Arbeit und Gesundheit: Marx auf Besuch im Heute

Nr. 17 –

Illustration: Alexander Elsaesser, Opak

«Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!»: Der Ruf steht in der «Kritik des Gothaer Programms», mit der Karl Marx 1875 auf den Programmentwurf der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands reagierte. Darin formulierte der Philosoph seine Idealvorstellung von Arbeit in einer Gesellschaft, in der «auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden».

142 Jahre später sind wir gewiss nicht in dieser «höheren Phase» angekommen. Karl Marx riebe sich womöglich die Augen, würde er, durch medizinische Wunder zu neuem Leben erweckt, von der internationalen Gewerkschaftsorganisation auf eine Weltreise durch gegenwärtige Arbeitsrealitäten geschickt. Wohl würde er anerkennen, wie weit es die Automatisierung und die Digitalisierung vielerorts gebracht haben. Und mit Genugtuung konstatieren, dass die körperliche Belastung vieler ArbeiterInnen stark abgenommen hat. Andererseits würde er wohl mit Entsetzen feststellen, wie sich gerade in der sogenannten zivilisierten Welt unzählige Menschen über Belastungssymptome beklagen, für die die Medizin zu Marx’ Zeiten noch kaum ein Vokabular parat hatte. In Kliniken würden ihm PatientInnen mit diversen psychosomatischen Leiden vorgeführt – «berufsassoziierten Gesundheitsstörungen», die versicherungstechnisch nicht als offizielle Berufskrankheiten anerkannt werden, weil sie nicht eindeutig auf eine berufliche Tätigkeit zurückzuführen sind.

Der technische Fortschritt hat dazu geführt, dass immer weniger Menschen körperliche Schwerarbeit verrichten müssen; er hat aber auch neue Leiden produziert – gerade in Gesellschaften, die einen hohen Wohlstand aufweisen. Unzählige Menschen zerbrechen an immer komplexeren Ansprüchen. Zum Beispiel im Gesundheitswesen: Ausgerechnet hier – wo sich ein wesentlicher Teil der Arbeit zwischenmenschlich abspielt – haben in den letzten Jahren Prozesse aus der Fliessbandproduktion und eine Bürokratisierung Einzug gehalten, die man eigentlich für überholt hielt. Immer mehr Menschen, deren Arbeit darin besteht, Kranken zu helfen, werden vor lauter Zeitdruck krank. Das ist umso absurder, als gerade dem Gesundheitswesen (wie allen Tätigkeiten, in denen es um Pflege und Betreuung geht) eine immer zentralere Bedeutung zukommt.

Der Segen technischen Fortschritts besteht in erster Linie darin, dass er Tätigkeiten erleichtert. Eine reife Gesellschaft würde darauf mit einem gesellschaftlichen Fortschritt antworten. Der so gewonnene Wohlstand und die gewonnene Zeit, die Befreiung der «knechtenden Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit» (Marx), wären die Basis für ein Zusammenleben, in dem jeder Mensch möglichst nach seinen Fähigkeiten arbeiten kann – und nach seinen Bedürfnissen.

Kurzum: Je mehr die Herstellung materieller Güter durch Maschinen geleistet werden kann, desto mehr Zeit könnte in die gegenseitige Pflege investiert werden. Und: Je weniger Menschen in der herkömmlichen Industrie arbeiten, desto mehr sollen ihre Tätigkeiten im unmittelbaren Austausch, in der gegenseitigen Pflege, Betreuung, Bildung, Erziehung und Unterhaltung von Mitmenschen honoriert werden – im familiären und nachbarschaftlichen wie im öffentlichen Bereich.

Vielleicht würde Karl Marx auf seiner Welttournee auch in der Wirtschaftsmetropole Zürich haltmachen. Und über Mittag entgeistert an grossen Fensterscheiben vorbeigehen, hinter denen Menschen stoisch an Ort treten oder mit gequältem Ausdruck schwere Gewichte stemmen. Auf die Frage, was sie dabei zu bewerkstelligen hätten, würden die einen sagen, dass es sich um freiwillige Knechtschaft handle – und andere auf die mühsame Rückeroberung jener körperlichen Tüchtigkeit verweisen, die sie im postindustriellen Alltag verloren hätten.

Auf Marx’ Frage wiederum, was mit all den erwachsenen Leuten ein paar Schritte weiter los sei, die auf Sofas herumhängen, Tischtennis spielen und auf einem Trampolin hüpfen, bekäme er vermutlich zur Antwort, dass es sich um MitarbeiterInnen eines Weltkonzerns handle, der sich aus Gründen der Effizienzsteigerung auf die Fahnen geschrieben habe, dass sich zeitgenössische Arbeit wie Freizeit anfühlen solle.

In einer «gesunden» Gesellschaft geht es aber nicht darum, sich von der Arbeit zu befreien, indem man Lohnarbeit zur Scheinselbstständigkeit oder gar bezahlten Freizeit verklärt – und auch nicht, indem man immer noch mehr Arbeitslosigkeit produziert. Nicht die Überwindung der Arbeit ist das Ziel – sondern die Befreiung von der Knechtschaft. Daher genügt es auch nicht, tiefere Arbeitszeiten und höhere Löhne zu erkämpfen. In einer Gesellschaft, wie auch Karl Marx sie einmal erträumt hat, geht es um mehr: um eine erfüllte Lebenszeit – und damit auch um die Möglichkeit zur erfüllten und befreiten Arbeit.