Teufelszyklus: Eine ganz banale Immobilienkrise ...

Nr. 39 –

Kurzfristig werden die Banken ihre Lehren aus der aktuellen Krise ziehen und bescheidener werden. Dass aber das Finanzsystem nun stabiler werde, sei eine Illusion, sagt der Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann.


WOZ: Die vergangene Woche wird als «dramatischste Börsenwoche seit 1929» bezeichnet. Ist das angebracht?

Tobias Straumann: Ja, denn die letzte Woche war ausserordentlich dramatisch. Aber es war nicht die erste oder einzige dramatische Finanzwoche seit 1929. Die grosse Asienkrise etwa ist gerade mal zehn Jahre alt: Damals brach ein Land nach dem andern in Südostasien ein, worauf sich die Krise über Russland nach Brasilien und schliesslich bis zur Wall Street ausweitete. Zudem haben wir es heute mit einem andern Krisentyp zu tun als 1929: Damals handelte es sich in erster Linie um einen Börsencrash, während wir jetzt mit einer Immobilienkrise konfrontiert sind, die sich zu einer systembedrohenden Kreditkrise ausgeweitet hat.

Das bedeutet?

Was an den Börsen passiert, ist zweitrangig. Entscheidend ist, dass jetzt die grössten Investmentbanken und Versicherungen zusammengebrochen sind, weil sie zu wenig Kapital haben und zu viele unbrauchbare Wertpapiere besitzen. Die Immobilienkrise hat derart grosse Dimensionen angenommen, dass sämtliche Kreditmärkte in den USA betroffen sind.

Hat die US-Regierung mit ihrem 700-Milliarden-Kredit das Richtige getan?

Die Richtung stimmt: Der Staat muss sich stärker engagieren. Aber normalerweise läuft eine solche Rettungsaktion anders: Der Staat übernimmt die Banken - quasi als Grossaktionär - und kann damit auch bestimmen, wie es weitergehen soll. Er hat also ein Pfand für die staatliche Schuldenübernahme. Der Plan von US-Finanzminister Henry Paulson ist ein anderer: Der Staat übernimmt die problematischen Wertpapiere, ohne die Banken zu kontrollieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut funktionieren wird.

Weshalb zweifeln Sie?

Das Problem ist, herauszufinden, wie viel diese Papiere tatsächlich wert sind. Erstens besteht die Gefahr, dass der Staat für die Papiere zu viel oder zu wenig bezahlt. Wenn er zu viel zahlt, ist das nichts anderes als eine Sozialisierung der Verluste. Wenn er zu wenig bezahlt, stehen die Not leidenden Banken noch schlechter da. Zweitens wollen die Banken ja nicht nur ihre schlechten Anlagen loswerden, sondern sie brauchen auch zusätzliches Kapital.

Sehen Sie eine Lösung?

Wenn der Staat die Banken übernehmen würde, wäre das Problem lösbar. Er könnte dafür sorgen, dass das Aktienkapital aufgestockt wird. Zum Beispiel, indem er verhindert, dass während Jahren Dividenden und überrissene Löhne bezahlt werden. Oder er kann vorübergehend Kapital einschiessen. Das Geld wäre also nicht verloren, sondern könnte wieder abgezogen werden, sobald die Banken saniert sind. Beim Paulson-Plan fehlt diese Komponente vollständig.

Die Krise könnte sich also noch verschärfen?

Ganz sicher. Die Situation bleibt ja ohnehin labil, denn man weiss, dass die Häuserpreise noch eine Weile fallen werden. Es ist ganz wichtig, dass jetzt vernünftig gehandelt wird. Sollte es zu einem erneuten Vertrauenseinbruch kommen, dann kann für gar nichts mehr garantiert werden.

Vertrauen scheint ja ein ganz zentraler Faktor zu sein - weshalb?

Banken leihen sich gegenseitig dauernd Geld aus. Eine Krise kann dieses Vertrauen erschüttern und den Geldfluss abwürgen. Bislang kam mit einem Rettungsplan stets auch das Vertrauen zurück, und die Banken begannen wieder, sich Geld auszuleihen - und zwar zu normalen Zinssätzen.

Was passiert, wenn dieses Vertrauen fehlt?

Im Internet findet man den sogenannten «Ted Spread» - eine Fieberkurve, die anzeigt, wie stark sich die Banken gegenseitig misstrauen. Letzte Woche war die Kurve auf einem Rekordniveau. Niemand weiss mehr, ob nicht morgen eine Bank oder eine Versicherung zahlungsunfähig wird. Und solange man das nicht weiss, verlangt man auch für ganz elementare, kurzfristige Darlehen enorme Zinsen. Das lähmt das gesamte Kreditsystem. Und damit sind alle betroffen, die Kredit brauchen - sei es für ein eigenes Häuschens, sei es für eine kleine Firma, sei es für die Ausbildung der Kinder. Die ganze Realwirtschaft wird so in Mitleidenschaft gezogen.

Auch in der Schweiz?

Die Realwirtschaft spürt die Folgen der amerikanischen Kreditkrise indirekt über den Export und über den Ertragseinbruch der Grossbanken, der die Nachfrage im Inland dämpft. Ganz direkt sind wir alle über die Pensionskassen betroffen. Denn deren Abhängigkeit vom internationalen Finanzmarkt ist mittlerweile sehr gross.

Wie sieht denn die aktuelle Situation für die Pensionskassen aus?

Die hängen in der Krise stark mit drin. Bereits wird wieder darüber diskutiert, den Mindestzinssatz zu senken.

Ist die zweite Säule überhaupt noch zukunftsfähig?

Das ist eine politische, keine wirtschaftliche Frage: Zukunftsfähig ist sie, solange eine Mehrheit daran festhalten will. Die Pensionskassen werden weiterhin Rendite erwirtschaften, sodass ich nicht glaube, dass sich der politische Wille ändern wird. Die Rendite kann allerdings stark schwanken oder langfristig abnehmen.

Im Moment erscheint mir die Diskussion über die Kontrolle der Pensionskassenanlagen dringender. Wir, die wir in die Pensionskassen einzahlen, müssten unsere Pensionskassen frei wählen respektive wechseln können, wenn uns eine Anlagestrategie nicht passt. Wir zahlen, haben aber kaum Mittel, unsere Interessen durchzusetzen.

Zurück zu den Banken: Besteht tatsächlich die Gefahr, dass die UBS ernsthaft ins Trudeln gerät?

Momentan glaube ich das nicht, aber wenn der Rettungsplan nicht funktioniert und die Märkte das Vertrauen erneut verlieren, wird es eng. Die UBS hat laut eigenen Angaben noch rund fünfzig Milliarden schlechte Wertpapiere in ihren Büchern.

Wäre die Nationalbank fähig, die UBS zu retten?

Unter Umständen - etwa wenn die UBS nochmals eine hohe Summe abschreiben müsste und neues Kapital benötigen würde. Wenn sie aber in eine totale Vertrauenskrise geriete und der Aktienkurs abstürzt, wäre ihr kaum mehr zu helfen.

Gibt es denn ausser der Nationalbank keine andern Rettungsanker?

Den Bund. Aber hier gilt dasselbe wie bei der Nationalbank: Im Fall eines totalen Misstrauens der Märkte ist der Schweizer Staat zu klein, um zu helfen.

Was, wenn die UBS mit der CS fusionieren würde, wie dies zahlreiche Banken in den USA und in Britannien angesichts der Krise getan haben?

Das wäre möglich - bloss will das niemand. Und überhaupt: Auch der CS geht es nicht besonders gut. Wahrscheinlicher ist, dass eine ausländische Bank zum Zug käme. Sie würde alle problematischen UBS-Bereiche verkaufen und die profitable Vermögensverwaltung an sich ziehen.

Ist eine Monopolisierung im Finanzsektor, wie sie momentan erfolgt, eigentlich nicht kontraproduktiv?

Doch, die Situation ist gefährlich, wie wir jetzt sehen. Dagegen muss unbedingt etwas unternommen werden.

Zum Beispiel?

Man müsste das Wettbewerbsrecht erweitern. Es wäre durchaus möglich, dass der Staat eine obere Grösse für Banken festlegt. Ich glaube aber nicht, dass so weitreichende Massnahmen beschlossen werden.

Können neue Regulierungen denn wirksam sein?

Sie können erfolgreich sein. Von den dreissiger bis in die sechziger Jahre hinein gab es keine grösseren Krisen, weil der Finanzsektor stark kontrolliert wurde. Es bestand ein Konsens, dass die Banken primär dazu da waren, die Realwirtschaft mit Krediten zu vernünftigen Konditionen zu versorgen. Spekulative Geschäfte mit hohen Renditen galten als gefährlich und unnütz.

Wieso funktioniert das nicht mehr?

Die starke Ausdehnung des Welthandels nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass immer mehr Möglichkeiten entstanden, nationale Regulierungen zu umgehen. Parallel dazu kam es zu einem wirtschaftspolitischen Umschwung. Die vielen Kontrollen wurden zunehmend als lästig und wachstumshemmend empfunden. Als dann das Wachstum in den siebziger Jahren tatsächlich einbrach, wuchs die Bereitschaft, das Nachkriegsmodell über Bord zu werfen.

Im Zuge der ganzen Neoliberalisierung?

Man suchte den Markt zu entfesseln, um wieder Wachstum zu generieren - was nicht grundsätzlich falsch war, denn es gab tatsächlich Ineffizienzen. Allerdings erzielte man mit der Liberalisierung des Finanzmarkts nicht den erhofften grossen Wachstumsschub. Man kann allenfalls sagen, dass die deregulierten Finanzmärkte technologische Entwicklungen beschleunigt haben. Dieser Punkt ist allerdings in der Forschung höchst umstritten.

Ist der Neoliberalismus am Ende?

Nein, überhaupt nicht. Die Begeisterung für den Markt ist momentan zwar sehr gedämpft, aber dass nun eine grosse Begeisterung für Staatslösungen um sich greifen wird, daran glaube ich keine Sekunde Wir stehen nicht an einem Wendepunkt.

Welche Massnahmen brauchte es denn für eine nachhaltige Stabilisierung des Finanzmarktes?

Es wären enorme Eingriffe notwendig - in erster Linie in den führenden Finanzzentren London und New York. Wie in den fünfziger und sechziger Jahren müsste man etwa die Banken verpflichten, sich auf das sichere Kredit- und Emissionsgeschäft zu beschränken. Oder man müsste spekulative Anlagefirmen verbieten. Funktionieren würde all das nur, wenn die Kontrollen global greifen würden. Dafür sehe ich weit und breit keine politische Mehrheit.

Aber eine verstärkte Bankenaufsicht wäre doch möglich?

Es gibt sicher Raum für Verbesserungen. In der Schweiz etwa haben die Eidgenössische Bankenkommission und die Nationalbank gegenüber den beiden Grossbanken UBS und CS bislang nur wenig ausrichten können. Vielleicht werden sie jetzt ein bisschen mutiger? Ich bin skeptisch. Bei jeder Krise heisst es, man müsse jetzt die Regulationsbehörden stärken, aber dann passiert doch nicht viel. Die nächste grosse Finanzkrise aber, die kommt bestimmt.


Tobias Straumann ist Privatdozent am Institut für Empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich und Experte für internationale Finanzgeschichte.

Soll niemand sagen ...

Bereits 1994 hatte ein vom US-Kongress in Auftrag gegebener Bericht vor den Auswirkungen der Derivatgeschäfte gewarnt. Die geforderten stärkeren Kontrollen sind jedoch nicht umgesetzt worden. Die WOZ schrieb dazu in ihrer Ausgabe vom 20. Mai 1994: «Wenn eine grosse Bank wegen unkontrollierter Hebelwirkungen von Derivaten ihre Verpflichtungen im Interbankgeschäft über Nacht nicht mehr erfüllen kann, droht der gefürchtete Dominoeffekt. Die geschädigten Banken geraten in Panik und reduzieren die Kredite für Spekulanten, was immer mehr Konkurse nach sich zieht. Dann muss die Zentralbank eingreifen, um einen Zusammenbruch der Finanzmärkte und des Zahlungsverkehrs zu verhindern. Und wieder einmal müsste der Staat die gesellschaftlichen Verluste aus exzessiver Spekulation zulasten der NichtspekulantInnen sozialisieren.»