Zentralamerika: Nicaragua war auch ein Glaubenskrieg

Nr. 40 –

Nicaragua nach der sandinistischen Revolution von 1979 war ein Hauptthema zur Zeit der WOZ-Gründung. Man hatte klar zu bekennen, auf welcher Seite man stand. Wer skeptisch war, war allein.

Am 19. Juli 1979 triumphierte in Nicaragua die Revolution. Diktator Anastasio Somoza hatte das Land verlassen. Die SandinistInnen feierten ihren Sieg in der Hauptstadt Managua vor der schwer beschädigten Kathedrale. Deren Gewölbe und Dach waren nicht im Zug des Befreiungskrieges eingestürzt, sondern während des verheerenden Erdbebens sieben Jahre zuvor. Damals hatte sich der Diktator an den internationalen Spenden bereichert. Jetzt sass das Volk auf den brüchigen Gesimsen, so unsicher das auch war, schwenkte rotschwarze Fahnen und jubelte den Comandantes zu.

Kurze Zeit später kam ich, nach einer längeren Odyssee, in Managua an, inmitten einer Schar zurückkehrender nicaraguanischer ExilantInnen. Am Fuss der ans Flugzeug gerollten Treppe begrüsste uns ein Bursche in olivgrüner Uniform: «Willkommen im freien Nicaragua!» Die erste Stimme der Revolution: frisch, stolz, froh. Das hörte bald auf - aus Sicherheitsgründen: diese Begrüssung draussen auf der Piste, aber auch die Arglosigkeit des jungen Milizionärs.

In der Hauptstadt feierten die SandinistInnen auf einer eilends asphaltierten Plaza vor der Zentralamerikanischen Universität (UCA) den ersten Jahrestag der Befreiung: Schülerinnen mit bunten Schleifen in den Zöpfen deklamierten Kitsch. Tomás Borge, Gründungsmitglied der Frente Sandinista, jetzt Innenminister, hielt eine seiner Reden zwischen Pathos und Poesie. Die Menge schrie: «Nationaldirektion - befehle!», und sang die Parteihymne, die Borge in Verse gesetzt hatte: «Wir kämpfen gegen den Yankee, den Feind der Menschheit.» Jassir Arafat war da. Fidel Castro verblüffte alle mit dem Satz: «Den Vereinigten Staaten von Amerika müssten wir danken» - um dann, im sicheren Gefühl, dass ihm jetzt alle Aufmerksamkeit zuteil wurde, den Spiess gewaltig umzudrehen.

Die Musikkassetten der Studentin

Ich hatte in Mailand eine Wirtschaftsstudentin kennengelernt und da jeweils zugesehen, wie sie auf Kundgebungen mit GesinnungsgenossInnen Geld für den Kampf der SandinistInnen sammelte. Ihre Musikkassetten mit den revolutionären Ohrwürmern der Brüder Carlos und Enrique Mejía-Godoy gefielen mir. Die Revolution war jung und schön und tüchtig - genau wie diese Frau. Als sie zurückging, folgte ich ihr kurze Zeit später nach. An der Zentralamerikanischen Universität bekam ich eine Anstellung als Deutsch- und Englischlehrer, halbtags. Daneben betätigte ich mich als Journalist.

Im Gegensatz zu heute interessierten sich die Leute damals brennend für Lateinamerika, vor allem die Jugend. In Europa war jeder Weg verbaut zwischen den erstarrten Blöcken des Kalten Kriegs. In den stetig besser geölten Mühlen des Profits schien sich nichts zu lohnen, um sein Engagement, seine Kraft und Romantik, ja sein Dasein darauf zu gründen. In Nicaragua hingegen öffnete sich Zukunftsträchtiges, unschuldig, frei, unteilbar - mit den üblichen eingeriebenen Relativierungen war das jedenfalls nicht zu zersetzen.

Angesichts der damals noch ziemlich abstrakten Diskussion in den Medien dachte ich daran, die Revolution in Nicaragua einmal vom Alltag der kleinen Leute her zu beleuchten. Ich schlug das Thema der StudentInnenzeitung «Das Konzept» vor. Ich kannte die Zeitung aus meiner Zeit an der Universität Zürich. Eine andere Adresse kam nicht infrage. Nirgends schien mir die intellektuelle Neugier wacher und feinnerviger zu sein als bei dieser Vorläuferin der WOZ, kaum belastet von den Pawlow’schen Gedankenreflexen jener aufs Binäre fokussierten, vom Binären verhexten Epoche.

Mehr Spalten für die Leserbriefe als für den Artikel

Der Artikel erschien im Dezember 1980. Im Lead hiess es: «Was von der Regierung Nicaraguas als ‹Verteidigung der Revolution› durchgeführt wird, erlebt die Bevölkerung oft als ‹Verhärtung des Regimes›.» Beispiele solcher Verhärtungen wurden im Artikel aufgezeigt. Etwa die Einführung der Pressezensur mit den Dekreten Nr. 511 und 512, überhaupt die Politik per Dekret. Dann die höchstens lauwarme Aufnahme von KubanerInnen im Land durch die Bevölkerung. Der Aufbau eines Blockwartsystems, eine Erfindung des Faschismus. Ein Generalstreik an der sträflich vernachlässigten Atlantikküste. Eine Propaganda, die nicht bloss jedes Sprachgefühl beleidigte, sondern ans Unbehagen rührte, sich zahlreicher politischer Verbrechen im 20. Jahrhundert zu entsinnen, die mit solchen fast zum Verwechseln ähnlichen Floskeln kaschiert worden waren. Die kühle Haltung der Campesinos und Campesinas gegenüber den StatthalterInnen der Revolution - Leute, die dank Landumteilungen eigentlich zu den Nutzniessern gehören sollten. Und so weiter.

Die Skepsis kam offensichtlich zu früh.

Die Zeitung brauchte in der folgenden Nummer mehr Raum, als der Artikel beansprucht hatte, um die geharnischten Reaktionen abzudrucken. «Mit Wut» rügte man den Verfasser, dessen «kameradschaftliches Auf-die-Schulter-Klopfen unschön an die Zeiten erinnert, als sich Europäer als Entwicklungshelfer in die Dritte Welt begaben». Einer musste «nach vorne blättern und mich vergewissern, ob ich wirklich ‹Das Konzept› und nicht die NZZ in Händen hielt». Leute, die nach Nicaragua gereist waren, sprachen von ganz anderen Erfahrungen, etwa zur Versorgungslage: «In Estelí habe ich mitten im Landesinneren frische Fische von Fischerkooperativen gekauft.» Ob der Autor des Berichts nicht sehe, fragte der Vertreter eines Nicaragua-Komitees, «dass es auch in Zukunft noch vieler einschneidender Gesetzesänderungen gegen den Willen der bürgerlichen Kräfte bedarf, um die Lebens- und Wirtschaftsbedingungen entscheidend zu verändern»?

Mit «feuchtem Rücken» nach Norden

In der Folge bot mir die Redaktion an, eine Entgegnung zu schreiben, worin ich auch die Lebensumstände skizzieren sollte, in denen ich mich damals befand, die Optik, aus der heraus ich die Dinge betrachtet hatte. «Die Verteidigung der fernen Revolution», schrieb die Redaktion, «findet deshalb so vehement statt, weil da nicht nur die Realität, sondern auch die Hoffnungen, die greifbare Utopie bedroht sind. Ist ja auch nichts Schlechtes, solange man die Fremden nicht für die eigene Hoffnung missbraucht.» «Das Konzept» bedauerte, auf meinen Wunsch nicht mehr Informationen zu meiner Person weitergeben zu können, weil man diese «gerne den voreiligen Qualifikationen wie ‹Polittourist› entgegengehalten» hätte.

In jenen Jahren lebte ich in einem der ausufernden Holzlatten- und Wellblechquartiere von Managua. Der Vater meiner nicaraguanischen Frau war Zimmermann. Ihre Mutter verkaufte auf der Strasse Schweinefleisch aus einer Schiebkarrette mit eiernden Holzrädern. Der Grossteil der Verwandten lebte als Campesinos und Campesinas in Villa del Carmen auf dem Land. Mein Schwager, ein Lastwagenfahrer, hatte mit «adoquines», mit Pflastersteinen, die noch aus Somozas Fabriken stammten, während des Befreiungskampfes Barrikaden gebaut. Einmal war, auf der Suche nach diesem Schwager, eine Patrouille der Nationalgarde ins Haus gedrungen und hatte mit vorgestreckten Galil-Gewehren meine spätere Frau bedroht, die ihn versteckt hatte. Zwei Jahre nach der Machtübernahme der Sandinisten, für die er Kopf und Kragen riskiert hatte, entschloss sich dieser Schwager wie viele zehntausend andere, mit «feuchtem Rücken» (espalda mojada), illegal über die Grenzflüsse in die Vereinigten Staaten zu gehen.

Warum liess ich es bleiben, solche Dinge klarzustellen?

Natürlich hatte ich überlegt, diesen Hintergrund meiner Skepsis darzulegen. Am Ende war mir die Sache - schlicht gesagt - zuwider. In Nicaragua verlangte eine politische Kommission einen «aval politico» von mir, eine Art ideologischen Persil- oder Passierschein, obwohl mir von Gesetzes wegen, aufgrund meiner Heirat, eine Aufenthaltsgenehmigung im Land gar nicht verwehrt werden konnte. Niemand aber wagte es, jenen Politkommissär zu bremsen. Es brauchte sage und schreibe die Intervention des nicaraguanischen Vizepräsidenten Sergio Ramírez, um den Unfug zu stoppen. Und aus der Schweiz, so empfand ich es damals, forderte man nun eine gleich geartete Lackmusprobe meiner unverdächtigen Gesinnung. Als Einzelmaske zwischen den Lagern, unabhängig, sollte einer offensichtlich seinen eigenen Kopf nicht gebrauchen.

Dem «Konzept» blieb ich treu - und die Redaktion ihrem fernen Schreiber. Als die Zeitung zur WOZ wurde, teilte man mir dies in einem Brief an alle «Internen» mit, was mich überaus rührte. Die Redaktion war endgültig ausgeklammert aus meiner Enttäuschung.

Die Macht und die Intellektuellen - Brecht, Benn und so weiter

Unter der Wirkung der Macht, und sei es selbst eine mit totalitären Zügen, in der Nähe charismatischer Führer verlieren Intellektuelle befremdlich oft den Boden unter den Füssen. Gottfried Benn, Gustaf Gründgens wären zu nennen, Bertolt Brecht, Maxim Gorki, Hermann Kant, Gabriel García Márquez, Günter Grass und so weiter - jeder in seiner eigenen, alles andere als einfältigen Prägung, jeder in seinen spezifischen, alles andere als leichtfertig zu beurteilenden Lebensumständen. Und doch trifft sie alle dieselbe eigentümliche Schwäche, wo sie plötzlich mithelfen, den Geist zu befestigen, statt das Ungesicherte der letzten Dinge aus- und offenzuhalten - gegen jede Usurpation der Mächtigen.

Nicaragua damals lieferte ein weiteres Beispiel für den eigenartigen Somnambulismus der Intelligenz in kritischen Phasen. «Wo man mitschwimmt, wird man halt nass», sagte einmal der damalige Kulturminister der SandinistInnen, Ernesto Cardenal, ein Mann, der gewiss in manchem Tümpel steckte. Soll man es bei diesem Achselzucken bewenden lassen? Vielleicht, solange man nicht hinschaut, von welcher Farbe dieses Nass ist. Denn da liegen 30000 Tote, Opfer des sogenannten Contra-Krieges, 30000 Namenlose. Und da steht - heute noch - der Kriegskrüppel vor den Hallen des Marktes Roberto Huembes in Managua, eine Anlage, die Somoza konzipiert und die Sandinisten schliesslich erstellt hatten, ein armer Hund, den die Geschichte «in ihren Strudel gerissen hatte», wie es so schön heisst - und bettelt um Almosen.

Es ist verwunderlich, welche Temperatur heute noch aus diesen Erinnerungen steigt, als wäre der Herd darin nie wirklich ausgeglüht: das uralte Dilemma, die immer gleiche intellektuelle Krise oder Not, sich an einer Weggabelung entscheiden zu müssen - nach links oder nach rechts? Wenn man doch ganz genau weiss, wie unredlich es ist, sich zu entscheiden, wie fatal das wird. Denn an diese Weggabelung hätte man sich niemals aus freien Stücken gestellt. Gut 25 Jahre sind vergangen seither. Und noch immer ist diese Temperatur in den vergilbten Papieren, in den alten Artikeln, Depeschen und Briefen. Ich wünsche, sie werde nie daraus entweichen.


Max Dohner, Schriftsteller und Journalist, war freier Mitarbeiter für das WOZ-Vorgängerprojekt, die StudentInnenzeitung «Konzept». Heute schreibt er für die «Aargauer Zeitung». Er erhielt mehrere Preise. Sein jüngster Roman heisst «Die sieben Alter der Liebe» (2006).