Durch den Monat mit James K. Galbraith (Teil 2): Alle im selben Boot?

Nr. 41 –

WOZ: Herr Galbraith, ändert der gigantische Bail-out-Plan, der seit unserem letzten Gespräch beschlossen wurde, etwas an der Situation der 160 000 Amerikaner und Amerikanerinnen, die allein im September ihren Job verloren?
James K. Galbraith: Das war nie die Absicht der Notmassnahmen. Ihre einzig legitime Aufgabe ist es, bis zum Regierungswechsel Anfang Jahr das schlimmste Desaster zu verhindern. Aber das neue Gesetz bewirkt zu diesem Zweck einen gigantischen Anlagetransfer in die Hände des Finanzministeriums und hat deshalb ein grosses Missbrauchspotenzial. Es wird sich weisen, ob das Wirtschaftsprogramm die Interessen der breiten Bevölkerung berücksichtigt oder nicht.

Viele ihrer Kollegen behandeln die Finanzkrise in den USA, als wäre allein Wall Street die lebenswichtige Ökonomie und der wirtschaftliche Alltag der kleinen Leute bloss ein irritierendes Anhängsel.
In Wirklichkeit verhält es sich natürlich gerade andersrum. Ein Freund von mir setzt zurzeit über all seine E-Mails das Motto: «Der Finanzsektor hat mehr Probleme, als er wert ist.» Das fasst meine Stimmung gut zusammen.

Sitzen wir wirklich alle im selben Boot, wie uns die meisten Finanzkommentare weismachen wollen?
Wir sitzen im selben Boot, aber mit unterschiedlichen Rollen. Die Leute, die in der Lage sind, das Schiff zu versenken, sind dummerweise auch die, welche die Rettungshelikopter an Deck befehligen. Eigentlich sollten diese Offiziere gar nicht auf der Kommandobrücke stehen. Sie sind inkompetent und können weder Karten lesen noch navigieren. Sie sehen nicht, dass das Schiff eine langfristige wirtschaftliche Aufgabe erfüllt und sorgen deshalb nicht für seinen Unterhalt. Aber sie profitieren von der Versenkung, bevor sie im letzten Moment abheben. Die Passagiere und die gemeine Schiffsbesatzung sind nicht sehr glücklich über dieses Arrangement.

Wieso erscheinen in den grossen Medien denn so wenige Berichte aus der Sicht der Passagiere und der Crew?
Wieso erwarten Sie so etwas überhaupt? Die Mainstreammedien sind ein Teil der Wall-Street-Gemeinschaft und reflektieren getreulich die Ansicht ihrer Mitglieder. Vor allem die Fernsehstationen sind Grossunternehmen, die noch grösseren Unternehmen gehören - oder im Falle von Fox-News praktisch die Propagandaabteilung der Republikanischen Partei darstellen. Viele Medienbesitzer unterschätzen die Intelligenz des amerikanischen Publikums, welches mindestens so gescheit ist wie das sowjetische Publikum, das zwischen den Zeilen der Phrasen und Verlautbarungen der Partei zu lesen wusste.

Nach der grossen Wirtschaftskrise in den dreissiger Jahren erstarkten die Gewerkschaften in den USA massiv. Erwarten Sie heute eine vergleichbare Bewegung?
Das Gewerkschaftswachstum der dreissiger, vierziger und fünfziger Jahre war Produkt und Teil der Mobilisierung für den Zweiten Weltkrieg, der massiven Industrialisierung und der sehr starken Stellung der US-amerikanischen Produktion in dieser Zeit. Diese Art Gewerkschaft wird nicht zurückkommen, weil der Produktionssektor so sehr abgenommen hat. Es ist sehr viel einfacher, Arbeiter in einer grossen Fabrik zu organisieren als in vielen kleinen dezentralisierten Dienstleistungsbuden, die überdies eine hohe Mitarbeiterfluktuation aufweisen.

Wie kann angesichts der wohlorganisierten Unternehmensinteressen heute ein wirksames Gegengewicht entstehen?
Bestes Beispiel ist die Barack-Obama-Kampagne, die dank Internet den Durchbruch schaffte. Obamas Rivalin Hillary Clinton benutzte die Informationstechnologie wie ein herkömmliches Marktinstrument: Sie bediente verschiedene Zielgruppen mit je auf sie abgestimmten Botschaften. Obama aber brachte mit Hilfe der Informationstechnologie die Leute in seine Organisation hinein. Das Erste, was man auf seiner Website sieht, ist ein Formular, mit dem Fans sich in die Datenbank aufnehmen lassen können. Die Zahl und der Zusammenhalt der Freiwilligen wuchs auf diese Weise schnell genug, um ihm die Nominierung zu sichern.

Wird diese neue flexible bis flüchtige Internetgemeinschaft stark genug sein, um der geballten Wirtschaftsmacht standhalten zu können?
Sie ist es noch nicht. Aber die heutige Situation, die Aufdeckung des gewaltigen Finanzschwindels, stellt eine Chance dar. Das Volk will einen Ausgleich für den Schaden. Das entscheidet den Ausgang der Präsidentschaftswahl.

Der US-Ökonom JAMES K. GALBRAITH (56) lehrt an der Universität von Texas in Austin und ist Autor von «The Predator State: How Conservatives Abandoned the Free Market and Why Liberals Should Too» (Free Press 2008). Das Buch, schrieb die «New York Times», erinnere an den berühmten John Kenneth Galbraith; der Sohn schreibe ebenso bissig und sarkastisch wie sein Vater.