Christian Schocher: Von einem, der in der Enge weit ausholte

Nr. 4 –

Mit «Reisender Krieger» schuf der Engadiner Christian Schocher ein Meisterwerk, das stets wie ein randständiger Monolith des Schweizer Kinos wirkte. An den Solothurner Filmtagen zeigt sich jetzt eine neue Generation von Filmemachern, die von Schocher inspiriert wurden.

Wer ihn gesehen hat, bringt ihn nie mehr aus dem Kopf, den Krieger. So heisst er, Krieger, der Typ hat keinen Vornamen, und einen solchen Helden gibt es keinen zweiten in der Schweizer Filmgeschichte. Als Kosmetikverkäufer im Trenchcoat fährt er mit seinem Citroën Kombi eine Woche lange durchs zubetonierte Land, verkörpert wird er von Willy Ziegler, einem fabelhaften Laiendarsteller mit ergrauten Locken, Schnauz und traurigem Blick. Seinetwegen ist «Reisender Krieger» zur Legende geworden, aber auch wegen der Begegnungen, die dieser Handelsreisende in der garstigen Schweiz im Winter 1979/80 erlebt, auf einer Reise, die an Homers «Odyssee» und Joyce’ «Ulysses» angelehnt ist: haarsträubende Treffen mit Coiffeusen, Wirtinnen und Säufern, Freaks, Musikern und einer Bergbauernfamilie. Begegnungen, bei denen man nie ganz weiss, ob sie nun dokumentarisch, improvisiert oder gestellt sind.

Und dann braucht es noch etwas mehr, bis ein über dreistündiger, handlungsarmer Schwarzweissfilm, der das Fremdsein in der Heimat und die «Arschlochigkeit der Welt» (gemäss einer Coiffeuse) auf die Spitze treibt, von der internationalen Kritik zum Monument hochgeschrieben wird. Tatsächlich trafen Christian Schocher, gelernter Fotograf aus Pontresina, und seine kleine Crew, allen voran Kameramann und Nachtspezialist Clemens Klopfenstein, mit ihrem «Stimmungsprotokoll» kurz vor dem Ausbruch der Zürcher Bewegung den Nerv der Zeit. In diesem Land, «das nach Money, Milk and Honey stinkt, nach Business, Blei und Beton, nach erstickten Gefühlen und niedergewalzten Träumen» (Schocher), entsprach Kriegers Trip der grossen grauen Erzählung jener Zeit: «Grauzone» als Band- und Filmtitel, «Grauschleier» im gleichnamigen Song der Fehlfarben. Und er spiegelte den damaligen Diskurs über die Schweiz als kleinräumiges Land mit Postkartenheimatangebot, aber ohne Abenteuer, ohne Weite, ohne Unvernünftige.

Eine gräuliche Zumutung?

Umso mehr liebte die Kritik Schochers Version einer «Billardtisch-Odyssee», wie Martin Schaub das nannte. Und der Kritiker, der schrieb, man könne während der Vorführung eine Zigarette rauchen gehen und habe nichts verpasst, mehrte nur den Mythos. Regisseure wie Fredi Murer oder Peter Liechti zählten den Film zu ihren Favoriten; für das weitere Publikum jedoch blieb die endlose Odyssee eine gräuliche Zumutung.

Vor sieben Jahren hauchte Schocher seinem Werk, von dem noch eine einzige knapp brauchbare Kopie existierte, neues Leben ein: Wiederum in Solothurn präsentierte er eine auf zweieinhalb Stunden gekürzte und restaurierte Fassung mit digitalisiertem Ton. Nunmehr tauglich für alle Kinos, tourte dieser Director’s Cut auf internationalen Festivals (La Rochelle, Graz, Wien) und durch die Studiokinos der Deutschschweiz. Gut 2000 Leute, schätzt Schocher, haben die neue Fassung auf der Leinwand gesehen, im April soll «Reisender Krieger» nun endlich – zum ersten Mal überhaupt – als DVD erhältlich sein.

Dogma vor den Dänen

Von seinem spröden Charme hat der Film über die Jahrzehnte nichts eingebüsst, sein lakonischer Humor wirkt eher noch stärker. Und die «Frische und Frechheit» hält Schocher, Jahrgang 1946, seiner Befindlichkeitsstudie heute noch zugute: «Ich finde den Film formal noch immer modern und provokativ im Vergleich zu dem, was sonst im Schweizer Film läuft», meinte er vor ein paar Jahren. Und er habe laut lachen müssen, als die Dänen um Lars von Trier vor bald zwanzig Jahren ihr Dogma-Manifest verkündeten: «Klopfenstein und ich haben das zuvor schon entwickelt, wir habens nur nicht an die grosse Glocke gehängt. Keine geschriebenen Dialoge, kein Kunstlicht, ausschliesslich Handkamera: Das war unser Dogma.»

Dass seine anderen Filme meist im Schatten von «Reisender Krieger» stehen, kann Schocher mittlerweile verschmerzen. Seit er im Frühling 2013 nach 45 Jahren das Dorfkino in Pontresina aufgab, habe er wieder mehr Zeit für eigene Filme, vielleicht gar unten im Mittelland, nachdem er zuletzt in seinen geliebten Bündner Gegenden Prättigau und Surselva drehte. Doch das Projekt, das am ehesten eine Fortsetzung seines Meisterwerks hätte sein können («Älterer Mann und blutjunges Mädchen hauen ab ins Ausland»), floss in ein Buch, das Schocher mehr am Herzen lag. Es sei unterdessen fertig geschrieben, er warte auf den Bescheid eines namhaften Verlags in Zürich, sagt er im Gespräch.

«Jo, bravo!»

Aber auch ohne neuen Film wird der Mann mit der klobigen Nase und der zottigen Mähne dieses Jahr eine Hauptrolle in Solothurn spielen. Gleich zwei filmische Hommagen werden ihm zuteil, beides Premieren. «Jo, bravo!», winkt er verschmitzt ab. «Da schauen wir dann mal, wie es herauskommt.» Der bekannteste Unbekannte des Schweizer Films hat die Reverenzen noch nicht gesehen, obwohl er in beiden selber auftritt: als Hauptfigur und Interviewpartner in «Christian Schocher Filmemacher», dem Dokumentarfilm von Marcel Bächtiger und Andreas Müller, und als unscheinbarer Zeitungsleser in einem Kurzauftritt in «Wintergast», einem Roadmovie von Matthias Günter und Andy Herzog.

Alle vier sind sie Schocher- und Krieger-Fans und fast zwei Generationen jünger. Bächtiger, geboren 1976, und Müller, geboren 1975, sind über öffentliche Gespräche mit Schocher in Zürich zu ihrem Filmprojekt gekommen: Bächtiger hatte ihn in sein Filmseminar an der Architekturabteilung der ETH Zürich eingeladen, Müller in seinen Ciné-Club im «Perla-Mode» an der Langstrasse. Die Motivation war bei beiden dieselbe: «Wir wollten etwas über die Arbeitsweise eines Regisseurs erfahren, der mit seinen vitalen, zärtlichen, experimentierfreudigen Werken wie kein anderer das alternative Schweizer Kino der letzten fünfzig Jahre verkörpert.» Und beide waren sie fasziniert von einem Kinofreak, der weitab von den Zentren der Filmszene wirkt und mitunter wie ein Phantom seiner eigenen Legenden erscheint.

Umso grösser der Andrang an beiden Veranstaltungen: heillos überfüllte Räume, ein elektrisiertes Publikum. Die Gespräche mit Schocher hätten einen «Erfahrungs- und Geschichtenschatz offenbart, der im besten Sinn filmreif ist», sagen Bächtiger und Müller. Im Grunde wolle ihr Film die grossartigen Gespräche mit dem begnadeten Erzähler einem breiteren Publikum zugänglich machen und «seine Lebens- und Schaffensgeschichte als Oral History für die Nachwelt erhalten».

Einstiegsdroge für die Jungen

«Reisender Krieger» wirkt wie eine Einstiegsdroge – der Film geniesst unter jüngeren Film-, Kunst- und ArchitekturstudentInnen Kultstatus. Bächtiger und Müller schwärmen aber auch von dem Zürich-Strassenfilm «Lüzzas Walkman» (1989), den Klopfenstein als «Reisenden Krieger in Farbe» bezeichnete, der damals aber nur ein geringes Echo auslöste. Mehr noch liessen sie sich begeistern von Schochers frühen Experimentalfilmen und von «Das Blut an den Lippen der Liebenden» (1978), einem «wunderbaren Alpenwestern».

Was die beiden in Zürich lebenden St. Galler fasziniert, sind Schochers «selbst gewähltes Abseitsstehen» und sein ureigener, kühner Zugang zum Filmemachen: mittels Improvisation, mit seiner lockeren Verbindung von Dokumentarischem und Fiktivem, durch die Arbeit mit LaiInnen. Sein Motto «Rausgehen und losfilmen» gründet auf einer grossen Menschlichkeit und dem Vertrauen auf jenes «gute Gespür», das befreundete Amateure zu Arbeitskollegen machte. Ihr Interview mit Schocher haben Bächtiger und Müller im romantischen Waldlokal Chalet Sanssouci gedreht, dem ältesten Restaurant von Pontresina. Angereichert wird das Gespräch mit Szenen aus Schochers Filmen und Impressionen von seinen heimatlichen Landschaften. Die beiden Regisseure haben auch die rebellische Coiffeuse ausfindig gemacht, die Willy Ziegler damals «Haar und Hirni» wusch: Marianne Huber Donati, die frühere Basler Wirtin («Hasenburg», «Chez Donati»), die heute im Tessin lebt. Ziegler selber war trotz etlicher Rollenangebote nach «Reisender Krieger» abgetaucht und ist vor einigen Jahren verstorben.

So werde die Schweiz im nächsten Winter riechen, versprach Krieger, wenn er als Handelsreisender seine Parfüms in die Läden brachte. Dem Geruch des Landes respektive seiner Befindlichkeit wollen nun auch Andy Herzog, geboren 1971, und Matthias Günter, geboren 1984, auf die Spur kommen. Nach einigen gemeinsamen Kurzfilmen ist «Wintergast» ihr erster langer Spielfilm, ebenfalls inspiriert von Schochers Odysseefilm, den sie mehrfach im Zürcher Filmpodium und im Xenix gesehen haben. Im Mittelpunkt steht ein kreativ blockierter und kriselnder Filmemacher (gespielt von Andy Herzog), der im Nebenjob Jugendherbergen testet und zu diesem Zweck quer durch eine vorweihnachtliche Schweiz reist: Zürich, Zofingen, Basel, Bern, Lugano, Pontresina, Zermatt und Genf, um nur einige Stationen zu nennen.

Mit offenen Augen und Armen

Wie ihr erklärtes Vorbild ist auch «Wintergast» von Herzog und Günter ein Winterfilm in Schwarzweiss. Und ähnlich wie damals Schochers Crew haben sie meist nachts und spontan gedreht: Viele Szenen seien aufgrund von Zufallsbekanntschaften entstanden, «mit Grenzüberschreitungen im Graubereich», sagt Günter. Am «Reisenden Krieger» hätten sie nicht nur der Humor und das Milieu, das Stimmungsbild der Schweiz und Schochers Filmsprache begeistert. Schochers Film habe auch als «Initialzündung» gewirkt, weil er zeige, «was mit schmalem Budget möglich ist». Man sollte mehr solche Filme machen, meint Herzog, «mit Mut und Offenheit».

Auch Christian Schocher wird übrigens in diesem Winter wieder durch die Schweiz reisen, mit seinem «geschärften Auge für die seltsamen Seiten der städtischen Mittellandschweiz». Doch diesmal sucht er nicht die «hässlichsten Wohnblöcke und exotischsten Coiffeursalons», sondern, wenns klappt, noch einmal die ProtagonistInnen seiner Dokumentarfilme «Die Kinder von Furna», die er 1975 und 1997 drehte – er möchte die Kinder von einst, die heute gut sechzig Jahre alt sind, ein drittes Mal nach ihren Lebensträumen und Realitäten befragen.

Er sei längst nicht mehr so kritisch, obwohl ihn die zugebaute Landschaft teils nach wie vor schockiere, erzählt Schocher. Er sei gern in Zürich und Basel, aber auch in Bauerndörfern und in der rätoromanischen Schweiz sowieso: «Ich versuche, mit offenen Augen und Armen durchs Leben zu gehen.»

«Wintergast» in Solothurn, Konzertsaal, Sa, 24. Januar 2015, 21 Uhr, und Kino Canva, Di, 27. Januar 2015, 17.45 Uhr.

«Christian Schocher, Filmemacher» in Solothurn, Palace, Sa, 24. Januar 2015, 12 Uhr, und Kino Canva Club, 
Di, 27. Januar 2015, 14.30 Uhr.

«Reisender Krieger» erscheint im April 2015 auf DVD.

Wintergast. Andy Herzog und Matthias Günter. Schweiz 2014

Christian Schocher, Filmemacher. Marcel Bächtiger und Andreas Müller. Schweiz 2014