Auf allen Kanälen: Bomben aus Konfetti

Nr. 20 –

Vom intimen Bloggertreffen zu Europas grösster Digitalkonferenz: Die Re:publica in Berlin nimmt sich Jahr für Jahr mehr vor. Vielleicht zu viel?

«Ich verstehe diese Tage immer auch als eine Möglichkeit, etwas Unfertiges zu testen, in diesem Fall nur einen einzigen Satz, um zu sehen, was geschieht, wenn man ihn ernst nimmt.» Gesagt hat das die Autorin Carolin Emcke in ihrer Rede an der Re:publica, der jährlich in Berlin stattfindenden Konferenz zur Netzkultur. Bei dem Satz, den es ernst zu nehmen galt, handelte es sich um das Leitmotiv der diesjährigen Ausgabe: «Love Out Loud», ein Aufruf zu mehr Zivilcourage im Netz. Für Organisator Johnny Haeusler geht es darum, auch im virtuellen Raum mehr Verantwortung zu übernehmen: «Wenn ich auf der Strasse sehe, dass ein Mensch angegriffen wird, dann ist es meine Pflicht als Mensch einzugreifen. Das sollte man auch im Internet machen.»

So effektvoll «Love Out Loud» als Aufruf daherkommt, so stimmig (und ehrlicher) wär er als Frage gewesen. Denn: Was bedeutet eigentlich mutiges Handeln in einer digitalen Öffentlichkeit? Inwiefern muss Solidarität jenseits des physischen Raums neu gedacht werden? Fragen nach dem Verhältnis zwischen materieller und digitaler Lebenswelt stellen sich noch drängender mit Blick auf die Virtual Reality (VR). Die Möglichkeit, mittels einer Brille in eine computergenerierte Umgebung einzutreten, dürfte dieses Verhältnis in den kommenden Jahren stark prägen. An der Re:publica war VR omnipräsent. Auf Dutzenden von Podien wurden Anwendungen vorgestellt – nicht nur für die Medien- und Unterhaltungsindustrie, wo sie längst ihren festen Platz hat. Zugetraut wird der Virtual Reality alles, von der Behandlung psychischer Krankheiten bis zur Starthilfe bei spirituellen Erfahrungen.

Liebe als minimaler Konsens

Zumindest was das «Testen von Unfertigem» betrifft, folgten die OrganisatorInnen der Re:publica-Vision von Carolin Emcke. Ein über 500-stündiges Programm erlaubte Ausflüge in die digitale Zukunft aller erdenklichen Winkel des Lebens. Der Preis für die thematische Breite war fehlende Tiefe. Kaum jemand vermochte durchzudringen zu den grossen Fragen, die hinter den projizierten Versprechungen schlummern; etwa nach den sozialen Auswirkungen, wenn wir alltägliche Handlungen zusehends in eine virtuelle Realität verlagern. So wurden auch kaum gemeinsame Horizonte zwischen den RednerInnen ausgelotet. Stattdessen bekam man persönliche Strategien präsentiert, wie die Transformation in ein digitales Zeitalter zu bewältigen sei.

Je länger die Re:publica dauerte, desto mehr entstand der Eindruck, der Aufruf zur Liebe sei womöglich die einzige Option gewesen, um zwischen den knapp 800 vertretenen Firmen und Organisationen einen minimalen Konsens herzustellen – und die Deutungshoheit zu wahren über eine Veranstaltung, die sich längst verselbstständigt hat.

Unter Beschuss

Letzteres zeigte sich im Rahmen der an die Re:publica angegliederten Media Convention. Auf einem Podium sass dort Dirk Feldhaus, Kommunikationsbeauftragter der deutschen Bundeswehr. Ein Vertreter jener Armee also, die in den letzten Wochen im medialen Kreuzfeuer stand, nachdem herausgekommen war, dass man in den eigenen Reihen grassierenden Rechtsextremismus einfach ignoriert hatte. Sprechen sollte Feldhaus bei dieser Veranstaltung über seine erfolgreiche Youtube-Serie «Die Rekruten», mit der Soldaten angeworben werden. Noch bevor er das Wort ergreifen konnte, stürmten AktivistInnen mit Konfettibomben und Plakaten die Bühne. Aus «Love Out Lout» wurde «War Out Loud».

Auch abseits der Podien traf man auf sehr unterschiedliche Auslegungen von Liebe und Zuneigung. So kam es im Gewirr von Messeständen und Foodcornern des Öfteren zu skurrilen Situationen. Etwa dann, wenn jemand mit einem Hotdog in der Hand vor dem Messestand von Animal Equality landete, einer Organisation, die Virtual Reality nutzt, um einen «anderen Blick auf die Fleischindustrie» zu gewähren. Oder dann, wenn sich BesucherInnen beim Messestand der Plattform «Netzpolitik» über die Sensibilität persönlicher Daten aufklären liessen, um sich dann einige Schritte weiter beim Google-Stand ein Gmail-Konto einzurichten.

Gescheitert ist die diesjährige Re:publica nicht an ihrer Vielfalt. Gescheitert ist sie an ihrem Anspruch, diese mit einem einfachen Slogan zu bewältigen.