1956 und heute: Kádár und die Wende

Nr. 42 –

Wer waren eigentlich die Aufständischen? Was wollten sie? Warum hatte die Repression Erfolg – und welche Ziele verfolgen jene, die sich heute auf die Revolution berufen?

Für mich begann die Revolution nicht am 23., sondern schon am 6. Oktober 1956. Dies war fast genau der Tag, an dem vor sieben Jahren László Rajk und seine drei Genossen, darunter mein Freund Tibor Szönyi, hingerichtet und ihre Leichen in unmarkierten Gruben verscharrt worden waren. Im Einverständnis mit der Witwe Júlia Rajk beschlossen wir – die Überlebenden – und die Leitung des Schriftstellerverbandes, die feierliche Neubestattung der Gehenkten zu organisieren. Die Nachricht verbreitete sich blitzschnell in der Opposition, und am 6. strömten hunderttausend zur ersten spontanen Massenkundgebung seit 1949; es war eine Demonstration gegen Tyrannei und Stalinismus. Ich hielt die Ehrenwache vor dem Sarg Szönyis und folgte der Rede meines ehemaligen Mithäftlings Béla Szász («Wir wollen hier zugleich eine Ära begraben und für immer die Unterdrückung und die Toten der schändlichen Jahre zu Grabe zu tragen») und hörte die Stimmen aus der Menge: «Lasst uns auch das verlogene System beerdigen!» Nur siebzehn Tage danach brach die Revolution aus.

Die erste Phase wurde von antistalinistischen KommunistInnen vorbereitet und in Gang gesetzt. Die StudentInnen waren Mitglieder des kommunistischen Jugendverbandes; ihre BeraterInnen waren kommunistische Oppositionelle und Professoren; der von ihnen zum Führer gekürte Imre Nagy war ein Reformkommunist, und ihr Ideal war eine freiheitlich-sozialistische ungarische Gesellschaft. Dieses Ziel – ein ungarischer Sozialismus – wurde in den folgenden Tagen, als sich Hunderttausende aus allen Schichten der Bevölkerung anschlossen und Gewalt und Gegengewalt einsetzten, zwar diffuser; doch es kehrte sich nie in eine antisozialistische Konterrevolution. Auch in den letzten Tagen, als Nagy sich gezwungen sah, Vertreter der bürgerlich-demokratischen Parteien in seine Regierung aufzunehmen, war nie der Ruf zu hören, den Kapitalismus zu restaurieren oder gar das Rákosi-System durch ein Regime wie das von Miklós Horthy zu ersetzen [Horthy, ein autoritärer, antisemitischer Monarchist, hatte Ungarn von 1920 bis 1944 regiert, d. Red.].

Linke Ansätze

Selbst am 30. Oktober, nach einer Woche Revolution, erwog die Sowjetführung, auf Nagys Kompromissvorschlag einzugehen, der Verhandlungen über einen sowjetischen Truppenabzug vorsah. Doch am selben Tag fiel mit der US-amerikanischen Note, sich nicht in die ungarischen Ereignisse einmischen zu wollen (vgl. «Die kurzen Tage der Hoffnung» ), das letzte Hindernis für ein Nachgeben – die Sowjetarmee setzte sich in Gang. Als Nagy am 1. November von den Truppenbewegungen erfuhr, fasste er eine noch heute unerklärbare Entscheidung und verkündete den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität des Landes. Dies besiegelte das Schicksal der Revolution, im Morgengrauen des 4. November weckte mich der Kanonendonner der Sowjetinvasion.

Der heraufbeschworene Geist der Revolution konnte nicht so rasch unterdrückt werden. Der bewaffnete Widerstand wurde zwar in ein, zwei Wochen erstickt, doch mit den sozialistisch-demokratischen Institutionen hatte die von Moskau eingesetzte Quisling-Regierung von János Kádár viel Mühe. StudentInnen, Schriftsteller und Journalistinnen schlossen sich zum Revolutionären Rat der ungarischen Intellektuellen zusammen und forderten den Abzug der Sowjettruppen und eine neue Regierung mit Nagy an der Spitze. An meinem Arbeitsplatz, dem Europa-Verlag, gab es niemanden, der diesen Forderungen nicht zustimmte, nicht einmal die Leitung unserer Parteiorganisation. Mächtiger war der Zentrale Arbeiterrat von Budapest, ein Zusammenschluss aller Fabrikarbeiterräte in der Stadt. Er forderte die Beibehaltung der sozialistischen Grundlage (und dass das vergesellschaftete Eigentum von den Belegschaften kontrolliert werden müsse) und organisierte Streiks und Demonstrationen, die schon bald auf die grösseren Städte und Industriezentren in der Provinz übergriffen.

Kádár reagierte darauf mit dem Terror der Vergeltung. Von Anfang 1957 bis Ende 1959 wurden die revolutionären Räte aufgelöst und viele Intellektuelle und Arbeiterführer verhaftet. Es kam zu nahezu 400 Todesurteilen und 35 000 Gefängnisstrafen und Internierungen; Hunderte wurden in die Sowjetunion verschleppt. Der Höhepunkt war der bekannte Geheimprozess gegen Imre Nagy im Februar 1958: Er und seine engsten Mitarbeiter wurden gehängt.

Die Wende

Ab Anfang 1960 folgte dem Terror eine dreissig Jahre währende Strategie der repressiven «Befriedung»: Die offene Unterdrückung liess nach, das Leben wurde leichter, das Feld der Freiheiten dehnte sich aus, das Volk versöhnte sich mit Kádár gemäss dessen Motto «Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns». Die überwiegende Mehrheit zahlte gern den Preis (der Aufstand von 1956 und die Person Imre Nagy waren tabu) für mehr Freiheit in der Privatsphäre. Diese Entpolitisierung liess die Revolution im Bewusstsein der Bevölkerung verblassen, auch wenn Begriffe wie «Brüderliche Hilfe der Sowjetunion» nie angenommen wurden. Aber alle hielten es für besser, nicht hinzuhören: Das Ganze war ohnehin eine Sache «der dort oben»; daran zu rütteln würde nur das zufriedene Leben gefährden. Erst mit der Krise der sozialistischen Wirtschaft und den chaotischen Ereignissen in Polen und besonders in der Sowjetunion ab Mitte der achtziger Jahre begann der Auflösungsprozess des Systems. Er endete in März 1990 mit den ersten freien Wahlen seit 1947 – und dem katastrophalen Ergebnis für die bis dahin regierende Partei: Sie bekam fünf Prozent der Stimmen.

Schon zuvor hatte eine neue Opposition der Erinnerung an den Aufstand von 1956 zu einem vorerst noch schüchternen Platz verholfen: Am 16. Juni 1988, dem 30. Jahrestag der Hinrichtung von Nagy, beteiligten sich 400 Personen an einer Kundgebung – damals war Kádár noch eine hoch geachtete Person. Im Januar 1989 taufte eine für die Parteigeschichte zuständige Historikerkommission den Begriff «Gegenrevolution» in «Volksaufstand» um, am 16. Juni 1989 wurde Nagy in Anwesenheit von 350 000 Menschen feierlich umgebettet. Am selben Tag starb Kádár. Mit ihm endete die 44-jährige Nachkriegsgeschichte Ungarns.

Persönliche Erinnerungen

Für mich war die Hoffnung auf einen revolutionären freiheitlichen ungarischen Sozialismus schon am 4. November 1956 gestorben. Die Lügen der alt-neuen Quislinge über «Terroristen und Banditen der Gegenrevolution» und über die «brüderliche Hilfe der Sowjetunion» schnürten mir den Hals zu, ich konnte nicht atmen in dem von Kádár und den Sowjetgenerälen organisierten Terror. Ich musste weg aus Ungarn. Am 2. Februar 1957 überschritten wir die Grenze. Noch am Vortag wanderte ich durch die Strassen von Budapest, prägte mir die von Sowjetkanonen zerschossenen Häuser und die an Strassenkreuzungen und vor öffentlichen Gebäuden stationierten Sowjetpanzer ein, damit ich nie Heimweh empfinden würde.

In Wien reichten wir Einwanderungsgesuche in die Schweiz und nach Amerika ein, doch beide wurden abgewiesen. SozialistInnen waren unerwünscht, meine fünf Jahre Haft im stalinistisch-kommunistischen Gefängnis blieben unberücksichtigt. Nach zwölf Jahren rief man mich unerwartet ins US-Konsulat in Wien und bot mir das Einreisevisum an. Die McCarthy-Zeit sei vorbei, erklärte mir der Konsul, auch aus Exkommunisten könnten anständige Menschen werden.

In Kalifornien baute ich mir eine zweite Existenz auf. Doch das Leben bringt manchmal unerwartete Wendungen. Nach dreissig Jahren in den USA starb Marta, meine Frau; ich war einsam und beschloss, nach Ungarn zurückzukehren. Jetzt bin ich glücklich in diesem unglücklichen Land mit einer kulturellen Atmosphäre, die jene von Los Angeles weit übertrifft, und mit Judit, meiner zweiten Frau.

1956 heute

Vor ein paar Monaten stellte ich mir die Frage, welche Bedeutung 1956 für das heutige Ungarn habe, und kam zu der Antwort: keine. Die Ereignisse damals waren zu einem nationalen Feiertag erstarrt – ähnlich wie der 15. März, der Gedenktag an die Revolution von 1848, oder der 20. August, an dem vor tausend Jahren der ungarische Staat gegründet wurde.

Doch im September 2006 begann ich mein Urteil zu revidieren. Die Demonstrationen der RechtsextremistInnen und ihrer zahlreichen Gefolgschaft von Aufgehetzten riefen mir das Buch «Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte» von Karl Marx in Erinnerung: Alle wichtigen Geschehnisse der Weltgeschichte tauchen zweimal auf – zuerst als Tragödie, dann als Farce. In der Wiederholung, schrieb Marx, beschwören die Menschen «die Geister der Vergangenheit» und «entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen».

Genau das geschah am 18. September in Budapest vor dem Parlamentsgebäude und in der Fernsehzentrale. UltranationalistInnen schwangen die Fahnen alter ungarischer Stämme, NeofaschistInnen skandierten antisemitische Losungen, Jugendliche paradierten vor Fernsehkameras der ganzen Welt – und fühlen sich als Kinder und Enkel von 1956.

Seit dem Sieg der rechtsoppositionellen Fidesz-Partei bei den Lokalwahlen Ende September hat deren populistischer Führer, der machthungrige und skrupellose Viktor Orbán, seine Bemühungen verstärkt, eine Bevölkerung zu mobilisieren, die grossteils der Meinung ist, dass die Wende von 1989 nur Privatisierung gebracht habe – aber keinen wirklichen Wandel. Er verweist auf 1956 und fordert ein auf populistische Volksabstimmungen basierendes Demokratiemodell, natürlich mit ihm als autokratischem Führer an der Spitze.

Sein gefährlicher Populismus hat mit dem, was wir damals wollten, nichts gemein – aber seine Anrufung des 23. Oktober 1956 scheint vielen Menschen in der aktuellen Krisensituation eine bestrickend einfache Alternative zu bieten.