetzt, dreissig Jahre nach seiner ersten Wahl, steht Feinstein kurz davor, wieder in die Politik einzusteigen – nicht in Kapstadt, sondern in London. Sein Ziel: Er will der Karriere von Keir Starmer, dem Labour-Chef und wahrscheinlich nächsten Premierminister, ein vorzeitiges Ende setzen. Feinstein hat vor, bei den kommenden Parlamentswahlen, die wahrscheinlich im Herbst stattfinden, als Unabhängiger gegen Starmer anzutreten.

Starmers gebrochene Versprechen

Mit energischen Schritten tritt Feinstein ins Pub in Hampstead, einem Stadtteil im Norden Londons. Sechzig Jahre alt, breit gebaut, mit kurzem Bart und Brille. «Wir befinden uns erneut in einem wichtigen und aussergewöhnlichen politischen Moment», sagt er, nachdem er sich einen Kamillentee bestellt hat. «Die Politik weltweit ist ein einziger Schlamassel – und Keir Starmer personifiziert so viel von dem, was derzeit falsch läuft.»

Nach seinem Ausstieg aus der südafrikanischen Politik vor über zwanzig Jahren zog Feinstein nach London; er lebt heute in Holborn and St Pancras, Starmers Wahlkreis im Zentrum der Hauptstadt. «Aber ich fühle mich von ihm überhaupt nicht vertreten. Die Beziehung zwischen Politiker:innen und den Leuten, die sie eigentlich repräsentieren sollten, ist kaputt.»

Ein kurzer Rückblick. Keir Starmer wurde im April 2020 zum Labour-Vorsitzenden gewählt; er hatte während der Wahlkampagne ein dezidiert progressives Programm versprochen, von der Vergesellschaftung der Energie- und Wasserversorgung über Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft bis zu Steuererhöhungen für Reiche. Aber es dauerte nicht lange, da vollzog er einen Kurswechsel und warf ein Versprechen nach dem anderen über Bord. Der Rechtsschwenk der Labour-Partei unter Starmers Führung war scharf und entschlossen. Eine Vermögenssteuer wird es nicht geben, dafür will Starmer die von den regierenden Tories eingeführte Beschränkung des Kindergelds für arme Haushalte beibehalten; er steht voll hinter den harschen Antiprotestgesetzen der jetzigen Regierung, und das angekündigte grüne Investitionsprogramm hat er eben um die Hälfte reduziert. Gegen ihre innerparteilichen Gegner:innen vom linken Flügel ist die Führung kompromisslos vorgegangen; auch hat Starmer die Basisaktivist:innen in den Wahlkreisen praktisch jeder Mitsprache beraubt.

Für Feinstein ist das nicht überraschend. Er hatte schon vor vier Jahren gewarnt, dass Starmer sich nicht um die Probleme der einfachen Leute schere und sehr autoritäre Züge habe. «Es fehlen ihm jegliche Prinzipien oder Werte», sagt Feinstein. «In Bezug auf die Klima-, Sozial- und Aussenpolitik gibt es kaum einen Unterschied zwischen ihm und den Tories.» Feinstein hält Starmer für einen «Politiker, der immer schon Premierminister werden wollte und seine Karriere entsprechend geplant hat.» Das zeige sich auch bei dem Thema, das innerhalb der britischen Linken für zunehmende Spannungen sorgt: Gaza.

Wenn Feinstein über die prägenden Einflüsse auf seine Politik spricht, nennt er zwei Verbrechen: den Holocaust und die Apartheid. Die Familie seines Vaters war vor den Pogromen im zaristischen Russland nach Südafrika geflohen. Seine Mutter, eine jüdische Wienerin, überlebte den Holocaust, indem sie sich drei Jahre lang in einem Keller versteckte; Dutzende ihrer Familienmitglieder wurden in Auschwitz ermordet. «Für sie war die Idee des ‹Nie wieder› zentral – aber sie glaubte nie, dass sie nur auf Jüd:innen zutreffe», sagt ihr Sohn heute. Als sie nach Südafrika gekommen sei, habe sie gesehen, dass die Schwarze Bevölkerung ähnlich behandelt werde wie zuvor die Jüd:innen in Europa. Sie begann, sich in der Antiapartheidbewegung zu engagieren – und so tat es auch der junge Andrew.

Zwei Drittel für Waffenruhe

Nach dem Ende der Apartheid blieben gewaltsame Konflikte, Rassismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zentrum seiner Arbeit. Feinstein brachte im südafrikanischen Parlament den ersten Antrag zur Verurteilung des Holocaust ein, und er hielt Vorlesungen am Auschwitz Institute for the Prevention of Genocide and Mass Atrocities. Seit seiner Übersiedlung nach London hat er sich vornehmlich mit der Rüstungsindustrie beschäftigt. Heute ist Feinstein ein weltweit führender Experte für internationalen Waffenhandel; sein Buch «The Shadow World» (2011) gilt als Standardwerk zum Thema.

«In den 22 Jahren, in denen ich mich mit Waffenhandel, Konflikten und Genozidprävention befasst habe, war die Welt noch nie in einem so schlimmen Zustand wie jetzt», sagt er. Er bezieht sich auch auf die Situation in Gaza. «Zehntausende Zivilist:innen werden vor unseren Augen getötet, wir sehen es in Echtzeit auf unseren Bildschirmen. Und unsere westlichen Regierungen lassen es nicht nur zu – sie unterstützen den Angriff.»

Dass Keir Starmer, der Vorsitzende einer nominell sozialdemokratischen Partei, es nicht über sich bringe, einen bedingungslosen Waffenstillstand zu fordern, das finde er «aussergewöhnlich». Aber andererseits sei diese Haltung konsequent: Starmer könne so erneut unter Beweis stellen, dass sich das Establishment in Politik, Medien und Wirtschaft auf ihn verlassen könne – dass er den Konsens, der unter den einflussreichen Akteuren in Westminster herrsche, nicht herausfordern werde.

Aber damit hat sich Starmer von der Mehrheitsmeinung in Grossbritannien entfernt. Umfragen in den vergangenen Wochen und Monaten haben ergeben, dass etwa zwei Drittel der Brit:innen eine Waffenruhe begrüssen würden. Die unzähligen landesweiten und lokalen Proteste in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung seit Oktober haben teilweise mehrere Hunderttausend Menschen angelockt. Die Demos zählen zu den grössten, die man in Grossbritannien je gesehen hat.

Erfolg, ohne zu gewinnen

Unterdessen hat sich innerhalb der Opposition ein tiefer Graben aufgetan. Mehrere Dutzend Labour-Gemeinderäte haben die Partei bereits verlassen, aus Protest gegen Starmer. Manche von ihnen haben sich der neuen Kampagne «No Ceasefire No Vote» angeschlossen. Diese versucht, aus diesem Widerstand gegen Starmer eine wahlpolitische Alternative zu formen. Noch gibt es keine einheitliche Strategie, wie dieses Ziel erreicht werden soll – an der ersten Konferenz Ende Februar wurden verschiedene Ansätze debattiert. Es soll jedoch in erster Linie darum gehen, unabhängige Gemeinderats- und Parlamentskandidat:innen, die gegen Labour antreten, zu unterstützen.

Auch Andrew Feinstein steht hinter der Kampagne. Sollte er gegen Keir Starmer in den Ring steigen – er wird Mitte April endgültig entscheiden –, wäre ein Sieg jedoch schwierig zu erreichen: Der Parteichef sitzt auf einer satten Mehrheit in einem sicheren Labour-Wahlkreis. «Aber ich glaube, dass man Erfolg haben kann, ohne dass man gewinnt», sagt Feinstein. «Wir würden vor allem zeigen, dass es eine andere Art der Politik gibt: eine, die die Wähler:innen ins Zentrum stellt und deren Prioritäten und Haltungen repräsentiert.» Das heisst, der Austausch mit Basiskampagnen und Interessengruppen in seinem Wahlkreis wäre die Grundlage seiner Politik – Graswurzelarbeit käme an erster Stelle.

Es wird auch um die Zeit nach der Wahl gehen. Die Tories werden haushoch verlieren, da sind sich alle Expert:innen einig. «Aber es wird nicht lange gehen, bis die Leute merken, dass es Business as usual ist» – dass es also keinen scharfen Bruch mit der Politik der Tory-Regierung geben wird. «Das wird in der Bevölkerung viel Wut und Frustration auslösen. Es ist entscheidend, dass diese Wut in die richtige Richtung gelenkt wird: gegen das politische und wirtschaftliche Establishment.»