Antwort der Woche: Derivate: Wie wettet man auf Wetten?

Nr. 40 –


Es ist Februar. Getreidebauer Ueli muss im Herbst die Rechnung für eine neue Scheune bezahlen. Wenn der Weizenpreis stabil bleibt, ist das kein Problem. Das Risiko, wegen möglicherweise fallender Preise nach der Ernte seine Scheune nicht bezahlen zu können, will er aber nicht eingehen. Bäckerin Heidi wiederum hat das Gerücht gehört, bis zur Ernte könnten die Weizenpreise massiv ansteigen. Heidi und Ueli schliessen nun einen Vertrag, den man auch als Wette oder Versicherung sehen kann: Die Bäckerin verpflichtet sich, dem Bauern in fünf Monaten, wenn die Ernte eingefahren wird, 20 000 Franken für 10 Tonnen Weizen zu bezahlen. Steigt in der Zwischenzeit der Weizenpreis, dann macht Heidi ein gutes Geschäft. Sinkt er aber, ist das schlecht für Heidi. Ueli aber erhält im Herbst trotzdem genug Geld, um die Scheune zu bezahlen.

Vom Gerücht der steigenden Weizenpreise hat nicht nur Heidi gehört. Wertpapierhändler Anton verfügt über geheime Informationen, die ihn kaum an steigenden Weizenpreisen zweifeln lassen. Er geht deshalb auf Heidi zu und bietet ihr 1000 Franken, wenn sie ihm ihre Abmachung mit Ueli überträgt. Heidi willigt ein. Sie hat soeben 1000 Franken mit dem Verkauf eines Derivates verdient.

Kurz vor der Ernte im August gibt es Unwetter in China. Der Weltmarktpreis für Weizen steigt um 25 Prozent. Für 10 Tonnen des Getreides zahlt man nun 25 000 Franken. Anton bekommt nach der Ernte von Ueli also Weizen im Wert von 25 000 Franken zum abgemachten Preis von 20 000 Franken. Anton hat somit mit nur 1000 Franken Investition einen Gewinn von 4000 Franken erzielt. Hätte er im Februar 1000 Franken direkt in Weizen investiert, so hätte er bei einem Preisanstieg von 25 Prozent lediglich 250 Franken verdient.

Ein Derivat ist somit nichts anderes als eine Wette auf die Zukunft. Das hat sich Anton zunutze gemacht - und er hat seine Wette gewonnen (Heidi auch). Ein Derivat ermöglicht aber auch, sich gegen eine unvorhergesehene negative Entwicklung zu schützen - wie das Ueli aus Angst vor sinkenden Weizenpreisen getan hat.

Der Begriff «Derivat» kommt vom lateinischen «derivare», was «ableiten» bedeutet. Der Wert jedes Derivats leitet sich nämlich von einem so genannten «Basiswert» ab. Im oben stehenden Beispiel ist der Weizenmarktpreis Basiswert. Dabei sind unendlich viele Arten von Basiswerten denkbar: Etwa Aktien- oder Währungskurse. Möglich sind sogar Derivatwetten auf zukünftiges Wetter.

Mit Derivaten kann mit verhältnismässig wenig Kapital sehr viel Geld verdient oder verloren werden. Dieser Effekt heisst «Hebelwirkung». Dank der Hebelwirkung hat Anton in unserem Beispiel 4000 statt nur 250 Franken verdient.

2006 betrug der Wert der weltweit gehandelten Derivate übrigens gut das Achtfache der weltweiten Wirtschaftserträge. Da Derivate komplizierte Gebilde sind, ist es aber schwierig. ihren Wert zu berechnen. Dafür gibt es Formeln, und wer diese beherrschen will, braucht sehr gute Mathematikkenntnisse. Noch komplizierter wird das Ganze, wenn Derivate «verpackt» werden. So gibt es zum Beispiel Derivate, die als Basiswert wiederum Derivate haben. Man wettet nun also auf den zukünftigen Wert einer anderen Wette. Und auch diese Wette kann wieder als Basiswert eines dritten Derivats dienen. Schlussendlich handelt man mit Wertpapieren, bei denen nicht einmal mehr Fachleute wissen, auf welchem Basiswert sie im Kern beruhen. Diese Verwirrung können HändlerInnen noch vergrössern, indem sie ein Derivat auf verschiedene Basiswerte stützen.

Beliebt ist auch die Weitergabe von (faulen) Krediten in Derivatform. Man packt sie sozusagen in schönes Papier ein und verkauft sie weiter. Der Käufer verpackt das Päckchen ein weiteres Mal und verkauft es erneut. Und so weiter.

Das Ganze geht gut, bis einmal jemand genau hinguckt und merkt, dass im Innern der Verpackung beispielsweise faule Hypothekenkredite liegen. Nun will plötzlich niemand mehr die nett anzusehenden Päckchen kaufen, und die Blase platzt. Jetzt sind nicht nur diejenigen betroffen, die Kredite an zahlungsunfähige KundInnen erteilt haben, sondern all jene, die Papiere besitzen, die sich auf diese faulen Kredite abstützen. Und das sind nicht wenige.

Was nun passiert, hat Gian Trepp bereits 1994 in der WOZ beschrieben: Wenn eine grosse Bank wegen unkontrollierter Hebelwirkungen von Derivaten enorme Summen verliere und deswegen ihre Verpflichtungen im Handel mit anderen Banken über Nacht nicht mehr erfüllen könne, «droht der gefürchtete Dominoeffekt». Die geschädigten Banken würden in Panik geraten und ihre Kredite reduzieren, was immer mehr Konkurse nach sich ziehen würde. Dann sei die Zentralbank gezwungen einzugreifen, um einen Zusammenbruch der Finanzmärkte und des Zahlungsverkehrs zu verhindern. Und wieder einmal müsse der Staat dann aus riskanten Geschäften entstandene Verluste zu Lasten der Allgemeinheit übernehmen, sagte Trepp voraus.

Man hätte damals offenbar auf Derivate setzen sollen, welche die Zukunftsprognosen von WOZ-AutorInnen als Basiswert gehabt hätten.