Vogelgrippe: Tot in ein paar Tagen

Nr. 10 –

Die Hühner in den Ställen. Das Grau der Haubentaucher, das Graugrau der Möwen, das Weissgrau der Schwäne ... Und wenn sie tot wären?

... die Redaktion ruft an mit einer Idee für einen Text im Kulturteil, und ich freue mich und sage, ja, ich mache euch was, und sage, ja, es wird mir schon was einfallen, und fange dann zu denken an und denke, würde ich noch rauchen, wäre jetzt eine Zigarette fällig, ich sehe vor meinem inneren Auge, was so oft schon am Fernsehen zu sehen war, die vermummten Gestalten in Weiss, die nach den Vögeln greifen und sie in grosse Plastiksäcke stecken, die in eine noch viel grössere Grube kommen, das Benzin, die Flammen, ich habe das Bild, aber keine Idee, was sich damit anfangen liesse, kommt Zeit, kommt Einfall, denke ich, mir fällt das Wort Brandopfer ein, mir fällt das Wort Phönix ein, der aus seiner Asche aufsteigt, der Vogel Phönix stammt aus der ägyptischen Mythologie, und noch heute benennen sich insbesondere Feuerschutzgesellschaften gerne nach diesem Vogel, so die Information aus dem Netz, die mich auch nicht weiter bringt, mir fällt der Mann ein, der vor ein paar Tagen am Fernsehen erklärt hat, das Virus sei zum Glück nicht sehr stabil, mehr als siebzig Grad Celsius halte es nicht aus und man könne es beispielsweise auch gefahrlos schlucken, es sterbe ab im Magensaft, wie die Austern, denke ich, die gehen auch lebend die Speiseröhre hinunter und werden vom Magensaft getötet, würde ich noch rauchen, hätte ich mir jetzt die zweite Zigarette angezündet und den Rauch in eine leichte Nervosität hineingesogen, mir fällt ein, dass vor ein paar Tagen im Wallis 35 000 Hühner geschlachtet wurden, so habe ich es in der Zeitung gelesen, wie die Information aus dem Netz ergibt, ist in diesen fensterlosen Ställen, in denen sich Krankheiten besonders gut ausbreiten können, aber gar nicht die Vogelgrippe ausgebrochen, sondern die Laryngotracheitis, dafür wurden in Holland wegen der Vogelgrippe schon vor drei Jahren Millionen von Vögeln notgeschlachtet, die Vogelgrippe, so versucht mein Laienverstand sich die Widersprüche zurechtzulegen, scheint in weniger aggressiven Varianten schon öfter grassiert zu haben, und auch das Töten hat es natürlich schon gegeben vor dieser Vogelgrippe, zur Geflügelzucht gehört das Töten naturgemäss dazu, wenn Frankreich pro Jahr 700 Millionen Poulets produziert, dann heisst das auch, dass Frankreich pro Jahr 700 Millionen Hühner tötet, und die Schweiz, die ungefähr gleich viele Hühner in den Ställen hat wie Menschen in den Wohnungen, tötet demgemäss jedes Jahr sieben Millionen Hühner, falsch, denke ich, ein Huhn lebt ja nicht ein Jahr lang, natürlich, würde man es leben lassen, dann schon, dann, so die Information aus dem Netz, würde es sogar zehn Jahre leben, aber ein Masthuhn frisst sich innerhalb von vierzig Tagen vom herzigen Küklein zur zwei Kilo schweren Schlachtreife hoch, um zu wissen, wie viele Hühner in der Schweiz getötet werden, müsste ich also die 365 Tage des Jahres durch die vierzig Tage Lebenszeit eines schweizerischen Masthuhns teilen und denke, wo ist eigentlich der Taschenrechner und was ist mit den Eierhennen und was mit den männlichen Küken, zwei Millionen von denen werden in der Schweiz und 280 Millionen in der EU am ersten Tag ihres Lebens vergast oder lebendig in den Schredder geworfen, wobei letztere Todesvariante, so die Information aus dem Netz, nicht unbedingt die grausamere sei, tödlich wirke beim Vergasen der CO2-See nämlich nur für jene Küken, die wirklich in ihm zu liegen kommen und nicht für jene oben auf dem Kükenhaufen, wo die Luft weder zum Leben noch zum Sterben wirklich geeignet ist, woraus ein langsames Verröcheln resultiert, was sich nicht nur fürchterlich anhört, sondern einmal mehr beweist, wie komplex die Wirklichkeit ist, falls man sich wirklich auf sie einlassen will, wie ich jetzt denke, im Rauch der dritten Zigarette, würde ich denn noch rauchen, und noch immer ohne Idee, wie ich die Sache anpacke, deshalb weiter Material sammelnd auf dem Netz, wo ich unter www.rupfmaschine.de auf die Rupfmaschine Typus Rupfteufel, 12 Volt, auf Klappbock stosse, zu haben für 329 Euro (ohne Federauffanggestell) und weiter auf diverse von diversen Firmen angebotene, so genannte Schlachttrichter, in die das mit einem Schlag betäubte Huhn kopfvoran so hineinbugsiert wird, dass ebendieser Kopf unten beim Trichter so herausschaut, dass man ihn bequem abschneiden kann, worauf das Blut gezielt durch die Trichteröffnung abfliesst, während die je nach Preisklasse aus Edelmetall oder Zink gefertigten Trichterwände das ebenso heftige wie berühmte Zucken des Hühnerrumpfes auffangen, dieses Zucken kann ja, in seinem Drang ungebremst, wie jeder weiss, der auf dem Land aufgewachsen ist, ein frisch geköpftes Huhn noch bis zu drei Dachfirste überfliegen lassen, und stosse weiter im Netz auf so genannte Hühnerbrillen (zehn Stück für Eineurofünfzig), einer Art von starren Scheuklappen aus Kunststoff, die am Huhn mit einem durch die Nasescheidewand getriebenen Metalldorn befestigt werden und gegen Federfressen, Augenauspicken und viele weitere Formen von Kannibalismus, wie sie im Gedränge des Stalles auftreten, schützen, und denke Rupfmaschine, Schlachttrichter, Hühnerbrille, nein, das ist makabres Kuriositätenkabinett, das wird dem Thema nicht gerecht, das muss ich anders angehen, es wird mir doch noch einfallen, wie das anzugehen ist, oder soll ich hier am eigenen Beispiel demonstrieren, dass die Schriftsteller von heute nichts mehr zu sagen haben zu den gesellschaftlichen Themen, den politischen Fragen, wie es von einer bestimmten Seite her immer wieder moniert wird im Gedenken an die grossen Pfeifenraucher und Weltausleger von ehemals, so denke ich im Rauch meiner vierten Zigarette beziehungsweise würde ich denken, ich habe mit Rauchen aufgehört und merke, die Vogelgrippe ist kein politisches Thema, alle sind sich einig, das Virus ist bedrohlich, alle sind sich einig, Panik ist nicht angebracht, nein, Politik liegt nicht drin hier, denke ich, von dieser Seite her ist das Thema auch nicht in den Kulturteil hineinzubekommen, vielleicht passt es überhaupt nicht hinein, vielleicht ist der Kulturteil gegen die Vogelgrippe immun, das wäre ja auch was, wenn das hiermit bewiesen wäre, der Kulturteil wird uns als vogelgrippefreie Zone erhalten bleiben, vielleicht brauchen wir diesen Trost noch einmal, falls es wirklich noch schlimm kommt, wer weiss, was schon nur bis nächsten Donnerstag passiert, wenn diese Zeilen in der Zeitung stehen, nicht allzu viel, darf man ja annehmen, schon fast ganz Deutschland ist flächendeckend infiziert, und es sind doch nur, die von Menschenhand Gekeulten abgezählt, ein paar hundert Vögel gestorben, ganz so virulent scheint das Virus doch nicht zu sein, und dennoch hat es schon gewirkt, nicht nur bei Menschen, die Hühnerfarmer sind oder eine Katze haben oder Kinder und also Grund haben zu gewissen Sorgen, nein, auch bei solchen wie mir, die eigentlich, im Moment wenigstens, nichts zu befürchten haben, ist schon etwas anders geworden durch das Virus, ich denke zurück an den Spaziergang vom letzten Sonntag und habe sie wieder vor mir, diese zauberhafte Dämmerung am See, die schneebedeckten Rasenflächen lagen in einem hellen, fast weissen Grau, der See aber und der Himmel über ihm beide in einem dunklen Bleigrau, und die Vögel auf dem See deklinierten die Grautöne noch einmal vom fast schwarzen Grau der Haubentaucher über das Graugrau der Möwen zum ins Weiss spielenden Grau der Schwäne, und es war mir leicht unheimlich, wie viele Vögel es hatte auf dem See, es sind hunderte, dachte ich, nein tausende, sie sind überall und mit ihnen ihre Federn und ihr Kot, und als ich jemanden am Wasser sah in einer Wolke von Möwen, die sich sein Brot pickten, fütterte da nicht mehr einfach jemand die Vögel, sondern war jemand unvorsichtig bis grobfahrlässig oder vielleicht sogar drauf und dran, eine suizidale Laune auf eine etwas exzentrische Weise auszuleben, am Zürichhorn bin ich dann auf dem Schiffslandesteg so weit in den See hinaus, wie das geht, und stand dort, und die Schneeflocken flogen über mich hinweg, und über das vom Wind ganz fein gekräuselte Wasser zogen zwei Schwäne heran, völlig geräuschlos und mit einer Anmut, wie nur unsterbliche Wesen sie besitzen oder perfekte Automaten, je nach dem, und ich konnte nicht anders als denken, gut möglich, dass die in ein paar Tagen schon tot sind, und plötzlich war es doch ein wenig kalt dort draussen, denke ich jetzt, drinnen an der Wärme vor meinem Computer, im Rauch meiner fünften oder sechsten Zigarette, die es nicht mehr gibt, zum Glück, denke ich, wer will schon mit fünfzig an Lungenkrebs sterben, und wer mit sechzig, und wer überhaupt, niemand will das, und wehe dem, der uns erinnert, dass wir es doch müssen, wir sind allesamt zum Tod verurteilt durch unser Denken, denke ich und gerade dadurch richtiggehend versessen, übers Sterben und Töten alles zu erfahren, was es nur zu erfahren gibt, denke ich weiter und habe noch immer keinen Einfall für meinen Text im Kulturteil, dieser, wenn das so weitergeht, vogelgrippefrei bleibenden Zone ...


Gerhard Meister

Der Autor, 1967 geboren, schreibt vor allem Theaterstücke, unter anderen «Die Liebe höret nimmer auf» (uraufgeführt in Bern 2001), «Mieschers Traum» (uraufgeführt in Zürich 2003), «Stilleben Herr mit Kätzchen» (uraufgeführt in Braunschweig 2004), «Der Entenfreund» (uraufgeführt in Osnabrück 2006). Buchpreis der Stadt Bern 2005.

Meister bildete zusammen mit Andres Lutz das kabarettistische Duo Geholten Stühle.