Sierra Leone: Langsam wackelts stärker

Nr. 32 –

Seit mittlerweile fünf Jahren herrscht Friede im ehemaligen Bürgerkriegsland. Doch im Osten des westafrikanischen Landes, wo 1991 der Krieg begann, mehren sich die Konflikte.

Pulverfeine Sandstrände, so weit das Auge reicht, ein türkis schimmerndes Meer, Inseln mit so fremdenverkehrstauglichen Namen wie Banana oder Turtle Islands, geschichtsträchtige Orte, die von Versklavung und Befreiung sprechen. Dazu im Zentrum der Hauptstadt bezaubernde Holzhäuser in Südstaaten- und Karibikarchitektur, die Freetown zu einem Juwel unter den Städten Afrikas machen könnten. Doch tatsächlich reissen die Besitzer-Innen ihre rottenden Holzhäuser ab und ersetzen sie durch gesichtslose Betonbauten. BesucherInnen, die das an Schönheiten reiche Land bereisen, hat das Land schon lange nicht mehr gesehen. Dabei kamen einst jährlich bis zu 30 000 TouristInnen hierher, die meisten aus Britannien und Frank-reich. Aber das war vor dem Bürgerkrieg von 1991 bis 2002 gewesen, in dem schätzungsweise 50 000 Menschen starben.

Favorit mit Vergangenheit

Wenn die Bevölkerung des bald sechs Millionen EinwohnerInnen zählenden westafrikanischen Landes am 11. August zum zweiten Mal seit Ende des Kriegs einen Präsidenten und ein Parlament wählt, wird es auch dar-um gehen, was einmal war. Die Regierung unter dem scheidenden Präsidenten Ahmad Tejan Kabbah könnte zur Rechenschaft gezogen werden dafür, dass Sierra Leone nach fünf Jahren Frieden auf praktisch allen internationalen Ranglisten noch immer sehr schlecht abschneidet. So rangiert es auf dem von den Vereinten Nationen erstellten Human Development Index auf Platz 176 von insgesamt 177 Plätzen. Auf dem Korruptionsindex der Organisation Transparency International ist es innerhalb des vergangenen Jahres nach unten gerutscht, auf Rang 142 von 163. Achtzig Prozent der SierraLeonerInnen leben in Armut.

Nach seinem Wahlsieg 2002 hatte Präsident Kabbah versprochen, alles dafür zu tun, damit bis zum Jahre 2007 «kein Sierra-Leoner mehr hungrig zu Bett gehen» müsse. Mittlerweile glauben jedoch BeobachterInnen, dass Sier-ra Leone nicht einmal das Uno-Milleniumsziel erreichen wird, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren.

Dass Kabbah eigenmächtig seinen Vize Solomon Berewa zum Präsidentschaftskandidaten und damit potenziellen Nachfolger bestimmte, hat die Regierungspartei SLPP, die Sierra Leo-ne People's Party, gespalten. Aus Verärgerung über Kabbahs Eigenmächtigkeit gründete der Politveteran Charles Margai Anfang 2006 eine eigene Partei, das People's Movement for Democratic Change (PMDC), das nun neben dem All People's Congress (APC) die stärkste oppositionelle Kraft darstellt.

Trotzdem gilt Berewa als Favorit. Der international renommierte Jurist führt nach Einschätzung des Think-tanks International Crisis Group ohnehin seit langem die Staatsgeschäfte. Er sei der «Hauptansprechpartner für Geber» und habe «praktisch die Kontrolle über den Wiederaufbau nach dem Krieg» gehabt. Das jedoch macht die SLPP bei den Wahlen angreifbar. Denn obwohl es Fortschritte im Land gibt, spürt die Mehrheit der Bevölkerung sie nicht.

Mehr Mädchen in den Schulen

«Woran erkennt man, dass man in Freetown ist?» Der Sierra-Leoner Melville Marke ist ein Mann von 76 Jahren, der während des Kriegs floh und nun nach zehn Jahren zum ersten Mal zurückgekehrt ist. Er wiederholt gern diesen häufig gehörten Witz, dessen Pointe ist: «Alles wackelt.» Die Häuser beben, weil unzählige Stromgeneratoren das nicht vorhandene Stromnetz ersetzen müssen; aus den wenigen Leitungen tropft nur unregelmässig Wasser. Wie anders es einmal war, erzählen Marke und seine Töchter Lesley und Tracy auf der Fahrt zu ihrem ehemaligen Haus in Freetowns Vorort Hamilton. Für die kurze Strecke von achtzehn Kilometern geht es eine Stunde lang über roten Sand und durch tiefe Schlaglöcher, und man glaubt dem alten Herrn kaum, dass hier in den siebziger Jahren Autos mit sechzig Stundenkilometern über eine geteerte Strasse fuhren.

Und doch hat die Regierung Fortschritte vorzuweisen. Sie hat Schulen gebaut und mehr Mädchen in die Schulen gebracht, sodass heute insgesamt mehr Kinder die Grundschule besuchen als in den Jahren kurz vor dem Krieg. Die Strassen werden allmählich ausgebessert. Das Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahre lag bei fast sieben Prozent, die gewalttätige Kriminalität ist niedrig. Zu den teilweise erfolgreichen Bemühungen, den Frieden zu festigen, gehörte die Einrichtung eines Sondergerichtshofs sowie einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. In ihrem Abschlussbericht von 2004 benennt die Kommission die grossen Probleme des Landes, die grundsätzlich dieselben sind wie vor dem Krieg: Korruption und Armut, eine Jugend ohne Hoffnung (die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei achtzig Prozent), schlechte Regierungsführung, ein repressives politisches System mit autokratischen, auf Lebenszeit gewählten Regionalfürsten, den sogenannten Chiefs.

Tot oder abwesend

Der Sondergerichtshof hat das Mandat, jenen den Prozess zu machen, «welche die grösste Verantwortung für schwere Verletzungen des internationalen humanitären Rechts tragen». Doch die wichtigsten der ohnehin nur dreizehn Angeklagten sind tot wie Foday Sankoh, Anführer der besonders grausam agierenden Rebellentruppe Revolutionary United Front (RUF), oder Sam Hinga Norman, Chef der auf Regierungsseite kämpfenden Kamajor-Milizen. Beide starben in der Haft; Sankohs psychopathischer Kommandeur Sam Bockarie wurde in Liberia erschossen. Oder sie sind abwesend: Ein Militärführer ist abgetaucht und womöglich tot, und der Liberianer Charles Taylor wurde an den Internationalen Strafgerichtshof von Den Haag überstellt, weil schon seine Anwesenheit in Sierra Leone zu grosser Unruhe in der Bevölkerung geführt hatte.

Dass Taylor, dem ehemaligen Präsidenten des Nachbarstaats Liberia, nicht - wie ursprünglich geplant - vor dem Sondergerichtshof in Sierra Leone der Prozess gemacht wird, zeigt, wie fragil die Verhältnisse bis heute sind. Schwerwiegender noch ist, dass die Ursachen für den Krieg nicht vollständig beseitigt sind: Die Rebellen der RUF mordeten und verstümmelten viele Menschen, aber ihre Forderung nach Gerechtigkeit für die Armen fand trotzdem Gehör bei Tausenden arbeitsloser und ungebildeter Jugendlichen. Und desillusionierte Jugendliche gibt es nach wie vor in grosser Zahl - sie haben keine Aussicht auf Jobs, fühlen sich von der Politik vernachlässigt und gelten als eine der grössten Herausforderungen für eine nachhaltige Stabilisierung des Landes.

Diamanten für eine Tasse Reis

Wenn sich das nominell durchaus eindrucksvolle Wirtschaftswachstum der vergangenen zwei Jahre nicht bald in neuen Arbeitsplätzen niederschlägt, nützt es der Gesellschaft wenig. Um das Land, dem die internationale Gemeinschaft im Jahr 2006 Schulden in Höhe von 1,6 Milliarden Dollar erliess, von einem grossteils geberfinanzierten Staat zu einem mit eigenen Einkünften zu machen, sollen die Landwirtschaft, der Tourismus, vor allem aber der Abbau der Bodenschätze gestärkt werden. Das Dilemma dabei ist, dass Investor-Innen abwarten, ob sich der Frieden stabilisiert; je länger sie jedoch warten, desto grösser werden die Spannungen im Land, weil die Menschen keine Fortschritte erkennen.

Die durch Blutdiamanten in Verruf gekommene Diamantenindustrie ist immer noch der grösste Wirtschaftsfaktor. ExpertInnen sind sich nicht einig darüber, wie erfolgreich der 2003 begonnene Kimberley-Prozess wirklich ist, der mittels Zertifizierung den illegalen Diamantenhandel verhindern soll. Im Fall von Sierra Leone war der Diamantenschmuggel ein massgeblicher Motor für den Krieg gewesen. Konsens herrscht dagegen darüber, dass das zweite grosse Problem der Diamantenwirtschaft bis heute unverändert besteht: Der Reichtum aus dem Handel mit Diamanten kommt nicht den einfachen Schürfern zugute, die teilweise für eine Tasse Reis am Tag arbeiten.

Befürchtungen, dass das Land den Übergang zu einem stabilen Frieden nicht schaffen könnte, mehren sich, seit Anfang 2007 eine Serie von Brandstiftungen Dörfer im Osten des Landes überzog. Täter und Motive liegen im Dunkeln, aber BeobachterInnen führen sie auf Spannungen zwischen der Regierungspartei SLPP und der oppositio-nellen PMDC zurück. Die Brisanz dieser Brandstiftungen liegt darin, dass in eben jener Region mit ähnlichen Übergriffen 1991 der Bürgerkrieg begann.

Seit Beginn des Wahlkampfs häufen sich ausserdem Meldungen über Einschüchterungen und Gewaltakte. «Wir sehen diese Entwicklung mit der grössten Besorgnis», erklärten die Vereinten Nationen am vorletzten Wochenende. «Sie richtet sich gegen die Interessen der Bevölkerung von Sierra Leone, die friedliche, freie und glaubwürdige Wahlen will», hiess es in dem Statement. Und die International Crisis Group warnt, dass «Parteien in der Vergangenheit die starke Tendenz gezeigt» hätten, «arbeitslose Jugendliche als Schläger zum Zweck der Einschüchterung zu rekrutieren». Parteien könnten sich nun möglicherweise «direkt an Exmilizionäre wenden, die leicht remobilisierbar sind».

Die Jüngere will zurück

Melville Marke und seine Töchter sind auf der Fahrt zurück aus dem Ort ihrer Vergangenheit ins Freetown von heute. Sie gehören zu den Privilegierten des Landes, welche die Freiheit haben, selbst zu bestimmen, ob sie in Sierra Leone leben wollen oder nicht. Der alte Mann will nicht. Er wird noch vor den Wahlen abreisen und will nie mehr zurückkehren. Auch die ältere Tochter hängt an ihrem Leben in England, das sie einschätzen und planen kann. «Hoffnung für -Sierra Leone?», fragt sie und wendet sich ihrer jüngeren Schwester zu: «Hoffnung, das ist deine Abteilung.» Die Jüngere kann es nicht erwarten, nach Sierra Leone zurückzuziehen. Sie verweist auf die kleinen Verbesserungen, zeigt auf Strassenkehrer am Wegrand, spricht von der neuen Müllsammlung im Stadtzentrum, bei der Jugendliche beschäftigt werden, und von der Polizei, die sich ordentlich benehme. «Ich bin hier zu Hause», sagt sie. «Die Menschen sind wärmer als in England. Ich eröffne ein kleines Geschäft. Es wird aufwärtsgehen.»

Krieg um Macht und Diamanten

Korruption und Misswirtschaft, Diamantenhandel und Ausbeutung, der Einfluss liberianischer Kriegsherren, der Kampf um Ressourcen, ausländische Söldner, mehrere Putsche und schliesslich eine britische Intervention - all dies kennzeichnete den Bürgerkrieg von Sierra Leone, der 1991 begann. Schon zuvor hatte sich die Lage zugespitzt: 1985 rief die Regierung den Notstand aus, ohne jedoch ihre radikalen GegnerInnen - unter ihnen viele Studierende - besänftigen zu können. Die erhielten mit Unterstützung von Libyen eine Kampfausbildung im libyschen Bengasi. Praktische Erfahrung sammelten sie während des Bürgerkriegs im benachbarten Liberia. In den an Liberia grenzenden östlichen Regionen begann denn 1991 auch der Angriff auf die Regierung.

Geführt wurde er von der Revolutionary United Front (RUF) unter Foday Sankoh, die die Masse der unzufriedenen Bauern gewinnen wollte. Doch die zunehmende Brutalität (Entführungen, Zwangsrekrutierungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen) verhinderte einen solchen Schulterschluss. Dennoch gelang es den Rebellen, die Städte und Diamantenminen im Osten zu erobern, und ihre Einkünfte gingen nun an die RUF und den liberianischen Kriegsherrn Charles Taylor.

1992 stürzte die Regierung von Sierra Leone. Bis 1996 herrschte eine Militärjunta, die mithilfe der südafrikanischen Söldnerfirma Executive Outcomes (EO) die Diamantenminen im Osten zurückerobern konnte. Die Wahlen im selben Jahr gewann der heutige Präsident Ahmad Tejan Kabbah, der mit der RUF ein Friedensabkommen schloss. Er wurde jedoch 1997 von der Armee weggeputscht, die nun mit der RUF gemeinsame Sache machte - bis 1998 nigerianische Truppen im Rahmen der Westafrikanischen Streitkräfte Ecomog intervenierten und gemeinsam mit der britischen Söldnerfirma Sandline die Militärjunta zerschlugen und die RUF zurück in die Wälder drängten.

Im Jahr darauf - Kabbah war aus dem Exil in Guinea zurückgekehrt - griff die RUF erneut die Hauptstadt Freetown an. Bei den Gefechten starben rund 5000 Menschen. Dem Sieg der Ecomog folgte ein Friedensabkommen, das ab 2000 von Uno-Truppen überwacht werden sollte. Nach Entführungen von britischen Soldaten intervenierte ein britisches Sonderkommando. Foday Sankoh wurde gefasst; 2001 begann die Entwaffnung der RUF. Offiziell endete der Krieg im Januar 2002.

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