Krieg im Donbas: Kein Ort für Träume

Nr. 15 –

Ein Leben zwischen Raketenangriffen, Flucht und Wiederaufbau: Vor zehn Jahren begann im ostukrainischen Slowjansk der Krieg. Seit Russland 2022 die ganze Ukraine angegriffen hat, wächst die Angst, dass die Kämpfe in die Stadt zurückkehren.

Olexij Jukow sucht in Trümmern von Kriegsgerät nach den sterblichen Überresten von gefallenen Soldat:innen
«Wir tun alles, um diese Kinder ihren Müttern zurückzubringen.» Olexij Jukow birgt mit der Freiwilligenorganisation Schwarze Tulpe die sterblichen Überreste von Gefallenen beider Seiten.

Zwischen weiten verminten Feldern steht, ausgebrannt und von Rost zerfressen, ein gepanzertes Fahrzeug. Olexij Jukow streckt seine Hände aus einer Öffnung und überreicht seinen Kollegen, was er im Innern gefunden hat: Wirbelknochen, Fragmente eines Schädels, Zähne. Mehr ist nicht geblieben vom Soldaten, den Jukow und sein Team an diesem Märztag aus dem Militärtransporter bergen. Er muss hier, eine Autostunde nördlich von Slowjansk, irgendwann im Jahr 2022 getötet worden sein.

Eigentlich ist der 38-jährige Jukow Kampfsportlehrer. Seit vielen Jahren schon trägt er bei der Arbeit aber blaue Einweghandschuhe und eine abgenutzte Camouflage-Uniform ohne Abzeichen. Er leitet die Freiwilligenorganisation Schwarze Tulpe, deren Aufgabe es ist, die sterblichen Überreste von Kriegsgefallenen im Donbas zusammenzusuchen, einzusammeln und zu dokumentieren.

Herkunft Nebensache

Wenn Jukow nach fünf Stunden Arbeit von den verbrannten Leichenteilen spricht, die in einer einzigen Plastiktasche Platz haben, redet er über eine «Person». Er wolle den Toten ihre Würde zurückgeben, erklärt er, ihnen ein Begräbnis ermöglichen. Dies sei schliesslich, was den Menschen von Tieren unterscheide. Die Schwarze Tulpe kommt zum Einsatz, wo sie gebraucht wird; zuweilen auch in der Nähe der Front, vor allem bei schlechtem Wetter, wenn die russischen Aufklärungsdrohnen das Team nicht gut orten können. Manchmal findet Jukow bei den Toten Fotos von Familienmitgliedern, Liebesbriefe, Schmuck.

Heute zieht er einen Löffel, einen kaputten Taschenrechner, eine Schere und die Fetzen einer Uniform aus dem zerstörten Fahrzeug. Alles deute darauf hin, dass sie einem russischen Soldaten gehörten, sagt Jukow, während er nach eindeutigen Kennnummern auf den verbrannten technischen Geräten sucht. Nach der Dokumentation des Fundorts würden die Leichenteile ins Krematorium in Slowjansk gebracht. Auch eine DNA-Analyse soll noch erfolgen.

Seit April 2014, also seit genau zehn Jahren, wütet in der ostukrainischen Region mit den beiden Oblasten Donezk und Luhansk der Krieg. Und viele Menschen haben wenig Verständnis dafür, dass so viel Zeit und Aufwand in die Bergung getöteter russischer Soldaten investiert werden – für die Angreifer, die so viel Leid über das Land und seine Bewohner:innen gebracht haben. Für Jukow ist das Nebensache. «Wir kämpfen nicht gegen Tote», sagt er. Und eines Tages, so hofft er, könnte dieser geborgene Soldat auch dazu beitragen, dass bei einem Austausch mit Russland ein ukrainischer Gefallener in seine Heimat zurückkehren darf.

Neben Jukow sind heute drei weitere Männer der Schwarzen Tulpe im Einsatz. Alle stammen aus Slowjansk. Während der Mittagspause stehen sie um ihren Geländewagen und trinken heissen Tee. Gesprochen wird kaum. Die meisten tragen auf dem Oberarm einen Patch mit dem Buchstaben D: für Denys, einen Kameraden und Freund, der bei genau dieser Arbeit vor über einem Jahr bei Tschassiw Jar, etwas westlich der mittlerweile zerstörten und von Russland eingenommenen Stadt Bachmut, durch eine explodierende Landmine getötet wurde.

Der heutige Einsatz, in einiger Distanz zur Front, geht auf die Anfrage eines Mannes aus der Region zurück. Schon vor Wochen war sie eingegangen; die Schwarze Tulpe, die durch Spenden finanziert wird, kommt mit der Arbeit kaum nach. «Wir tun alles, um diese Kinder ihren Müttern zurückzubringen», sagt Jukow. Er will den Toten und ihren Familien jenen Frieden zurückgeben, den der Donbas schon so lange nicht mehr erlebt hat. Seit einem Jahrzehnt sterben Menschen hier einen gewaltsamen Tod; viele wurden zur Flucht gezwungen, kehrten wieder zurück, bauten Häuser, Strassen und Brücken wieder auf. Und nun droht alles wieder von vorne zu beginnen.

Die Front rückt näher

Mittlerweile stehe alles auf der Kippe, sagt Denys Bihunow. Der 37-Jährige steht vor einem roten Backsteingebäude im Zentrum von Slowjansk. Überall in der Stadt sind in diesen Tagen sehr viele ukrainische Soldat:innen zu sehen oder zumindest ihre Fahrzeuge. Hier befindet sich das zivilgesellschaftliche Zentrum Drukarnia, auf Deutsch Druckerei, in dem Bihunow mitarbeitet: Nach Ausbruch des Krieges 2014 unterstützte es, unter schwierigsten Bedingungen, zahlreiche Initiativen für Umweltschutz und den Austausch im kulturellen Bereich.

Durch die Eskalation ab Februar 2022, als Russlands Regime den grossen Angriffskrieg lancierte, sei die ganze Arbeit beinahe zunichtegemacht worden. «Mittlerweile sind die gesamte Wirtschaft, Kultur und Politik der Stadt auf die Verteidigung ausgerichtet», sagt Bihunow. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht ein nagelneuer Betonbunker. Erst vor wenigen Wochen wurde er für die Slowjansker Zivilbevölkerung gebaut; im Innern finden sich kahle Sitzbänke, als wäre es eine Bushaltestelle.

Noch immer versucht Drukarnia, kulturelle Projekte umzusetzen. «Wir wollen den Menschen das Gefühl geben, dass Slowjansk als Stadt, als Gemeinschaft, noch lebt – und leben wird», sagt Bihunow. Nach einiger Zeit erscheint beim roten Backsteinhaus ein mürrischer älterer Hausmeister und sperrt die Eingangstür auf, damit Bihunow den Weg die Treppe hinauf in den ersten Stock weisen kann. Dort zeigt er die mittlerweile fast leer stehenden Räumlichkeiten der Organisation.

Noch vor wenigen Jahren fanden hier Ausstellungen statt oder etwa Workshops für Medienschaffende. Heute überwiegt wieder die Sorge, dass grössere Menschenansammlungen zum Ziel russischer Angriffe werden könnten. Ein permanenter Zustand der Unsicherheit für alle, die in der Stadt leben.

Einst waren es etwa 100 000; wie viele es heute noch sind, lässt sich nicht beziffern. Viele seiner Bekannten, die einst aus Slowjansk geflohen waren, seien im vergangenen Jahr zurückgekehrt, erzählt Bihunow. Die Mietpreise seien in anderen Landesteilen für Binnenvertriebene oft nicht bezahlbar. Die erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee im Herbst 2022 bei Charkiw im Norden und Cherson im Süden habe zudem die Hoffnung geschürt, dass die ukrainische Armee auch im Donbas Erfolge erzielen könne. Nach dem Fall von Bachmut im vergangenen und Awdijiwka in diesem Jahr allerdings stellten sich hier viele die Frage, welche Stadt wohl als nächste dran sein werde.

Wo alles anfing

So stehen die Zeichen in Slowjansk auf Krieg – noch immer, wieder einmal. Denn genau hier fing im April 2014 alles an. Bereits wenige Wochen nach der so wegweisenden Maidan-Revolution im Februar und der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März war Slowjansk während drei Monaten von Separatisten besetzt. Mit Militär, Propaganda und Desinformation hatte es Russland hier geschafft, das nach dem Regierungswechsel in Kyjiw entstandene Machtvakuum für sich zu nutzen.

Die Krim war innert weniger Wochen eingenommen worden, wobei Russland das eigene Zutun zunächst vehement bestritt. Im Donbas hingegen, wo der Kreml ebenfalls seit Jahren versucht hatte, zur Kultivierung einer prorussischen Stimmung beizutragen, verliefen die Dinge etwas anders, wie Denys Bihunow erzählt. Er war in der Öffentlichkeitsabteilung des Stadtrats tätig, als es in Slowjansk zu Unruhen, Störaktionen und zur Besetzung öffentlicher Verwaltungsgebäude kam. Die Forderung nach einer Abspaltung vom Rest der Ukraine habe im Donbas zu jener Zeit nicht der Mehrheitsmeinung entsprochen, erinnert sich Bihunow. Die hier lebenden Separatisten seien von Russland angestiftet, finanziert, mit Waffen ausgerüstet – und auch von russischem Personal unterstützt worden.

Etwa von Igor Girkin, dem russischen Exgeheimdienstler und späteren «Verteidigungsminister» der noch im April 2014 ausgerufenen Volksrepublik Donezk. Ein niederländisches Gericht verurteilte ihn im November 2022 zu einer lebenslangen Haftstrafe aufgrund der Rolle, die er beim Abschuss von Linienflug MH17 über der Ostukraine im Juli 2014 spielte. Mittlerweile sitzt Girkin tatsächlich in einem Gefängnis, allerdings in Russland. Und mit Flug MH17, bei dessen Absturz fast 300 Menschen getötet wurden, hat das nichts zu tun. Der Grund für seine Verhaftung liegt stattdessen darin, dass Girkin es gewagt hatte, Präsident Wladimir Putin zu kritisieren. Er hatte ihm vorgeworfen, in der Ukraine nicht hart genug durchzugreifen.

Während fast drei Monaten blieb Slowjansk 2014 von den Separatisten besetzt, bis es von der ukrainischen Armee und zahlreichen Freiwilligenverbänden zurückerobert wurde. Seither befand sich die Frontlinie immer mal näher, mal ferner, in etwa achtzig Kilometer Entfernung von der Stadt und damit weit genug weg, damit sich internationale Hilfsorganisationen hier ansiedelten, in die Infrastruktur investiert und sogar ein Teil der Wirtschaft wieder angekurbelt werden konnte.

Das änderte sich seit der Invasion vor zwei Jahren. Und insbesondere seit die Kämpfe in bloss noch etwa dreissig Kilometer Entfernung ausgefochten werden. «Krieg 24/7» hat jemand auf eine Hausmauer neben dem Bahnhof geschrieben: Krieg 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Viele in Slowjansk sässen derzeit wieder auf gepackten Koffern, sagt Bihunow.

Gezeichnete Stadt

In den wenigen Restaurants, die in Slowjansk noch geöffnet haben, finden sich fast nur Soldaten ein. In einem davon arbeitet seit vergangenem Oktober Viktoria Rythenko: Die 27-Jährige kommt aus Chmelnyzkyj, einer Stadt weit von hier, im Westen der Ukraine. Sie sei hergekommen, um näher bei ihrem Man Serhii zu sein, der im Donbas an der Front kämpfe. «Nachdem mein Mann mobilisiert worden war, stellte ich fest, dass ich in eine depressive Stimmung verfiel», sagt Rythenko. So habe sie entschieden, auf eigene Faust nach Slowjansk zu ziehen, um ihn zumindest hin und wieder für wenige Stunden zu sehen. Nun wohnt sie zusammen mit dem Hund ihres Mannes in einer Wohnung im fünften Stock eines Apartmentblocks. «Wenn ich allein zu Hause bin, habe ich Angst», sagt sie. «Wenn ich bei der Arbeit bin und die Explosionen höre, dann ist es nicht so beängstigend.»

Trotz des Krieges sei sie darum bemüht, diesen Landesteil kennenzulernen, ihre Zeit hier als neue Erfahrung zu betrachten – obwohl sie von einem Gefühl permanenter Gefahr erzählt. «In Slowjansk gibt es gerade keinen Platz und keine Zeit für Träume und Kreativität, weil die Inspiration fehlt», sagt Rythenko. Diese Stadt sei ein Ort, an dem man jeden Tag vor allem praktisch und pragmatisch sein müsse.

Viktoria Rythenko mit ihrem Hund auf einem Steg an einem Seeufer
Slowjansk fordere Pragmatismus, sagt Viktoria Rythenko, deren Mann an der Front kämpft.

Selbst im Zentrum von Slowjansk sind immer mehr beschädigte und zerstörte Gebäude zu sehen. Etwas ausserhalb zeigt sich das wahre Ausmass der Verwüstung: Metall, das in alle Richtungen verbogen ist. Einschusslöcher. Bäume, die eingeknickt oder abgebrannt sind. Gartentore, auf die Menschen verzweifelt gepinselt haben: «Zivilisten». Minenwarnschilder, Schwimmbrücken, die Uno-blauen Abdeckungen auf eingestürzten Dächern. An manchen Stellen werden neue Schützengräben ausgehoben: Befestigungen, die in den Augen mancher Militärexperten viel zu spät erst errichtet werden.

Allein seit 2022 hat die Schwarze Tulpe mindestens 1500 Leichen in der Gegend um Slowjansk geborgen. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir die Welt der Toten beruhigen müssen», sagt Olexij Jukow. Jeden Tag halte er verlorene Seelen in seinen Händen. Leben, die vorbei sind. «Es ist schrecklich. Es ist schwer», sagt Jukow. «Aber wenn wir jemanden finden, dann war dieser Tag nicht umsonst.»

Ukraine unter Druck : Trumps langer Schatten

Internationale Beobachter:innen gehen davon aus, dass das Hauptziel der russischen Militärs in diesem Jahr darin bestehen dürfte, die Oblaste Donezk und Luhansk im Grenzgebiet Donbas, die bereits zu grossen Teilen unter russischer Kontrolle stehen, vollständig zu erobern.

Auch die Regierung von Wolodimir Selenski warnte zuletzt vor einer neuerlichen russischen Offensive. Die Hauptstadt Kyjiw wurde zuletzt wieder zum Ziel von Luftangriffen, genau wie eine Reihe weiterer Landesteile. Sehr stark betroffen ist die Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes. Lediglich dreissig Kilometer Luftlinie trennen sie von der russischen Grenze. Aufgrund der jüngsten Attacken, die vor allem auf die Energieinfrastruktur abzielten, habe die Ukraine achtzig Prozent ihrer Stromerzeugungskapazitäten verloren, teilte Ende März der grösste Energieanbieter des Landes mit.

Zugleich wächst im Land die Sorge vor einer Rückkehr Donald Trumps ins US-Präsidentenamt. Gemäss «Washington Post» soll Trump vorhaben, die Ukraine zum Abtreten von Krim und Donbas an Russland zu zwingen. Demgegenüber hat Selenski letzte Woche nach langem Zögern ein vom Parlament längst verabschiedetes Gesetz unterschrieben, das das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre senkt. Die Anzahl potenzieller Soldaten steigt so zwar stark an – doch sollten die derzeit blockierten Militärhilfen aus den USA weiterhin ausbleiben, so verkündete Selenski vor wenigen Tagen, werde die Ukraine den Krieg verlieren. 

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