Die Linke und die Personenfreizügigkeit: «Irgendjemand muss denen ja den Hintern abwischen»

Nr. 8 –

SP-Nationalrätin Jacqueline Badran mischt Utopien mit realpolitischen Forderungen, kritisiert die Blindheit der Linken in Wachstumsfragen und gehört zu den wenigen, die die Personenfreizügigkeit von links her infrage stellen. Eine Begegnung.

Jacqueline Badran: «Es ist an der Linken, die Kritik an der Freizügigkeit in einen anderen Kontext zu stellen, nicht in einen nationalistischen, sondern einen der Gerechtigkeit.»

Jung war das Jahr, noch keinen Tag alt, als zu lesen war, was SP-Präsident Christian Levrat der «SonntagsZeitung» gesagt hatte: dass auch die Linke über mögliche Massnahmen zur Kontingentierung bei der Personenfreizügigkeit nachdenken müsse – vor dem Hintergrund der unter Druck geratenen Arbeitsmärkte. Sein Votum löste bei vielen GenossInnen einen Sturm der Entrüstung aus, doch nicht bei allen.

Zum Beispiel nicht bei Jacqueline Badran: Kurz vor den nationalen Parlamentswahlen letzten Herbst hatte die Zürcher SP-Gemeinderätin und Nationalratskandidatin einen Gastbeitrag für die WOZ geschrieben, in dem sie die Beschränkung der Zuwanderung aus linker Sicht thematisierte und in dem sie schloss, dass man «eine zeitweilige Beschränkung der Migration zugunsten der Realwirtschaft» in Betracht ziehen müsse. Badran zog den Artikel nach Absprache mit der Partei zurück, da die Zuwanderungsdebatte im Wahlkampf – wider Erwarten – kein Thema war und wohl nur unnötige Irritationen ausgelöst hätte. Mittlerweile ist Badran Nationalrätin und redet Klartext, auch wenn dabei einiges unklar bleibt. Im Folgenden der Versuch eines Gesprächs, komprimiert:


WOZ: Jacqueline Badran, Sie waren eine der wenigen SP-Politikerinnen, die in Christian Levrats Kontingentierungsüberlegungen bei der Personenfreizügigkeit ein «positives Signal» sahen.
Jacqueline Badran: So wollen Sie anfangen? Hm. Das geht nicht auf, ich muss das herleiten, ich kann nicht hinten anfangen.

Wo würden Sie denn anfangen?
Ich würde so anfangen: Sie sind eine der wenigen linken Kritikerinnen der Personenfreizügigkeit, warum?

Also gut: Jacqueline Badran, Sie sind eine der wenigen linken Kritikerinnen der Personenfreizügigkeit, warum?
Das System der vier Freiheiten – der Kapital-, der Personen-, der Waren- und der Dienstleistungsfreiheit – ist meines Erachtens eine neoliberale Fehlkonstruktion, in der die Gewinnerin immer das Kapital ist. Die Rahmenbedingungen sind nicht harmonisiert, wir haben einen extremen innereuropäischen Steuerwettbewerb und unterschiedliche arbeitsmarktliche Systeme. So lange die Player auf dem Markt nicht gleich lange Spiesse haben, wird das Kapital immer die Bedingungen diktieren können, weil es immer mit dem Wegzug drohen kann. Prominentes Beispiel: Die Hedgefonds-Regulierung in England. Da hat die Branche dann einfach zurückgedroht und gesagt: «Wir gehen.» Die Hälfte ist gegangen, und die britische Regierung musste zurückkrebsen. Das funktioniert aber nur, solange die Personenfreizügigkeit da ist. Die können nicht gehen ohne Personenfreizügigkeit, die müssen ihre Leute mitnehmen, Kapital geht nicht einfach so.

Hedgefonds und Holdinggesellschaften könnten irgendwohin, auch ausserhalb von Europa.
Die Cayman Islands sind für eine Briefkastenfirma gut, aber nicht für die Ansiedlung internationaler Hauptsitze. Dafür fehlt der Platz, die Infrastruktur. Monaco ist gefüllt, und so bauen wir gerade die Schweiz zu einem Alpenmonaco um. Mit Hilfe der Linken. Natürlich existierten die Standortdrohungen schon vor dem Freizügigkeitsabkommen, aber nicht in diesem Ausmass. Fakt ist: Das Headquarter-Hopping findet statt. Wir haben jede Woche einen neuen Konzern, der seinen Hauptsitz in die Schweiz verlegt, weil die Konzerne hier Steuerregimes vorfinden, die für sie sehr profitabel sind. Das ist im gesamteuropäischen Kontext extrem unsolidarisch: Wir machen uns der Vernichtung des Steuersubstrats schuldig, das dann anderswo fehlt, und zementieren so das soziale Gefälle innerhalb Europas.

Das ist ein Problem der Schweizer Steuergesetze und nicht der Personenfreizügigkeit.
Das hängt eben zusammen. Die europäische Bevölkerung wird zu mobilen Humankapitaleinheiten degradiert, die nach den Bedürfnissen der Konzerne herumgeschoben werden. Wenn wir als Linke Kontingente bei der Zuwanderung fordern, schaffen wir ein Gegendrohszenario zu dem des Grosskapitals, indem wir sagen: Wenn die bürgerliche Mehrheit nicht bereit ist, die Steuerregimes anzupassen, dann lassen wir nicht zu, dass ihre Klientel auf ausreichende Humanressourcen zurückgreifen kann. Wir drohen, den Lebensnerv dieses Systems zu durchtrennen.

In einem kapitalistischen System wird die Linke kaum je über die Bedingungen der Kontingente bestimmen können. Wir erleben es bei den Kontingenten für Arbeitskräfte aus Nicht-EU/Efta-Staaten, die von den grossen Konzernen abgeschöpft werden.
Dann muss man eben die Bedingung stellen, dass die Kontingente nur zugunsten des Werk- und Forschungsplatzes Schweiz ausgeschöpft werden, und das auch überwachen. Natürlich ist es schwierig, das durchzusetzen. Viel schwieriger ist es jedoch, die Steuerregimes zu ändern. Ich will mit der Forderung nach Kontingenten nicht den Markt regeln, sondern dem Diktat des Kapitals die Luft abschneiden. Wir sind die massgeblichsten Akteure auf dem ganzen Kontinent, wir lösen erheblichen Druck aus. Die Schweiz ist als möglicher Standort immer die erste Wahl, wenn das Kapital mit der Drohung des Wegzugs kommt. Wenn die Schweiz bereit ist, ihre Steuerpolitik so zu gestalten, dass das Grosskapital nicht mehr hofiert wird, findet sie damit auch in Europa Gehör.


Dass Jacqueline Badran Dinge vermischt, indem sie der grossen Utopie der Gerechtigkeit mit einer realpolitischen Massnahme beizukommen sucht, ist ihr sehr wohl bewusst. Darauf herumzureiten ist allerdings keine gute Idee. «Ja und?», sagt dann die grosse Frau mit der lauten Stimme, «entbindet uns das von der Analyse?!» Badran will die Analyse erzwingen. Und dafür muss die Drohung der Kontingentierung her. Wo da der kausale Zusammenhang zu finden sei? «Kontingente verschaffen uns die Luft dazu.» Und wenn nicht? Wenn nicht, gibts nicht. «Ist es denn okay, nicht zu reiten, weil ich mir nicht sicher sein kann, dass ich nicht vom Pferd falle?!»

Man muss Jacqueline Badran glauben, dass sie es gut meint mit der Kontingentierung. Die in Australien geborene Tochter einer Schweizerin und eines Libanesen will mehr Gerechtigkeit für alle. Badran ist Biologin und Ökonomin und Geschäftsführerin einer IT-Firma für «User-Centered Design». Und sie weiss, was Marketing ist. Sie weiss, dass sie ihre grosse Analyse nur dann an Mann und Frau bringt, wenn sie sie an realpolitische Forderungen knüpft. Sie sagt: «Es gibt eine schauerliche SVP-Initiative, es gibt die Ecopop-Initiative – und es ist nun an der Linken, die Kritik an der Personenfreizügigkeit in einen anderen Kontext zu stellen, nicht in einen ausländerfeindlichen, nationalistischen, sondern in einen der Gerechtigkeit.» Jacqueline Badran will, dass die Schweiz von ihren Privilegien Abschied nimmt, zugunsten des Rests der Welt.


Frau Badran, Beschränkung der Personenfreizügigkeit als linke Kritik – wie geht das?
Die Linke sieht die Personenfreizügigkeit allzu gern als Konzept der freien Menschen in einer freien Welt und somit als Grundrecht. Noch so gerne hätte ich so eine Welt. Aber 95 Prozent der Migration ist unfreiwillig. Deshalb fordere ich eine Bekämpfung der Ursachen der Migration und nicht der negativen Symptome. Was die Linke heute mit den flankierenden Massnahmen tut, ist nur eins: die Kollateralschäden eines ausbeuterischen Systems verwalten. Und das betrifft nicht nur Menschen, die auf Baustellen oder im Verkauf arbeiten, sondern reicht bis weit ins obere Kader von Konzernen hinein, die unter massivem Lohndruck stehen. Die SP, die Partei der gerechten Verteilung, sollte darauf bedacht sein, den Futtertrog, sprich: das Kapital, innerhalb von Europa zu verteilen, nicht die Menschen. Was bringt es, wenn ein Arbeiter im Ausland ausgebeutet wird und dann hierherkommt und noch immer ausgebeutet wird, einfach ein kleines bisschen weniger als dort, wo er herkommt? Das ist doch eine Fehlkonzeption des Systems.

Wo liegen denn Ihres Erachtens die Ursachen für die unfreiwillige Migration?
Bei der Migration aus wirtschaftlicher Gier geht es um Steuerdumping; bei der Migration aus wirtschaftlicher Not ist es das unerträgliche Reichtumsgefälle. Das sind die Ursachen der unfreiwilligen Migration. Und die Migration aus wirtschaftlicher Not ist nicht ausschliesslich – aber auch – eine Folge der Migration aus Gier: Wo ein Headquarter hinzieht, zieht das auch immer eine Folgemigration nach sich. Irgend jemand muss denen ja ihre Hintern abwischen, ihre Häuser aufstellen, sie in den Spitälern pflegen. Diese Folgemigration macht die grosse Masse aus und verursacht erst die ganzen Engpässe – bei den Spitälern, in den Schulen, auf dem Wohnungsmarkt.

Sie sprechen die Wachstumsproblematik an.
Auch dort liegt ein blinder Fleck der Linken und der Gewerkschaften. Da klingen wir wie die Economiesuisse: Wir finden Wachstum gut, weil Wachstum gleichbedeutend ist mit besseren Löhnen, mehr Arbeitsplätzen und finanzierbaren Sozialwerken – und vergessen dabei, dass dieses Wachstum das Gefälle innerhalb Europas noch mehr zementiert. Wir müssen aufhören mit der Mentalität, die besagt: «Der Markt holt die Leute, die er braucht, und wir kehren unten seine Opfer zusammen.» Was wir langfristig brauchen, ist ein globales Wirtschaftssystem ohne Wachstumszwang und damit einhergehend eine gerechte Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen.

Wie soll das funktionieren?
Oh – das sage ich Ihnen gerne in einem anderen Interview. Eines ist klar: Da müssen wir noch sehr viel Denkressourcen reinstecken.

Personenfreizügigkeit

Seit 1993 gilt zwischen den Ländern der Europäischen Union (EU) die Personenfreizügigkeit. BürgerInnen aller EU-Mitgliedsstaaten können in der ganzen EU Aufenthaltsort und Arbeitsplatz frei wählen. Die Schweiz hat die Personenfreizügigkeit 2002 im Rahmen der bilateralen Verträge mit der EU übernommen. Das Freizügigkeitsabkommen Schweiz–EU wird schrittweise umgesetzt und auf neue EU-Mitgliedsstaaten angewandt.

Die von der Schweiz 2004 beschlossenen flankierenden Massnahmen sollen die Einhaltung minimaler oder üblicher Lohn- und Arbeitsbedingungen garantieren und Erwerbstätige vor Lohndumping schützen.