Nezahualcóyotl: Die Selfmade-City und das Laboratorium

Nr. 23 –

Von der Wüste zu den Zeugen Jehovas.

Der Osten von Mexiko-Stadt ist von jeher Armenland und Grenzgebiet: Östlich des Stadtzentrums liegt die Gemeinde Iztapalapa mit ihren zwei Millionen EinwohnerInnen, sie ist die bevölkerungsreichste im Hauptstadtbezirk Distrito Federal. Ihre Nachbarin im Osten ist die Ciudad Nezahualcóyotl, in der mindestens eineinhalb Millionen Menschen leben. Sie zählt zwar zum Einzugsgebiet der Megametropole Mexiko-Stadt mit ihren rund zwanzig Millionen BewohnerInnen (angrenzende Orte wie Nezahualcóyotl mitgerechnet), gehört aber zum Bundesstaat, der verwirrenderweise Estado de México heisst. Benannt ist die 1963 gegründete Gemeinde nach dem Nahua-König und Poeten Nezahualcóyotl («hungernder Kojote»), der die Gegend um den Texcoco-See im 15. Jahrhundert regiert und zu kultureller Blüte gebracht haben soll.

Der Texcoco-See, ein letztes Überbleibsel der Seenlandschaft bei der einstigen Aztekenmetropole Tenochtitlán, wurde bis in die dreissiger Jahre trockengelegt, bis nur noch versalzenes Ödland und ein kleiner Tümpel blieben. Die Regierungen sahen in dem salz- und salpeterhaltigen Boden nutzloses Staatsland, teilten es in kleine Parzellen auf und verkauften es zu Spottpreisen an Kleinstmakler und Bodenspekulantinnen. Die wiederum lockten mit klangvollen Sprüchen vom «besseren Leben» ab den vierziger Jahren SiedlerInnen in das unwirtliche Gebiet, obwohl diese trotz Kaufvertrag zunächst keine regulären Landtitel erwarben.

Schlamm und träge Behörden

Es kamen Menschen aus allen Teilen Mexikos, viele aus dem westlich gelegenen Bundesstaat Michoacán, die meisten aus dem südlichen Oaxaca – oft landflüchtige Bauern, die sich in die schnell wachsende Hauptstadt aufgemacht hatten. Doch dort war der Wohnraum begrenzt. Und so zogen viele, darunter auch manche HauptstädterInnen, weiter in das gepriesene Neuland im Osten. Es waren nicht die Allerärmsten, die sich hier niederliessen. Sondern Leute, die etwas Einkommen und den festen Willen hatten, sich allen Widrigkeiten zum Trotz eine eigene Heimstatt zu bauen – gegen die feindselige Natur, den Schlamm und den Staub, und gegen die Trägheit der Behörden. Und sie kämpften für Stromleitungen, Wasseranschluss, Busverbindungen.

Ende der sechziger Jahre entdeckte die Linke die SiedlerInnen und ihre Kämpfe; Ableger kommunistischer und trotzkistischer Parteien, der städtischen Volksbewegungen und auch der Stadtguerilla strömten nach Nezahualcóyotl. Die Konflikte politisierten und radikalisierten sich, die Landesregierung schickte Polizeistreifen, die bald berüchtigt waren für ihre Brutalität. Und ergriff, auch um die Proteste zu befrieden, erste Massnahmen: Die grösseren Strassen wurden asphaltiert, die ersten Leitungen verlegt, eine paar Schulen und eine Klinik gebaut. Aus den provisorischen Baracken wurden Häuser, das Baugewerbe und das Handwerk blühten. Die Schattenwirtschaft schaffte Einkommen, Geld begann zu zirkulieren, es entstanden heimische Märkte. Und hatten früher nahezu alle «drüben», also in der Hauptstadt, ihre Pesos verdient, arbeitet heute fast die Hälfte der Neza-BewohnerInnen vor Ort. Manche von ihnen sind mittlerweile weitergewandert – und arbeiten als Illegale in den USA.

Überall Tempel

Die Gewalt ist, trotz aller Klischees, keine Medienerfindung. Junge Männer der ersten Generation schlossen sich in den siebziger Jahren zu «pandillas» zusammen, zu Jugendbanden, die einander bekriegten. In den achtziger Jahren folgten die «chavos banda», die eher als jugendkulturelles Phänomen galten und von SoziologInnen als «neuer urbaner Stamm» gefeiert wurden: keine anständigen Schulen in Reichweite, keine Orte zum Treffen, keine Sportplätze. Seit den neunziger Jahren sickern harte Drogen in die Randstadt ein. Heute seien die Zeugen Jehovas «die schlimmste Bande», sagt Primo Mendoza: Die durchkämmen in Grossgruppen systematisch die Strassen und stellen den Leuten nach. An jeder zweiten Strassenecke steht ein Tempel der Evangelikalen.

Bei internationalen UrbanistInnen gilt Nezahualcóyotl als Paradebeispiel für den Erfolg informellen Bauens: Es biete auch armen Familien ohne staatliche Stadtplanung, gleichsam naturwüchsig, die Chance auf würdigen Wohnraum. Doch Neza ist nicht nur eine Selfmade-City – es war zugleich ein Laboratorium für eine klientelistische Sozial- und eine repressive Stadtpolitik. Die Linkspartei PRD, die hier seit über zehn Jahren regiert, hat einiges für die städtische Infrastruktur getan. Doch auch bei ihr, so Jorge Vega, zeigen sich die «üblichen Defekte»: Vetternwirtschaft und Autoritarismus. Und kulturpolitische «Grossmäuligkeit». Wie der Monumentalkojote beweist.

Die Banlieue-Serie

Dies ist der 13. Teil unserer Serie über die Banlieues, die Ghettos, die Slums und die Satellitenstädte der Welt. Bisher erschienen Reportagen aus Marseille, Bombay, Buenos Aires, Istanbul, Nairobi, Berlin, Beijing, Sevilla, Manila, Rio de Janeiro, Lagos und San Francisco.

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