«Hitlers Volksstaat»: Dumpfe Untertanen

Nr. 18 –

Der Historiker Götz Aly sorgt mit seinem Bestseller für viel Aufregung. Warum eigentlich?

Das deutsche Feuilleton befindet sich wieder einmal in Aufregung. Erhitzt wird «Hitlers Volksstaat» diskutiert, das neue Buch des Journalisten und Historikers Götz Aly: Haben die Deutschen also vom Nationalsozialismus und der Vernichtung der Juden profitiert? Der an der Debatte teilnehmende Beobachter reibt sich nach der Lektüre verwundert die Augen: Zwar wartet die finanzpolitische Untersuchung mit einigen interessanten Resultaten auf, doch ihre Argumentation ist ziemlich undifferenziert, woran auch die provokativen Formulierungen nichts ändern.

Nach Aly war die nationalsozialistische Führung in einem Teufelskreis gefangen: Um ihre kostspieligen Kriege zu finanzieren, musste sie ständig neue anzetteln - und dabei so viel Geld wie möglich auftreiben. Zu diesem Zweck raubte sie die eroberten Gebiete systematisch und völkerrechtswidrig aus: Vor allem währungspolitische Schachzüge führten dazu, dass die besetzten Länder ihre Ausplünderung letztlich selbst bezahlten, inklusive der Waren, welche die Soldaten der Wehrmacht an der Front kauften und nach Hause schickten. Weitere wichtige Geldquellen erschloss das Dritte Reich in der schonungslosen Enteignung und Ausbeutung seiner ZwangsarbeiterInnen und der Jüdinnen und Juden.

Geschont wurde dagegen die «arische Rasse». In Deutschland lebte es sich während des Zweiten Weltkriegs besser als im übrigen Europa, nicht nur dank belgischer Schokolade und ukrainischer Butter, sondern vor allem wegen Adolf Hitlers grosszügiger Sozialpolitik: Damit die Massen zufrieden blieben und die Gefolgschaft nicht verweigerten, wartete die, so Aly, «Gefälligkeitsdiktatur» mit Wohltaten wie Familienlastenausgleich, Ehestandsdarlehen und Kindergeld auf. Höher besteuert wurden nur die wohlhabenden bürgerlichen Schichten. Dies alles weist er mit viel Liebe zum rechnerischen Detail nach.

Der Nationalsozialismus ist also, wie der Autor markig resümiert, der «konsequenteste Massenraubmord der modernen Geschichte». Das klingt etwas irreführend so, als habe die Forschung bisher das Gegenteil behauptet. Doch verblasst dieses Faktum nicht ohnehin im Angesicht des Holocaust, dieses kaum begreifbaren Schreckens? Nicht für Aly: Wenn man ihn nicht als Massenraubmord erkenne, «bleibt der Holocaust unverstanden» - er lasse sich gerade dadurch erklären, dass «die Deutschen» fast ausnahmslos «Nutzniesser und Nutzniesserchen» waren.

Das ist zwar tautologisch - der Holocaust wird strukturfunktionalistisch mit einer seiner Folgen erklärt -, wirkt aber offenbar provokant genug, um das deutsche Feuilleton in Aufregung zu versetzen. Der Grund dürfte die mitgelieferte Kollektivschuldthese sein. Aly stellt damit Daniel Jonah Goldhagen, der Mitte der neunziger Jahre mit dem Buch «Hitlers willige Vollstrecker» ebenfalls für Aufregung gesorgt hatte, gleichsam vom Kopf auf die Füsse: Schrieb der amerikanische Historiker den Deutschen einen tief verwurzelten, eliminatorischen Antisemitismus zu, reduziert Aly diesen nun auf den platten Reflex einer alldeutschen Nutzenmaximierung.

Um es in dieser ökonomischen Terminologie zu sagen: Der Preis für diese Vereinfachung, welche die seit längerem erforschten herrschaftssoziologischen, mentalitätsgeschichtlichen und massenpsychologischen Aspekte des Nationalsozialismus und des Holocaust ausblenden muss, ist hoch. Die verdienstvollen Seiten des Buches rücken in den Hintergrund: die Ursache des Nationalsozialismus nicht in einem dämonisierten, irrationalen deutschen Unwesen zu sehen und dem seit längerem zu beobachtenden Trend entgegenzuwirken, die Deutschen wieder zu den eigentlichen Opfern des Zweiten Weltkriegs zu stilisieren.

Und Aly findet sich in einer altbekannten Tradition der deutschen Intelligenz wieder: das «Volk» als unmündige BürgerInnen und dumpfe Untertanen zu zeichnen. Vor allem aber verharmlost er den Holocaust, wenn er ihn zuvorderst mit dem Nutzen erklärt, den «die Deutschen» daraus zogen. In Abwandlung von Max Horkheimers Diktum, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, vom Faschismus schweigen müsse, lautet der knallige Schlusssatz des Buches: «Wer von den Vorteilen für die Millionen einfacher Deutscher nicht reden will, der sollte vom Nationalsozialismus und vom Holocaust schweigen.»

Ganz abgesehen davon, dass man den Kapitalismus nicht auf die «Vorteile der einfachen Leute» reduzieren sollte - was will Aly mit der moralisierenden Sentenz sagen? Dass die Juden gestorben sind, weil die Deutschen nicht rassenwahnsinnig, sondern materialistisch gesinnt waren? Jeder Dieb, der sich ein Portemonnaie schnappt, sucht seinen «Vorteil» und zieht daraus «Nutzen». «Erklärt» ist damit nichts.

Götz Aly: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2005. 445 Seiten. Fr. 40.10