Knapp daneben: Barcelona

Nr. 38 –

«Die Ellbogen sind am schlimmsten, denn Fusstritte sieht man sofort, aber die Schiedsrichter achten nicht auf die Ellbogen», erklärt Jack Mortimer dem Privatdetektiv Pepe Carvalho beim Abendessen. Der Engländer Mortimer ist der neue Mittelstürmer des FC Barcelona. Unmittelbar nach seiner Ankunft hat der Klub literarisch verfasste Drohbriefe erhalten, in denen Mortimers baldiger Tod angekündigt wird. Carvalhos Auftrag ist es, als Sportpsychologe getarnt, im Umfeld des Klubs nach dem Urheber der Briefe zu suchen.

Die Häufung von Joch- und Nasenbeinbrüchen und die zunehmende perfide Härte in Zweikämpfen sind heute Gegenstand sportmedizinischer Diskussionen und Regeldebatten. Manuel Vázquez Montalbán hat nicht nur diese Entwicklung schon früh erkannt. 1988, als «Schuss aus dem Hinterhalt» als Teil der Carvalho-Serie unter dem Originaltitel «El delantero centro fue asesinado al atardecer» erschien, war Barcelona erfasst vom vorolympischen Wahn. Es wurde spekuliert, abgerissen und gebaut, so auch in «Schuss aus dem Hinterhalt», wo der Grundstückwert des Kleinstadions die Existenz eines Drittligisten bedroht und zu Mord und Totschlag führt; Jahre später zeigen die Geschichten um den Verkauf von Reals Trainingsgelände und Atleticos Stadion an die Stadt Madrid, dass die Realität oft grotesker ist als die kühnste literarische Fantasie. Doch nicht nur seines fussballerischen und politischen Scharfsinns wegen ist Montalbáns Krimi ein idealer Begleiter für einen Besuch in der katalanischen Metropole. Feinschmecker Carvalho führt uns auf köstliche Spuren, und die Strassen und Plätze, auf denen bei Montalbán gedealt, angeschafft und getrunken wird, lassen sich zwei Jahrzehnte später auf ihre jüngste Geschichte untersuchen.

1985 war ich für einen Tag in Barcelona. Es reichte mir damals für einen Besuch des Camp Nou, in dem gerade ein Trainingsspiel der Ersten gegen die Zweite Mannschaft stattfand. Das Stadion war zu einem guten Drittel gefüllt, der Eintritt war frei. Victor «der Mann ohne Hals» Munoz, Bernd Schuster und Ramón Caldere vermassen den Platz, und 30000 durften zusehen. Heute kostet ein Rundgang durchs leere Stadion zwölf Euro, und wer sich mit Ronaldinho aus Karton ablichten lässt, zahlt extra. Heute wird gemolken. «Barça-Lyon schon ab 50 €!», frohlockt ein Plakat, und englische, japanische und Schweizer Touristen stehen Schlange. Für sieben Euro darf ich ins Klubmuseum, die Barça-3D-Show nicht inbegriffen.

In einem Antiquariat in der Altstadt habe ich tags zuvor die 50-Jahr-Chronik des FC Barcelona gefunden, der 1899 vom Winterthurer Hans Gamper gegründet wurde. Ich suche nach einem Abschnitt über die Klubfarben Blau und Rot. Auf Seite achtzehn steht: «Über den Ursprung der Klubfarben kursieren verschiedene Versionen, von denen jene die glaubwürdigste ist, wonach Gamper jene Farben wählte, die er in seinem ersten Schweizer Sportverein getragen hatte.» Im Museum selber nimmt die Würdigung Gampers einen zentralen Teil ein. Sie geht so weit, dass im Obergeschoss ein quadratmetergrosser Kartenausschnitt Winterthurs zu finden ist, mit einer Fotografie von Gampers Geburtshaus. Einen Hinweis auf die Klubfarben hingegen sucht man in allen Räumen und Vitrinen vergebens. Der in der Nordwestschweiz als Tatsache verklärte Mythos, Gampers kurzzeitiger Klub FC Basel sei der eigentliche Farbgeber des FC Barcelona, wird nirgends gestützt. Es lässt sich kein historisches Dokument finden, das die Farbwahl auf eine allfällige besondere Liebe Gampers zum Schweizer FCB zurückführt. Und selbst wenn es so wäre, müsste man am Rhein mit dem Umstand leben, dass der Mann, der die Farben des FCB nach Barcelona trug, Gründer und Ehrenmitglied des FC Zürich war.

Als Museumsbesucher darf ich ohne Aufpreis ein paar Meter im Hohlraum der Camp-Nou-Tribüne spazieren gehen. Rechts geht der Blick durch eine Öffnung ins Stadioninnere, direkt auf die mit gelben Schalensitzen geschriebene Barça-Losung «Més que un club» – ein viersilbiger Populismus, den Detektiv Carvalho zutiefst verachtet. Links im Halbdunkel sind zwei Lifttüren zu erkennen. Ich bleibe stehen. Es ist der Lift, dem wir eine der kuriosesten Geschichten verdanken, die der Fussball kennt: Champions-League-Final 1999, kurz vor Spielende. Bayern München führt gegen Manchester United mit eins zu null. Lennart Johansson, damaliger Uefa-Präsident, begibt sich von seinem VIP-Sessel zum Lift und fährt ins Erdgeschoss, um rechtzeitig zur Pokalübergabe bereitzustehen. Als er unten aussteigt, steht es eins zu eins, das Camp Nou kocht. Johansson geht zurück zum Lift, um sich in der Loge die Verlängerung anzusehen. Oben angekommen, steht es zwei zu eins für die United.

Die Liftfahrt Johanssons ist im Barça-Museum nirgends dokumentiert. Mit etwas Fantasie und geringem technischem Aufwand liesse sie sich aber für BesucherInnen nachstellen. Zehn Euro wäre das Erlebnis sicher wert. Wer mit Karton-Lennart fahren will, zahlt extra.