Zürcher Danslieue: Die Bannmeile wandert

Nr. 36 –

Wer beansprucht welche Räume? Und warum? Was macht Kultur politisch? Beobachtungen und Überlegungen zu Politik und Subkultur in Zürich.

Das öffentliche WC beim Seebad Enge entspricht ganz und gar nicht den Vorstellungen vom eleganten Zürich. Es ist uralt, solid und unverwüstlich, aus quietschenden Metallteilen und blätternder weisser Farbe. Es ist gratis. Ganz unten in der Ecke der Frauenklotür ein Kleber: «Danslieue» steht da in Stacheldrahtschrift. Der Kleber tauchte in den letzten Wochen überall in Zürich auf. Niemand beachtete ihn.

Es ist Freitag um 18 Uhr. Zürich geniesst einen strahlenden Feierabend am See. Plötzlich kommt Bewegung in die herumsitzenden, -liegenden und flanierenden Menschen. Alle gehen in die gleiche Richtung. Bis zum Kiesplatz gegenüber dem Kongresshaus, direkt am See. Dann geht alles sehr schnell. Ein Kleinlastwagen fährt heran, alle rennen hin und entladen Condecta-Absperrgitter, Transparente und Holzbalken. In wenigen Minuten ist ein fast hundert Meter langes Areal abgetrennt, von den Gittern hängen ironisch verfremdete Werbeplakate und Hochhaussilhouetten. Im Innern des Areals werden eine Bühne, eine Bar und ein Infozelt aufgebaut.

Ghetto spielen?

Das gab es doch letztes Jahr schon, erinnern sich die ZürcherInnen. In den Tagen vor dem 1. August 2005 entstand an der Sihl die Hüttensiedlung Shantytown. Shantytown war eine politische Party, auch wenn viele BesucherInnen nur Party verstanden. Die Polizei schaute zu, beschloss - auch wegen ferienbedingten Personalmangels –, dass die ShantytownerInnen keine Bedrohung darstellten. Die Presse berichtete wohlwollend, aber verstand nichts. Das Shantytown-Flugblatt bezog Stellung gegen die Schliessung subkultureller Treffpunkte wie der Boschbar im Frühling 2005. Die fänden offenbar, es gebe in Zürich zu wenig Partys, spotteten die Zeitungen. Andere Inhalte auf dem Flugblatt wie der Protest gegen das geplante Polizeigesetz und gegen die Vernichtung von günstigem Wohnraum interessierten die Medien kaum.

Ist Danslieue einfach Shantytown 2? Nein, sagen alle. «Der Schwerpunkt ist ganz anders, die Politik steht viel stärker im Zentrum. Das war auch so geplant.» «In Shantytown baute jede Gruppe ihr Hüsli und bot etwas an, wie auf dem Jahrmarkt. Diesmal beschränken wir uns auf das Lebensnotwendige – Essen, medizinische Versorgung, WCs –, dazu bewusst nur eine Bühne, nur eine Bierbar und als ganz wichtiges Element das Infocafé. Es ist viel mehr eine gemeinsame Sache, Shantytown war eher ein Nebeneinander.» Das Infocafé wird tatsächlich zu einem zentralen Ort in der Danslieue. Dort gibt es Kaffee aus Chiapas und diverse politische Infos: gegen das neue Zürcher Polizeigesetz, gegen Asyl- und Ausländergesetz, gegen die Überbauung Stadtraum HB, für die Freilassung des kurdischen Flüchtlings Erdogan E. Das Infocafé liegt zentral gegenüber der Bühne, es wird darauf geachtet, dass die Konzerte nicht zu laut sind, weil sonst Gespräche unmöglich würden.

Danslieue ist voller Anspielungen. Die Banlieue natürlich, historisch die Vorstadt von Paris, wo die doppelt Beschissenen lebten, die zwar den Gerichten der Stadt unterstanden, aber keine städtischen Rechte hatten. Der Begriff Shantytown geriet letztes Jahr einigen in den falschen Hals: «Immer wieder erheiternd, wenn in der reichsten Stadt der Erde die Kids Ghetto spielen. Was für andere eine Notlösung ist, wird hier ganz einfach zum Hihihahahoho-Event», protestierte jemand auf Indymedia. Banlieue ist ein ähnlich aufgeladener Begriff. Danslieue grenzt sich jedoch ab gegen romantisierte Banlieue-Bezüge: «Wie in den Shantytowns und Bidonvilles dieser Welt bestehen in den Banlieues Verhältnisse, die in der Schweiz nicht anzutreffen sind, und wir sollten uns keinen Augenblick anmassen, solche Anschlüsse herzustellen», hat ein Aktivist im Vorfeld geschrieben. Das «dans» weist darauf hin: Es geht um die innere Banlieue, um Ausgrenzungen im Innern der Städte und der Köpfe. Die Wegweisung im geplanten Zürcher Polizeigesetz und im Ausländergesetz ist eine Danslieue. «Erlaubt ist, was nicht stört» ist eine Danslieue. Überall, wo Condecta-Gitter aufgestellt werden, ist eine Danslieue. «Die Gitter stehen auch für die Tendenz reicher Regionen, ihre Grenzen zu befestigen, damit möglichst niemand von ausserhalb diese Wohlstandsinseln erreichen könne. Im Innern solcher befestigter Räume dagegen kann weiterhin heile Welt gespielt werden, wie etwa im Innenraum von Danslieue, der zur kreativen Gestaltung einlädt. Ganz bewusst soll damit der Umstand thematisiert werden, dass auch Aktionen wie Danslieue letztlich von der Einseitigkeit der internationalen Waren- und Finanzströme profitieren», steht in einem Flugblatt.

Danslieue ist ein (gegen-)kulturelles Projekt wie die meisten ausserparlamentarischen linken Aktionen der letzten Jahrzehnte, das Politische ist ohne das Kulturelle nicht denkbar und umgekehrt. Das scheint selbstverständlich und ist es doch nicht. Gerade in Zürich haben die Polit- und die Kulturszene die Tendenz, sich zu separieren. Die Voraussetzungen für eine Bewegung sind offenbar dann am besten, wenn es möglichst viele Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen ihnen gibt. Trotzdem bewegen sie sich immer wieder auseinander. Wie lange schon? Überspitzt gesagt kümmern sich die einen in den besetzten Häusern und Ateliers um die Kultur und die anderen in ihren Sitzungsräumen um die Politik. Das politische Engagement benötigt ein halbwegs «geregeltes» Leben, anderseits ist Hausbesetzen oft ein Vollzeitjob, neben dem Organisieren des Alltags bleibt wenig Zeit und Energie übrig.

Hie Kreative, da Böse

Daneben gibt es aber auch eine Trennung in der medialen Wahrnehmung. Ab den achtziger Jahren infiltrierte die Popkultur die Hochkultur – in Zürich eine direkte Folge der 80er-Bewegung. Dadurch wurde Subkultur auch kommerziell interessant, verwertbar. Viele ehemalige AktivistInnen machten in besser oder schlechter bezahlten Kulturinstitutionen Karriere. Die Beurteilung von subkulturell-politischen Bewegungen veränderte sich: Ihre kulturellen Leistungen wurden jetzt anerkannt – abgetrennt vom Politischen. Die Spaltung in gute Kreative und böse ChaotInnen etablierte sich. Sehr deutlich wurde das im letzten halben Jahr der Wohlgroth-Besetzung: Im Sommer 1993 waren die meisten Medien begeistert von diesen kreativen jungen Leuten, den Konzerten und den bemalten Wänden. Eine tolle Lösung für alle Beteiligten schien sich abzuzeichnen, als Hans Widmer von Bührle Immobilien, denen das Areal gehörte, den BesetzerInnen eine Halle in Seebach als Ersatz für die Wohlgroth anbot. Als diese sich weigerten, weil ein Atelier am Stadtrand mit sehr beschränktem Wohnraum nichts mehr mit ihren Ideen zu tun gehabt hätte, war es aus mit der Sympathie. Vor allem der «Tages-Anzeiger», der sich vorher betont Wohlgroth-freundlich gegeben hatte, reagierte aggressiv. Das Areal wurde dann geräumt, begleitet von militanten Demos. Aus den sympathischen KünstlerInnen waren wieder böse ChaotInnen geworden.

Die ShantytownerInnen letztes Jahr waren auf der Seite der «Guten» gelandet, wenn auch knapp. Der aggressiv-warnende Ton von Edgar Schuler im «Tages-Anzeiger» vom 6. August 2005 sprach Bände: «Aber charmante Protestparty-Organisatoren und eine langmütige Polizei sind keine Garantie dafür, dass Zürich von jugendlichen Gewaltexzessen verschont bleibt. Zu gross bleibt das jugendliche Bedürfnis, mit illegalen Aktionen zu provozieren, zu zersplittert sind heute die Szenen und Gangs, die sich mit sinnloser Gewalt abreagieren wollen. (...) Die Polizei wird weiter Gelegenheit haben, mit Souplesse, aber auch mit Härte für Ruhe und Sicherheit zu sorgen.» Danslieue bewegte sich haarscharf an der Grenze zwischen «Guten» und «Bösen» – bis zum Sonntagnachmittag, als die verbliebenen AktivistInnen den gesammelten Müll des Wochenendes vor dem Sitz der Swisslife deponierten und die Abfallsäcke wegen eines Vulkans auch noch Feuer fingen. Seither ist der Fall wieder klar. Der Swisslife gehört ein kürzlich geräumtes Haus an der Jenatschstrasse.

«Seltsam war, wie die Architektur das Handeln beeinflusste. Wir blieben im Innern des Zauns, konnten die selbst gesetzten Grenzen nicht überspringen. Die Schlussaktion war erst möglich, als der Zaun weg war. Sie war wichtig.» «Mir geht es generell darum, über Raumnutzung nachzudenken. Wer definiert, welche Räume wie genutzt werden? Es geht nicht nur um den sogenannten öffentlichen Raum, sondern zum Beispiel auch um Wohnungsgrundrisse.» «Es gibt immer weniger Räume mit vielfältiger Nutzung. Die Strassen sind nur noch für den Verkehr, dieses Quartier nur noch zum Wohnen, jenes nur noch für den Ausgang et cetera. Wir fordern Räume, deren Nutzung nicht vordefiniert ist.» «Unübersichtliche Räume, Brachland.» «Alle bekommen ihr vorgefertigtes Kästli, und nachher fragen sie: Was wollt ihr noch, ihr habt ja alles.»

Dreck ist schick

Der hedonistische Anteil der Bewegungen seit 1980 ist integriert und vermarktet. Das Nachtleben ist längst zum Standortfaktor geworden. Der Kreis 5 von heute hat nur noch wenig mit dem Kreis 5 zur Zeit der Wohlgroth zu tun. Doch er lebt immer noch davon. Er hätte nie zum «Trendquartier» werden können ohne sein Image des Gefährlichen, Berüchtigten, Multikulturellen. Auch die Wohlgroth trug zu diesem Image bei. Sind besetzte Häuser auch ein Standortfaktor? Beschleunigen sie Entwicklungen, die sie bekämpfen wollen? Diese Frage stellt sich heute mehr denn je. An den Partys in den besetzten Häusern Zürichs trifft sich das junge, hippe Volk von der Uni und den Grafikbüros. Die Illegalität hat ihren Reiz, die Drinks sind billig, und ein bisschen Dreck ist schick, solange er nicht an den teuren Kleidern kleben bleibt. Politisch engagiert oder auch nur interessiert sind die wenigsten dieser Leute, und sie tauchen auch nicht mehr auf, wenn einem Haus die Räumung droht. Sie suchen sich einfach eine andere Party.

Es geht hier nicht darum, Besetzungen infrage zu stellen. Doch was können BesetzerInnen tun, um nicht einfach eine Erweiterung des Konsumangebots zu werden? Warum kümmern sich die PartygängerInnen nicht um politische Inhalte? Sie haben es wohl einfach nicht nötig. Sie spüren den Druck nicht. Früher, in der wohlanständigen Gesellschaft, gegen die die 68erInnen und die 80erInnen rebellierten, war das anders. Polizeistunde, Kleidervorschriften, Tanzverbote an Feiertagen und Ähnliches betrafen alle. Heute sind die Einschränkungen viel zielgerichteter. Wer einen Schweizer Pass und genug Geld hat und nie an Demonstrationen geht, kann in Zürich ein problemloses Leben führen. Die meisten PartygängerInnen gehören zu dieser Gruppe. Sie leben in einer anderen Welt als Ausländer, Arme und Aktivistinnen. Sie engagieren sich nicht, weil sie schlicht kein Problem sehen. In Danslieue bekamen die BesucherInnen am Samstag mitten im Musikprogramm den Film «Voices in Transit» über afrikanische Flüchtlinge in Zürich serviert. Das war ein gut gewählter Zeitpunkt für einen Blick in eine andere Welt, in der problemloses Leben unmöglich ist.

Politik ohne Kultur ist eine freudlose Sache. Kultur ohne Politik ist ein zweifelhafter Luxus. Es braucht beide für einen nahrhaften Kuchen. In Danslieue hat die Mischung ein Wochenende lang funktioniert.

www.raumpflege.org

Die Bank, deine Besetzerin

Danslieue war ein Klacks. Andere besetzen in ganz anderen Dimensionen: zum Beispiel die Credit Suisse beziehungsweise ihre «indirekten Immobilienprodukte», die Investoren von Sihlcity, dem «neuen Stadtteil» bei der Zürcher Allmend.

Sihlcity ist 42000 Quadratmeter gross, ein Millionstel der Schweiz. Diese Woche war Medienorientierung. Achtzig Geschäfte, dreizehn Restaurants, ein Hotel, ein Kino, eine Disco, ein «Kulturhaus», ein Wellnesscenter, 24000 Quadratmeter Bürofläche, sechzehn (!) Wohnungen «mit dem gewissen Etwas für anspruchsvolle Individualisten». Mehr Wohnungen seien wegen der Lage nicht möglich gewesen, sagt Conradin Stiffler von Credit Suisse, Gesamtprojektleiter. Das Konzept für das «Kulturhaus» sei noch nicht fertig. Die Mischung aus Hochpreis- und Mittelpreisläden erzeuge eine «Spannung». Das Hotel wird vier Sterne haben und Aussicht auf eine Betonmauer. Niemand von der Presse macht ein Foto von der Aussicht. Die Wände sehen aus wie Mondlandschaften. Auf eine Kartonverschalung hat ein Bauarbeiter sexuelle Fantasien gekritzelt. Im zukünftigen «Kulturhaus», der ehemaligen Ausrüsterei der Sihlpapier AG, sind noch die Wandmalereien der BesetzerInnen zu sehen, die das Areal 2003 besetzt hatten. An der Wand steht ein Mantra: «Every day I tell myself I don’t want to end like my parents living in the suburbs of Copenhagen enjoying the television reality holding down every anarchistic feeling in the name of democracy and universal morality. Not to be sucked in there. Every day I tell myself that I ...»