Discounter: 1400 Mal muss es piepsen

Nr. 33 –

Der deutsche Konzern Aldi eröffnet in der Schweiz Filiale um Filiale. Die billigen Preise sind nicht das einzige Erfolgsrezept – Aldis Kassenpersonal ist das schnellste im ganzen Land. Weshalb?

An der Coop-Kasse ist die Schlange vor dem Verkäufer Werner B. die längste und doch die effizienteste. Auf die Frage, weshalb er so schnell sei, antwortet er lachend: «Ich habe zuvor bei Aldi gearbeitet.» Während er Ware um Ware rasant am Scanner vorbeizieht, erzählt er, dass Aldi eine Überwachungssoftware einsetze. Damit werde an der Kasse die Scanleistung des Verkaufspersonals gemessen. «Den Langsamen droht Aldi mit der Kündigung.»

Vorletzte Woche hat der deutsche Discounter in der Schweiz seine 37. Filiale eröffnet. Laut Pressesprecher Sven Bradke will Aldi auch hierzulande «ein regionaler Nahversorger» werden, das heisst: Das Schweizer Filialnetz soll – möglichst noch vor Lidl, dem anderen Discounter aus Deutschland – flächendeckend ausgebaut werden. Die Besitzer von Aldi sind zwei hochbetagte Multimilliardäre, die Brüder Karl und Theo Albrecht. Sie figurieren auf der Weltrangliste der zwanzig reichsten Männer.

Ihr Erfolgsrezept ist einfach. Es lautet: Kostenoptimierung auf allen Ebenen. Ausschliesslich Eigenmarken, dünnes Sortiment aus 600 fixen und 100 wechselnden Aktionsprodukten, an Quantität orientierter Umsatz, Dumping der Lieferantenpreise, flexible Personalverwaltung, tiefe Lohn- und Verwaltungskosten, kombiniert mit dem Einsatz modernster Informationstechnologie. Alle Filialen sind standardisiert, weltweit: vom Dachziegel über die Anordnung der Verkaufspaletten und die Anzahl der Angestellten bis hin zu den Putzmaschinen, sogar die Kundenparkplätze sind überall gleich gross.

Das Handelsprinzip des Discounters verfolgt ein Management, das weiche Faktoren zu harten macht. Zu den weichen zählen objektiv nicht quantifizierbare Grössen, die sich auf den Erfolg eines Unternehmens auswirken, zum Beispiel die Launen des Personals. Störfaktoren wie Gewerkschaftsarbeit oder Kritik in den eigenen Reihen sind unerwünscht.

Aldi tut sich schwer mit dem Arbeitsrecht. Schweizer Gewerkschaften sprechen von einer Verwilderung der Arbeitssituation. In einem von der Unia im Juli dieses Jahres publizierten Benchmarking der Arbeitsbedingungen im Detailhandel bildet Aldi mit Denner das Schlusslicht. Die Unia moniert, dass im Detailhandel zunehmend die Würde der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedroht sei, und stellt fest, dass viele Angestellte behandelt würden, als seien sie eine Ware.

Der ehemalige Aldi-Kassier Werner B. erzählt, was darunter zu verstehen ist: Obwohl um 20 Uhr Ladenschluss gewesen sei, habe er oft bis Mitternacht Gestelle auffüllen, Paletten ausrichten, Reinigungsarbeiten ausführen müssen. Mehrmals sei er darauf in der Morgenschicht eingeteilt gewesen und habe um 6 Uhr wieder im Laden stehen müssen. «Alles war unberechenbar, ich war total erschöpft und konnte überhaupt kein geregeltes Privatleben mehr führen.» Der Umgangston der Vorgesetzten sei militärisch gewesen und «unmenschlich». Und als Aldi in der Presse Negativschlagzeilen machte, habe der Discounter seinen Angestellten ein Redeverbot auferlegt. Wenn die Presse vorbeikam, seien den Mitarbeitenden Zettel ausgehändigt worden, auf denen stand, was sie sagen dürften. Werner B. hat die unwürdige Behandlung und den Stress nicht mehr ausgehalten. «Schliesslich habe ich gekündigt.» Seither hat er dreimal vergeblich um ein Arbeitszeugnis gebeten. Doch man biete ihm bloss eine Arbeitsbescheinigung an.

Seit Aldi in der Schweiz ist, sind schon verschiedene Missstände aufgedeckt worden. Auch von Verletzungen der Persönlichkeitsrechte war in den Medien zu lesen. So berichteten Angestellte unter anderem, dass der Discounter von ihnen vertraglich verlange, ihren Vertrauensarzt vom Arztgeheimnis zu entbinden. Oder dass sie fristlos entlassen würden, wenn sie bei beobachteten Regelverstössen ihre ArbeitskollegInnen nicht denunzierten. Oder dass Aldi in ihren privaten Effekten und Fahrzeugen stichprobenmässig Diebstahlkontrollen durchführe. Alles Übergriffe auf die persönliche Integrität. Auch der eidgenössische Datenschutzbeauftragte klopfte Aldi auf die Finger: In einer überprüften Filiale waren nicht weniger als neun Überwachungskameras installiert, von denen zwei das Personal ständig bei der Arbeit filmten und die Aufnahmen speicherten.

Der Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, Paul Rechsteiner, schrieb im Mai dieses Jahres in einer Mitteilung an die Medien: «Wenn Aldi Suisse Verkäuferinnen grundsätzlich nur zu einem Pensum von fünfzig Prozent beschäftigt, um sich die Altersvorsorge und das BVG sparen zu können, die betroffenen Personen gleichzeitig zu Überstunden ohne Lohnzuschlag verpflichtet und eine 'Nebenbeschäftigung' als bewilligungspflichtig erklärt, dann handelt es sich um diskriminierende Knebelungsverträge, die nicht nur amoralisch sind, sondern auch elementaren arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen spotten.» (Vgl. unten «Lex Aldi».)

Die verlangte Verfügbarkeit, die Teilzeitanstellungsbedingungen und die Kontrolle der Angestellten, so, wie sie Aldi ausübt, haben indes System. Der Preisbrecher sorgt nicht nur für eine verschärfte Konkurrenzsituation im Detailhandel, sondern kurbelt auch die Deregulierung an. Denn im Discountgeschäft ist der Umgang mit dem «Kostenfaktor» Arbeitszeit wettbewerbsentscheidend. Zumindest in Deutschland verschafft sich das Unternehmen seinen Wettbewerbsvorteil unter anderem durch den Einsatz einer intelligenten Verwaltungssoftware des deutschen Herstellers Atoss. Sie heisst sinnigerweise «Time Control» und sei «die Lösung für mehr Effizienz rund um Personal und Arbeit». Atoss schreibt, dass es im «Produktivitäts-Duell den Erfolgsfaktor Personal in allen Aspekten zu meistern» gelte. Die Rolle der Software wird wie folgt beschrieben: «Blitzschnell erfassen, wer gerade was und wie lange macht, alle Daten umgehend auswerten, ins Lohn- und Gehaltsystem einspeisen und aussagekräftige Analysen liefern». Diese Funktionen sind entscheidend, denn, so schreibt der Hersteller: «Schlichte Anwesenheitskontrolle der Mitarbeiter genügt heute nicht mehr. Eine leistungsfähige Zeitwirtschaft erfordert universelle Transparenz». Unter universeller Transparenz versteht Atoss intelligente Technologien, die jederzeit einen «Überblick über den aktuellen Status» der Angestellten geben und zeigen, wie produktiv das Personal arbeitet. Die auf Microsoft Windows basierende «Komplettlösung für die Zeitwirtschaft» komme weltweit in 1500 Unternehmen zum Einsatz und erhöhe «tagtäglich die Effizienz der Mitarbeiter».

Die erfahrene Managementfrau und heutige Psychotherapeutin Ursula Brühwiler bezeichnet die Produktwerbung der Firma Atoss als «menschenverachtend»: «Es geht hier darum, Menschen zu Marionetten zu machen. Es ist eine Frage der Ethik, wo die Grenze der technischen Verwaltung des Menschen zu ziehen ist.» Die Verwendung der Software «Time Control» und die Teilzeitanstellung mit Konkurrenzverbot in Kombination mit Überzeit auf Abruf spielen zusammen. Denn die Software ist mit dem Kassensystem verlinkt und wertet die gemessene Scanleistung der KassierInnen stosszeitengerecht aus. Damit können die Einsätze des Personals «den schwankenden Kundenzahlen auch kurzfristig angepasst werden.» Mit anderen Worten: So lassen sich die VerkäuferInnen kurzfristig dann einplanen, wenn Umsatz zu erwarten ist. Durch die Automatisierung bleibe «mehr Zeit für die effiziente Steuerung des Personals». Das Personal zu steuern, klingt wie ein Programmierungsmodell, das auch in der Technologie der Gehirnwäsche seine Anwendung findet: Menschen so intensiv zu beschäftigen, bis sie keine Zeit mehr für sich selbst haben und deshalb so stark unter Stress kommen, dass sie nicht mehr selbst denken können.

Gemäss Aldi-Sprecher Sven Bradke kommt «Time Control» bei Aldi Suisse jedoch nicht zur Anwendung: «Unsere Filialleiter machen die Einsatzpläne von Hand.» Der ehemalige Verkäufer Werner B. widerspricht. Er sagt, auch Aldi Suisse führe auf Software gestützte Kontrollen und Optimierungen durch, zum Vergleich habe sein damaliger Chef entsprechende Scanleistungen aus Deutschland beigezogen, «die hat er den Angestellten vor die Nase gehalten». Am Abend habe man die persönlichen Scanleistungen unter den MitarbeiterInnen verglichen, die Langsamen seien gehänselt worden.

Ein Besuch in einer Zürcher Aldi-Filiale verdeutlicht die Aussagen Werner B.s. An der Kasse bestätigt die Verkäuferin Anita K.*: «Wir müssen mindestens 1400 Artikel pro Stunde und Kasse scannen.» Wer langsamer sei, werde zum Chef gerufen. Das sei unangenehm, denn dieser drohe mit Kündigung. Das Kassenpersonal werde dauernd von einem Computer überwacht, der ihre Scanleistung aufzeichne. Jeden Abend werde abgerechnet. «Auf dem Auszug steht meine Scanleistung schwarz auf weiss.» Alle seien bestrebt, die Limite nicht zu unterschreiten, aber manchmal gehe es einfach nicht schneller.

Aldi-Pressesprecher Sven Bradke kontert die Aussagen des Personals: Aldi setze keine Limite. Auch würden die Scanleistungen nicht als Druckmittel eingesetzt. «Aber wir trainieren unsere Leute auf Geschwindigkeit, das ist klar.» Das sei im Sinne eines effizienten Ablaufs und für beide Seiten von Vorteil: für die Kunden wie für das Personal. «So verkürzen wir die Wartezeiten. Das dient allen.»

In Stelleninseraten schreibt der Discounter: «Begeisterung und Freude sowie gelebte Unternehmenskultur sind für uns massgebliche Faktoren für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.» Das Unternehmen gibt sich auch sendungsbewusst: «Aldi Suisse hat im Herbst 2005 seine ersten Filialen eröffnet, um auch hier in der Schweiz Handelsgeschichte zu schreiben. Mit unseren qualitativ hochwertigen Produkten wollen wir den Schweizer Markt bewegen und die Konsumgewohnheiten der Menschen prägen.» Falls der Discounter seine Ziele erreicht, wird er nicht nur die Konsumgewohnheiten der Menschen prägen, sondern weltweit und auch in der Schweiz die Fliessbandarbeit neu definieren. Noch sagen die herausgeforderten Migros, Coop und Denner auf Anfrage, bei ihnen würden keine Scanningkontrollen durchgeführt. Die Personalkosten bei der Migros betragen fast 22, bei Coop 17 Prozent des Umsatzes. Bei Aldi sind es Schätzungen zufolge 3 Prozent.

* Namen geändert


«Lex Aldi»

Als Reaktion auf die «Aldisierung» der Arbeitswelt lancierte Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, die parlamentarische Initiative «Keine Knebelungsverträge für Teilzeitbeschäftigte». Anstellungen, die weder eine Vollbeschäftigung noch eine zuverlässige Planung des Privatlebens ermöglichen, dürfe das Arbeitsrecht nicht tolerieren. Aldi stellt seinen Angestellten hauptsächlich Teilzeitverträge aus bei gleichzeitiger Verpflichtung zur Leistung von Überstunden und dem weitgehenden Verbot einer Zweitbeschäftigung. Die nationalrätliche Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) hat die Problematik erkannt, will aber keine Klarstellung im Gesetz. Der Ball liegt nun beim Parlament. Felix Schöbi vom Bundesamt für Justiz, Bereich Arbeitsrecht, sagt unmissverständlich: «Allen Beteiligten ist klar, dass Arbeit auf Abruf und ein damit verbundenes Konkurrenzverbot ohne entsprechende Entschädigung bei Teilzeitanstellung nicht drinliegt.» Aldi-Sprecher Sven Bradke: «Arbeit auf Abruf kommt bei Aldi nicht vor. Wir bewegen uns im gesetzlichen Rahmen.»

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