Türkei: Das Virus übt

Nr. 2 –

Nun ist das Vogelgrippevirus in Istanbul angekommen. Und viele fragen sich: Ist es noch zu stoppen? Welche Gelegenheiten wurden verpasst?

Oktober 2005. Der Landwirtschaftsminister war die Vogelgrippe schon letzten Oktober leid. Am 4. Oktober wurden die ersten toten Vögel in der Türkei positiv auf das Virus getestet. Als die Fragen der JournalistInnen bohrender werden, lässt sich Mehdi Eker in den Zeitungen zitieren: Jetzt müsse endlich Schluss sein mit diesem Thema. Er wolle nicht jeden Tag über die Vogelgrippe reden. Natürlich könne man Hühnerfleisch bedenkenlos essen. Anders reagierten die Köche in der Kantine des Parlaments in Ankara. Huhn wurde dort zum ersten Mal von der Speisekarte genommen. Auf den Märkten werden zur gleichen Zeit Hühner zu Schleuderpreisen verkauft. Tausende drängen sich an den Ständen, stehen Schlange nach billigem Hühnerfleisch: Bilder einer besonderen Dimension von Armut. In Istanbul verkaufen unterdessen die Apotheken die letzten Schachteln des Grippemittels Tamiflu an die, die Geld haben. Wer allerdings keineN BekannteN in einem Arzneimitteldepot hat, hat keine Chance. 40000 Packungen habe es in der ganzen Türkei gegeben, berichten die Zeitungen.

Dezember 2005: Anfang Dezember wurde noch einmal eine Chance verpasst, frühzeitig zu handeln. Bereits am 14. und 23. November hatte das Institut für tierärztliche Kontrollen im osttürkischen Erzurum Geflügel aus der ganzen Region positiv auf das Vogelgrippevirus getestet. Der Bericht darüber wurde am 9. Dezember erstellt. Am gleichen Tag aber tritt Landwirtschaftsminister Eker vor die Presse und erklärt: Es gibt kein Vogelgrippeproblem in der Türkei.

Januar 2006: Am 1. Januar stirbt in der Osttürkei das erste Kind. Der Direktor für öffentliche Gesundheit in Ankara behauptet zwei Tage lang, der Junge sei an einer einfachen Lungenentzündung gestorben. Dann geht er auf Pilgerfahrt nach Mekka - erst in zwei Wochen wird er zurückerwartet.

Freitag, 6. Januar: Drei Kinder sind inzwischen im Osten an der Vogelgrippe gestorben, dutzende Kranke liegen dort mit Verdacht auf Vogelgrippe in Krankenhäusern. In neun Ortschaften wurde das Virus ausgemacht. Jetzt mahnt auch Ministerpräsident Tayyip Erdogan: Bessere Aufklärung sei notwendig. «Es ist wichtig, dass sich die Leute der Gefahren bewusst sind, die sich aus dem engen Kontakt mit Vögeln ergeben.» Die Prediger in den Moscheen sollten sich des Themas annehmen, die Lehrer in den Schulen über die Gefahren informieren. Tatsächlich aber senden schon viele Radio- und Fernsehstationen Warnungen und Verhaltensmassregeln. Doch rund die Hälfte der Betroffenen im Osten und Südosten der Türkei kann nur Kurdisch. Seit Jahren werden Verordnungen und Verfahren für kurdischsprachige Radio- und Fernsehsendungen geprüft. Bald soll es so weit sein.

Der Gesundheitsminister versucht zu beruhigen: Die Regierung habe bei der Firma Roche inzwischen eine Million Packungen des Grippemittels Tamiflu bestellt. Man habe für Notfälle bereits 15 000 Packungen erhalten, weitere 10 000 würden in Kürze geliefert. Im Osten der Türkei werden Telefonnummern freigeschaltet, bei denen die Menschen anrufen können, wenn sie irgendwo tote Vögel sehen.

Samstag, 7. Januar: In neunzehn Ortschaften im Osten wird das Virus festgestellt. Die ganze Region scheint in Aufruhr: Die Behörden sind überfordert. Es gibt keine grossen Hühnerfarmen, sondern tausende und abertausende Dörfer und dort zahllose Häuser mit vier oder zehn Hühnern, Gänsen oder Truthähnen, die eingefangen werden sollen. Es gibt zu wenige HelferInnen. Sie jagen und stolpern über Stock und Stein, die Bauern fallen den Männern in den Schutzanzügen in den Arm, viele verstecken ihre Hühner und Truthähne im Haus. Für die meisten Bauern ist ihr Geflügel die wichtigste Einkommensquelle. Hunderttausende leben im Osten und Südosten der Türkei von umgerechnet einem Euro am Tag. Ein Bauer schreit die Helfer in den Schutzanzügen an: «Hier, nehmt meine zwei Frauen mit, aber lasst mir meine Tiere, sonst verhungern wir hier alle!»

In anderen Orten stehen zur gleichen Zeit hunderte mit ihrem Geflügel vor den landwirtschaftlichen Behörden. Sie haben die Tiere mit blossen Händen an den Flügeln haltend durch die Dörfer getragen und stehen nun vor den Amtsstuben und klagen, keiner komme, um die Tiere abzuholen. Manche haben ihre Tiere einfach selbst in Säcke gesteckt und auf den Müll geworfen. Etliche Tiere konnten sich selbst aus den Säcken befreien und laufen durch die Strassen.

Zahlreiche Ortschaften seien unter Quarantäne gestellt, heisst es, aber die ReporterInnen berichten, nirgendwo vor den Dörfern gebe es Kontrollen. Am nächsten Tag wird zum ersten Mal eine grössere Stadt, Dogubeyazit, unter Quarantäne gestellt und Gendarmerie an den Ortseinfahrten postiert. Nun werden die Warnhinweise der Behörden per Lautsprecher auch auf Kurdisch durchgesagt. Der Justizminister muss sich am gleichen Tag in aller Öffentlichkeit entschuldigen, weil er noch vor wenigen Tagen im Fernsehen alle, die von einer Gefahr sprachen, als Wichtigtuer bezeichnete. Beim Aussenministerium in Ankara wird ein Krisenstab eingerichtet, um auch das Ausland über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten.

Dienstag, 10. Januar: Das Virus ist in zwanzig Bezirken und Städten im ganzen Land nachgewiesen, auch in Istanbul. Zwei Stadtteile sind unter Quarantäne, aber auch hier gibt es nur wenige Kontrollen, wohl auch, weil jeder weiss: Eine Stadt wie Istanbul oder auch nur einzelne Stadtteile lassen sich nur mit ungeheurem Aufwand abriegeln, schon gar nicht zum islamischen Opferfest, das an diesem Tag beginnt.

Das Opferfest ist für die Verbreitung des Virus ein wuchtiger Faktor. Hunderttausende reisen aufs Land oder in die Stadt, um Verwandte zu besuchen, hunderttausende Opfertiere werden aus dem Osten in den Westen gekarrt. Im letzten Jahr wurden in der Türkei an diesem Tag 2,6 Millionen Tiere geschlachtet. Der Vorsitzende der Istanbuler Ärztekammer warnt eindringlich: Auch wenn diese Tiere nicht selbst krank sind, können sie das Virus tragen und die Menschen anstecken. Das geht dem islamisch-konservativen Ministerpräsidenten zu weit: Er kritisiert solche «übertriebenen Äusserungen» als «schweren Fehler».

Mittwoch, 11. Januar: Das Virus ist in 27 Bezirken und Städten des Landes festgestellt. Trotzdem verschwindet das Thema in etlichen grossen Zeitungen von Seite 1. Dafür melden sich Vertreter der Wirtschaft zu Wort, wie die der exportabhängigen Textilbranche und des Tourismussektors: Die Medien machten aus einer Krankheit mit drei Todesfällen eine ausser Kontrolle geratene Epidemie. So rede man eine wirtschaftliche Krise herbei. Die Virologen dagegen warnen: «Das Virus übt.» Je mehr Menschen sich anstecken, umso rascher werde sich das Virus dem Menschen anpassen und sich verändern. So steige die Wahrscheinlichkeit, dass es auch von Mensch zu Mensch übertragen wird. Die StatistikerInnen melden: In jedem der rund 850 staatlichen Spitäler gibt es im Schnitt gerade einen Arzt für Infektionskrankheiten.