Postkoloniale Theorie: Europa provinzialisieren

Nr. 18 –

Der Kolonialismus ist nicht vorbei. Aktuell ist er auch für nichtkoloniale Nationen wie die Schweiz - ein Streifzug durch neuere Publikationen.

Der Begriff der postkolonialen Theorie vereinigt seit den neunziger Jahren vor allem im angelsächsischen Raum Denkansätze, welche die koloniale Ordnung der Welt in ihren aktuellen Formen zu bestimmen versuchen. Das «post-» meint dabei nicht, dass es um eine Gegenwart jenseits des Kolonialismus geht, sondern deutet auf das Ende des kolonialen Zeitalters und auf die Fortsetzung kolonialer Verhältnisse hin, die sich seit der Dekolonialisierung verändert haben.

Ein Verdienst der postkolonialen Theorie besteht darin, dass sie Kolonialisierung nicht als etwas versteht, das sich ausserhalb der westlichen Metropolen ereignet hat. Vielmehr zeigt sie, dass der Kolonialismus auf unterschiedliche Weise die ganze Welt betrifft und sie in einem gewissen Sinne erst als «Welt», als einen zusammenhängenden ökonomischen, politischen und geografischen Raum, hervorgebracht hat. Die koloniale Erfahrung betrifft darum alle Gesellschaften. Die einfache Rückkehr zu einem vorkolonialen Ursprung bleibt einem südafrikanischen Land genauso verwehrt, wie es einer westeuropäischen Gesellschaft unmöglich ist, sich ausserhalb ihrer Geschichte von Kolonialismus und Rassismus zu situieren.

Das zeigt auch eine aktuelle Forschungsrichtung, die nicht im engeren Sinne der postkolonialen Theorie zuzurechnen ist: Mehrere neuere historische Publikationen zeugen davon, dass auch die Schweiz, welche nie offiziell als Kolonialmacht aufgetreten ist, in den Kolonialismus verwickelt war. Thomas Davids, Bouda Etemads und Janick Marina Schaufelbuehls «Schwarze Geschäfte», Hans Fässlers «Reise in Schwarz-Weiss» oder Niklaus Stettlers, Peter Haengers und Robert Labhardts «Baumwolle, Sklaven und Kredite» zeigen die vielfältigen sozialen, ökonomischen und politischen Verknüpfungen zwischen Schweizer Unternehmerfamilien, dem transatlantischen Handel und der europäischen Expansionspolitik auf. Dabei wird deutlich, dass der Kolonialismus nicht (nur) ein nationalstaatliches Projekt war und dass auch Staaten ohne Kolonien Kolonialpolitik betrieben haben.

Der Westen und der Rest

Dass der Kolonialismus über die offiziellen Kolonialgebiete hinaus bedeutsam war, hat allerdings noch andere Gründe. Die Entstehung der modernen Wissensformen ist, wie die postkoloniale Theorie zeigt, eng mit kolonialen Praktiken verknüpft. So verdichten sich im 19. Jahrhundert beispielsweise Evolutionstheorie, Medizin, Ethnologie, Biologie und nationalistische Ideologien in den modernen Rassentheorien, welche koloniale, antisemitische und rassistische Praktiken wissenschaftlich legitimieren. Die postkoloniale Theorie geht davon aus, dass solche Wissensordnungen trotz vieler Transformationen und Korrekturen bis in die Gegenwart hinein wirksam sind. Und sie untersucht, wie die problematische Dialektik zwischen Fremdem und Eigenem in Gang gehalten und der Unterschied zwischen dem «Westen und dem Resten» immer wieder neu produziert wird.

In der kürzlich erschienenen, ersten deutschsprachigen Einführung in die postkoloniale Theorie leuchten María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan aus, wie dieser Ansatz die komplexen Zusammenhänge zwischen Ökonomie, Geschichte, Politik, Sprache und Macht zu ergründen sucht. Ein solcher Zugriff ermöglicht es ihnen, die postkoloniale Theorie als weites Feld theoretisch unterschiedlicher Ansätze darzustellen. Dabei weisen sie auch auf die oft unterbelichteten Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Geschlecht hin. Im Zentrum des Buches stehen drei «klassische» AutorInnen der postkolonialen Theorie: Edward Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi Bhabha. Auch hier stellen die AutorInnen nicht nur die Konzepte vor, die am meisten diskutiert werden - Saids Kritik am Orientalismus, Spivaks Ausführungen zu den Subalternen und Bhabhas Begriff der Hybridität -, sondern zeigen auch die inneren Widersprüche in den Schriften dieser DenkerInnen und die kritischen Stossrichtungen der Rezeption auf.

In den Blick gerät vornehmlich die Auseinandersetzung mit dem arabischen Raum (Said) und dem indischen Subkontinent (Spivak, Bhabha). Andere postkoloniale Räume, wie sie Valentin Y. Mudimbe mit der «Erfindung Afrikas» (1988) oder Paul Gilroy mit «Black Atlantic» (1993) - dem Versuch, die Entstehung der Moderne im Dreieck von Afrika, Amerika und Europa auszumachen - eröffnet haben, kommen dabei zu kurz.

«Biopolitik» als Scharnier

Der Sammelband «Spricht die Subalterne deutsch?» widmet sich der Frage, ob und wie die postkoloniale Theorie auf den deutschen Kontext anwendbar ist. Dabei werden vor allem zwei Aspekte stark gemacht: die Notwendigkeit, sich mit der deutschen Kolonialgeschichte zu befassen, und, darauf aufbauend, eine Rekonstruktion der deutschen Migrationspolitik. So fordert Hito Steyerl in ihrem Beitrag die Aufarbeitung der Verbindungen zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Praktiken. Als konzeptuelles Scharnier schlägt sie Michel Foucaults Begriff der Biopolitik vor, also der staatlichen Versuche, das Leben der Bevölkerung zu kontrollieren und zu regulieren. Die Autorin führt als Beispiel den deutschen Eugeniker Eugen Fischer an, der in den Konzentrationslagern Deutsch-Südwestafrikas Experimente an Menschen durchführte und später Lehrer des berüchtigten Auschwitz-Arztes Joseph Mengele wurde. Steyerl geht es darum, solche personellen, wissenschaftlichen und politischen Verknüpfungen aus einer biopolitischen Perspektive zu ergründen. Dabei sollen, ohne die nationalsozialistische Vernichtungs- und Vertreibungspolitik zu relativieren, mögliche Kontinuitäten zwischen dem Kolonialismus, dem Faschismus und der aktuellen Migrationspolitik (wie sie im Übrigen schon in Hannah Arendts Totalitarismusanalyse angedacht, seither aber kaum weiterentwickelt worden sind) sichtbar gemacht werden.

Ein anderer Fokus des Bandes richtet sich auf die deutsche Migrationspolitik. Steyerl bemerkt, dass sich in Deutschland schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts riesige Bevölkerungsverschiebungen vollzogen haben - «ausgerechnet an einem Ort, der bis in die jüngste Vergangenheit hartnäckig bestritt, überhaupt etwas mit Migration zu tun zu haben». Kein Nghi Ha, der in seinem Beitrag dafür plädiert, den aktuellen Umgang mit MigrantInnen durch die Kolonialgeschichte neu zu erschliessen, deutet die deutsche Arbeitsmigrationspolitik als eine Umkehr «kolonialer Expansionsformen». Er setzt mit seiner Genealogie der deutschen Einwanderungspolitik im wilhelminischen Deutschland an und legt Zusammenhänge zwischen der Kolonialpolitik und der osteuropäischen Arbeitsmigration frei. Damit schreibt er gegen die Vorstellung an, Arbeitsmigration sei ein Phänomen der Nachkriegszeit, und verleiht dem Widerspruch zwischen ökonomischer Ausbeutung und nationalistischer Ausgrenzung von MigrantInnen, der die aktuelle Politik prägt, eine neue Tiefenschärfe.

Lesbisch-schwuler Erfolg?

Fatima El-Tayeb zeigt in ihrem Beitrag, warum die lesbisch-schwule Erfolgsgeschichte der letzten Jahre aus einer postkolonialen Perspektive neu formuliert werden muss. Sie wendet sich damit gegen eine Sichtweise, welche nur die Errungenschaften der lesbisch-schwulen Gleichstellungspolitik der letzten Jahre in den Blick nimmt. Die rechtlichen und sozialen Verbesserungen machen die Herausbildung eines weissen Mainstreams möglich, der an einer bürgerlichen Normalität teilhat und Solidarität mit der Mehrheitsgesellschaft statt mit den Marginalisierten übt.

Vergessen geht dabei die Situation von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgenderpersonen, die unterschiedlichen Formen des Rassismus und einer verschärften Migrationspolitik ausgesetzt sind. Am Beispiel einer gross angelegten Kampagne gegen Rechtsradikale am Berliner Christopher Street Day zeigt El-Tayeb die Folgen einer solchen Politik auf, die einen bedeutsamen Teil der eigenen Community aus der kollektiven Wahrnehmung ausblendet: «Nirgendwo findet sich die Erkenntnis, dass ein Teil der eigenen Community bereits jetzt von rechtsextremer Gewalt und Alltagsrassismus betroffen ist und dass weisse Schwule und Lesben in diesem Kontext nicht nur Opfer, sondern auch TäterInnen sein können.»

Solche Beiträge sind bedeutsame Interventionen in politische und wissenschaftliche Felder, in denen die Beschäftigung mit der kolonialen Vergangenheit und der postkolonialen Gegenwart überfällig ist. Auch wenn man sich an vielen Stellen weiterführende Analysen und Klärungen wünscht - die Leistung des Sammelbandes besteht darin, neue Perspektiven zu öffnen und verdeckte Zusammenhänge überhaupt erst denkbar zu machen. Die postkoloniale Theorie ist in Europa angekommen - und sie erweist sich einmal mehr, wie Dipesh Chakrabarty es treffend beschreibt, als jener zugleich notwendige und unmögliche Versuch, Europa zu provinzialisieren.



Patricia Purtschert ist Philosophin und Assistentin am Zentrum Gender Studies der Universität Basel.

Literatur

• Homi Bhabha: «Die Verortung der Kultur». Tübingen 2000.

• María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan: «Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung». Bielefeld 2005.

• Thomas David, Bouda Etemad, Janick Marina Schaufelbuehl: «Schwarze Geschäfte: die Beteiligung von Schweizern an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert». Zürich 2005.

• Hans Fässler: «Reise in Schwarz-Weiss: Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei». Zürich 2005.

• Paul Gilroy: «The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness». London 1993.

• Valentin Y. Mudimbe: «The Invention of Africa: Gnosis, Philosophy and the Order of Knowledge». London 1993.

• Edward Said: «Orientalism». New York 1978.

• Gayatri Chakravorty Spivak: «A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Past». Cambridge 1999.

• Niklaus Stettler, Peter Haenger, Robert Labhardt: «Baumwolle, Sklaven und Kredite: die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit 1789-1815». Basel 2004.

• Hito Steyerl, Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.): «Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik». Münster 2003.