Versammlungsrechte unter Beschuss: Freiheit stirbt mit Sicherheit

Nr. 8 –

Die Kompetenzen der Polizei werden europaweit enorm ausgeweitet. In Bern werden Personen ohne konkreten Tatverdacht überwacht, in Bayern gar eingesperrt. Was geschieht da bloss?

Die Beerdigung fand am Berner Bahnhofplatz statt. «Ruhe in Frieden, Versammlungsfreiheit», stand auf dem einen selbstgebastelten Grabstein, «Meinungsfreiheit» auf dem anderen. Drumherum Friedhofskerzen. Nachdem bei der Abstimmung am Sonntag vor einer Woche das neue Berner Polizeigesetz mit 76,4  Prozent deutlich angenommen worden war, zeugten die Grabsteine auf dem Bahnhofplatz vom stillen Protest junger AktivistInnen.

Das totalrevidierte Polizeigesetz in Bern, das geplante Demonstrationsgesetz in Frankreich, die neuen Polizeigesetze in diversen deutschen Bundesländern: Sie alle sind Ausdruck davon, wie der Ruf nach «Law and Order» derzeit immer lauter wird. Zwar unterscheiden sich die Gesetzesänderungen je nach Kontext und Land. Aber sie zeugen von einer grundsätzlichen Entwicklung und haben auffallende Gemeinsamkeiten.

Erstens: Der Polizei werden zahlreiche neue Kompetenzen und Mittel eingeräumt, mehr Befugnisse und härtere Ausrüstung. Zweitens: Diese neuen polizeilichen Möglichkeiten zielen zunehmend auf den präventiven Bereich ab – auf den «präkriminellen», bevor eine Straftat überhaupt passiert ist. Und drittens greifen die neuen Gesetze in die Freiheitsrechte ein und sind unter anderem – mehr oder weniger explizit – darauf ausgelegt, soziale Proteste einzudämmen, potenzielle Aufstände zu bekämpfen.

Bern, deine Demokosten

In Bern etwa dürfen bald schon PolizistInnen einen Monat lang verdeckt ermitteln, überwachen und observieren, ohne dass dazu ein richterlicher Beschluss nötig ist. Dies nicht nur zur «Aufklärung» von begangenen, sondern bereits zur «Erkennung» von potenziellen Straftaten. Dazu braucht die Polizei keinen konkreten Tatverdacht, sondern kann sich auf schlichte «Anzeichen» stützen. Davon ausgehend, dass jede Person potenziell eine Straftat begehen kann, bedeutet das, dass die Berner Polizei künftig jede Person überwachen darf – das Telefon abhören, GPS-Tracker anbringen, den Weg zur Arbeit observieren. Zudem wird mit der Totalrevision der Wegweisungsartikel ausgebaut, wodurch ausländische Fahrende oder zeltende Obdachlose besonders kriminalisiert werden dürften.

An der Versammlungsfreiheit rüttelt das neue Berner Polizeigesetz mit einem anderen Paragrafen, der «Kostenüberwälzung». Neu können Organisatorinnen und Teilnehmern von Demonstrationen die Einsatzkosten aufgebürdet werden, wenn es beim Umzug zu Sachbeschädigungen kommt – bis zu 30 000 Franken pro Person. Eine Regelung, die bislang einzig der Kanton Luzern kennt. Und die wohl ziemlich viele davon abschrecken wird, überhaupt eine Kundgebung zu organisieren oder daran teilzunehmen.

«Es war wichtig, den Referendumskampf zu führen», sagt Simone Machado Rebmann. Sie ist Juristin, sass für die Grünen im Berner Kantonsparlament, als das Polizeigesetz beraten wurde, und ist Teil des Bündnisses, das 2018 gegen die Gesetzesrevision das Referendum ergriffen hat. So sei man nicht gänzlich unvorbereitet, wenn sich die negativen Folgen bewahrheiteten. «In der Tendenz wird die Kundgebungsfreiheit immer mehr eingeschränkt», sagt Machado Rebmann. «Das geschieht im Zusammenhang mit der Verschärfung des sozialen Gefälles zwischen Arm und Reich.» Wenn dieses Gefälle grösser werde, könne der Staat entweder zum Ausgleich die Sozialwerke stärken oder die Repression hochfahren. Zurzeit entscheide man sich für die zweite Option und wolle damit verhindern, dass die Menschen gegen Ungerechtigkeiten auf die Strasse gingen.

Ein Beispiel dafür ist Spanien: Während der breiten sozialen Proteste 2011 und 2012 hatten Hunderttausende die politischen und wirtschaftlichen Missstände des Landes, die Folgen der Wirtschaftskrise von 2008 und die damit verbundene Wohnungsnot angeprangert. Als Reaktion darauf trat 2015 in Spanien das Gesetz «zum Schutz der öffentlichen Sicherheit» in Kraft. Umgangssprachlich bekannt als «la ley mordaza» (Knebelgesetz), schränkt es das Demonstrationsrecht der Bevölkerung erheblich ein und stellt die Teilnahme an spontanen Versammlungen unter saftige Geldstrafen.

Frankreich, deine Demoverbote

Vier Jahre später verfolgt nun Frankreich eine ähnliche Strategie: Das Versammlungsrecht wird empfindlich eingeschränkt – als Reaktion auf die Proteste der Gilets jaunes. So stimmte die französische Nationalversammlung Anfang Februar der sogenannten «loi anti-casseurs» (zu Deutsch: Antirandalierergesetz) zu. Künftig sollen die Strafen für unbewilligte Demonstrationen erhöht werden. Wer sich «ohne Grund» vermummt, dem oder der droht neu bis zu einem Jahr Gefängnis und eine Busse von 15 000 Euro. Als besonders umstritten gelten die Demonstrationsverbote: Neu dürfen Polizeipräfekturen gegen Einzelpersonen ein solches Verbot erlassen, wenn diese als besonders «radikal» gelten. Diese Personen sollen in einer Datenbank fichiert werden.

Die «loi anti-casseurs» ist eine weitere Etappe des französischen Sicherheitswahns: Schon während des zweijährigen Ausnahmezustands nach den Anschlägen von Paris im November 2015 hatte der Staat mithilfe der Notstandsgesetze Demonstrationen verbieten lassen und AktivistInnen präventiv unter Hausarrest oder Meldepflicht gestellt, etwa während des Pariser Klimagipfels. Als der Ausnahmezustand 2017 aufgehoben wurde, liess die Regierung unter Präsident Emmanuel Macron die Notstandsgesetze als Antiterrorparagrafen zu weiten Teilen in die normale Gesetzgebung einfliessen. Der Ausnahmezustand – das totalitäre Gesicht des demokratischen Rechtsstaats – wurde somit als Antiterrormassnahme schrittweise normalisiert.

«Die Antiterrorgesetze untergraben die Grundrechte in Europa», stellte Amnesty International in einem 2017 veröffentlichten Bericht fest. Die Menschenrechtsorganisation hatte Antiterrormassnahmen in vierzehn EU-Staaten analysiert und kam zum Schluss: Die neuen weitreichenden Gesetze zeigten, dass in Europa ein gefährlicher Sicherheitswahn herrsche. Die Massenüberwachung werde drastisch ausgeweitet. Es erinnere an George Orwells Konzept des «Gedankenverbrechens», wenn sich Antiterrormassnahmen immer stärker auf Prävention konzentrierten – also um mögliche künftige StraftäterInnen auszumachen. Zudem weist der Bericht darauf hin, dass am häufigsten MigrantInnen und Geflüchtete, Menschenrechtsverteidigerinnen, Aktivisten und Angehörige von Minderheiten ins Visier dieser neuen Massnahmen geraten.

Unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung fand in den vergangenen Jahren eine stetige Aufrüstung der Polizeiapparate statt. Vorreiter sind dabei die USA, wo der Sicherheitsapparat seit den Anschlägen vom 11.  September 2001 enorm militarisiert wurde und «die Grenzen zwischen Militär und Polizei, zwischen äusserer und innerer Sicherheit immer mehr zu verschwimmen» drohen, wie der Rechtsprofessor Pete Kraska von der Universität Eastern Kentucky in seinem Aufsatz «Militarization and Policing: Its Relevance to 21st Century Police» schreibt. Eine Entwicklung, die die US-amerikanischen Polizeieinheiten 2014 in Ferguson und 2017 in St. Louis veranschaulichten, als sie mit Sturmgewehren, Körperpanzern und Panzerwagen gegen Demonstrierende aufmarschierten.

Deutschland, deine Handgranaten

Die Militarisierung der Polizei zeigt sich nach und nach auch in Europa. In Deutschland zeigte sich beim G20-Gipfel in Hamburg 2017, wie moderne Polizeiarbeit in Zukunft wohl aussehen wird – ein hochmilitarisierter Sicherheitsapparat, zur Schau gestellt in einer Geisterstadt. Seitdem erlassen immer mehr Bundesländer neue Polizeigesetze. Im Mai 2018 ist in Bayern das härteste Polizeigesetz seit 1945 in Kraft getreten. Zehntausende hatten dagegen demonstriert, denn das Gesetz weitet die Befugnisse der Polizei enorm aus – insbesondere bei «drohender Gefahr». Diese rechtlich diffuse Formulierung erlaubt der bayerischen Polizei, sogenannte Gefährder auf unbefristete Zeit präventiv zu inhaftieren.

Damit greift das Gesetz in einen äusserst sensiblen Vorbereich ein: Es ist keine Straftat geschehen, und es liegt kein konkreter Tatverdacht gegen die Person vor, der ausreichen würde, um ein Strafverfahren zu eröffnen. «Gefährder» ist eine begriffliche Neuschöpfung für irgendwie verdächtige Personen, die kein Gesetz gebrochen haben, es aber allenfalls und mutmasslich in der Zukunft tun könnten. Das ist aus rechtsstaatlicher Sicht hochproblematisch, weil die Unschuldsvermutung damit faktisch abgeschafft wird. Denn wie soll eine solche Person beweisen, dass von ihr tatsächlich gar keine «Gefahr» ausgeht?

Unter diversen Bundesländern findet derzeit ein Wettrüsten um rigide Polizeigesetze statt. Der Tenor: Massenüberwachung, mehr Befugnisse und härtere Mittel für die Polizei. Den «Präventivgewahrsam» etwa hat Nordrhein-Westfalen direkt von Bayern übernommen, mit einer zeitlichen Beschränkung von maximal vier Wochen. Trotzdem zeigt sich dort bereits, wie die Massnahmen – die vordergründig wegen der «terroristischen Bedrohung» erlassen wurden – gegen politisch unliebsame Gruppen angewendet werden. So kamen etwa Anfang Februar UmweltaktivistInnen, die im Hambacher Forst Bagger besetzten, zur «Identitätsfeststellung» für fünf Tage in Polizeigewahrsam. Auf Basis ebendieser verschärften Gesetzeslage.

Des Weiteren sehen die Polizeigesetze verschiedener Bundesländer verdachtsunabhängige Polizeikontrollen vor. Auch um illegalen Aufenthalt zu «unterbinden» – was die Praxis von Racial Profiling, Kontrollen aufgrund der Hautfarbe, de facto legalisieren könnte. In Sachsen ist nicht nur eine Ausweitung der Videoüberwachung inklusive Gesichtserkennung geplant, sondern gar Handgranaten und Maschinengewehre für polizeiliche Sondereinheiten.

«Wir haben die Sensibilität dafür verloren, wozu Grundrechte eigentlich da sind», sagt die deutsche Netzaktivistin Katharina Nocun, «nämlich dass sie die Bürger vor dem Staat schützen und einklagbar sind.» Auf ihrem Blog berichtet Nocun regelmässig über die Polizeigesetze in Deutschland. Die Verschärfung der Massnahmen im Namen der inneren Sicherheit sei ein globales Phänomen. «Momentan werden Grundrechte sehr grosszügig aufgegeben – im Vertrauen, dass der Staat dies schon nicht missbrauchen werde. Wir haben verlernt, was die Risiken eines autoritären Sicherheitsstaats sind. In Zeiten eines Rechtsrucks ist das brandgefährlich.» Aus Sicht der rechtsnationalen AfD seien «Gefährder» schliesslich Leute wie sie.

Unser aller Freiheitsrechte

Auch die Schweiz ist vor der zunehmenden Militarisierung der Polizei nicht gefeit. So will etwa die Aargauer Kantonspolizei zwölf Panzerwagen von der Schweizer Armee mieten – für den Fall von «Terror, Amok oder steinplattenwerfenden Randalierern», wie ein Polizeisprecher gegenüber der «Aargauer Zeitung» sagte. Die Kantonspolizeien Zürich und Genf mieten bereits Armeefahrzeuge. Darüber hinaus sind auch in der Schweiz Antiterrorgesetze in Planung. Auch sie sehen Zwangsmassnahmen für «Gefährder» vor, etwa Ausreisesperren, Kontaktverbote, Hausarrest oder elektronische Fussfesseln.

Offenkundig sind grosse Teile der Gesellschaft bereit, immer mehr Freiheitsrechte zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern – und damit Gefahr zu laufen, beides zu verlieren. Wenn der Ruf nach mehr «Law and Order» immer lauter wird, mag die Einzelne denken, Gesetzesverschärfungen beträfen sie ohnehin nicht. Allerdings werden diese Verschärfungen erfahrungsgemäss zuerst bei denen ausprobiert, die eben auf keine Lobby und keinen breiten Rückhalt in der Bevölkerung zählen können.

Die Gesetzesänderungen in Frankreich, Deutschland und der Schweiz unterscheiden sich im Einzelnen, aber sie werfen ähnliche Fragen auf. Erstens: Glauben wir wirklich, dass wir sicherer sind, wenn Polizeikommandos mit Handgranaten ausgerüstet sind? Zweitens: Was, wenn wir durch die zunehmend präventiven Polizeimassnahmen irgendwann alle verdächtig werden? Und drittens: Trauen wir uns dann, wenn alle erst einmal unter Generalverdacht stehen, noch, unsere Empörung darüber auf die Strasse zu tragen?