Philippinen: Das Standardwerk

Nr. 46 –

Im September fällte der Oberste Gerichtshof der Philippinen ein höchst widersprüchliches Urteil. Er gab einerseits den seit viereinhalb Jahren streikenden 600 Nestlé-ArbeiterInnen von Cabuyao Recht. Diese haben, so stellte das Gericht fest, einen Anspruch darauf, dass Nestlé Philippines ihre Gewerkschaft - die Union of Filipro Employees (UFE) - als Verhandlungspartnerin anerkennt, mit ihr (wie es das Gesetz vorsieht) einen Gesamtarbeitsvertrag aushandelt und die umstrittene Frage der betrieblichen Altersvorsorge regelt (siehe WOZ Nr. 14/06). Im selben Urteil aber kam das Gericht zum Schluss, dass die Nestlé-Tochter mit ihrer jahrelangen Ablehnung jedweder Verhandlungen nicht gegen das Gesetz verstossen hat - und das, obwohl die Rechtslage eindeutig ist.

Was ist das für ein Land, dessen oberste Richter mächtigen Investoren hofieren? In dem die letzten beiden Vorsitzenden der UFE ermordet wurden (niemand sucht ernsthaft nach den Tätern) und der heutige UFE-Präsident ständig den Wohnort wechseln muss? In dem es immer wieder zu breiten Volksbewegungen kommt - und die politische Linke so schwach ist? Und in dem sich trotz Staatsterror eine muslimische Unabhängigkeitsbewegung halten kann?

Eine Antwort auf diese Frage bietet das neue «Handbuch Philippinen». In diesem Buch - unter anderem herausgegeben von WOZ-Korrespondent Rainer Werning - schildern und analysieren rund zwanzig AutorInnen (sie alle sind in der deutschen Philippinen-Solidarität aktiv) die historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründe. Sie beschreiben, welche Folgen die Eroberung des über 7000 Inseln umfassenden Archipels durch die USA Ende des 19. Jahrhundert hatte (ein Sechstel der Bevölkerung starb dabei), wer im Zweiten Weltkrieg Widerstand gegen die japanische Invasion leistete (eine breite Bewegung unter Führung der KommunistInnen) und wie die USA später mit dieser Guerilla umgingen, die auch noch die philippinische Oberschicht bekämpfte. Sie erzählen, wer den Sturz des langjährigen Diktators Ferdinand Marcos herbeiführte, welche Repressions- und Wirtschaftspolitik seine NachfolgerInnen von Corazón Aquino bis zu Gloria Macapagal-Arroyo verfolgten und verfolgen, was für Lebens- und Arbeitsbedingungen auf den Plantagen und in den Fabriken der Multis herrschen und wo sich Widerstand regt. Jeder denkbare Aspekt wird angesprochen: die Prostitution ebenso wie der Journalismus, die Biopiraterie wie die Migration, die Lage der Behinderten wie die Privatisierung der Wasserversorgung von Manila, die zu enormen Preiserhöhungen und zur Entlassung von zwei Dritteln der Beschäftigten führte.

Die AutorInnen sparen auch nicht mit Kritik an der einst maoistisch orientierten Linken. Diese hatte sich 1973 unter Führung der Kommunistischen Partei zur nationaldemokratischen Front zusammengeschlossen (selbst Teile der katholischen Kirche traten bei), führte einen punktuell erfolgreichen «Volkskrieg» gegen Marcos’ Kriegsrecht - und scheiterte schliesslich an einer «fatalen Verkettung von Überheblichkeit, Panik und strategischen Fehlurteilen».

Schade, dass es ähnlich informative Standardwerke zu anderen Gesellschaften und Staaten derzeit nicht gibt.

Niklas Reese und Rainer Werning (Hrsg.): Handbuch Philippinen - Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur. Horlemann Verlag. Bad Honnef 2006. 381 Seiten. Fr. 26.80