Krise, Analyse!: Schuldig! Schuldig! Schuldig!

Nr. 43 –

Der Neoliberalismus ist nur noch faules Papier. Aber wie die Vorgänge verstehen? Und wie zurückschlagen? Eine Gebrauchsanleitung mit «Tatort»-Kommissar Bruno Ehrlicher, Schriftsteller Roberto Saviano und Musiker Peterlicht.


Jahrelang haben sie uns all die Begriffe gesendet: Privatisierung, Steuerwettbewerb, Standortvorteil, Eigenverantwortung, Qualitätskontrolle, Asylmissbrauch, Ausländerkriminalität, IV-Missbrauch, Scheininvalide. Sie gingen über in unser Denken, ergriffen unsere Herzen, modellierten unsere Körper - geraucht wird jetzt draussen. Und dann, an einem Donnerstag im Oktober, schob der Staat der UBS 68 Milliarden Franken rüber. Was ist schon ein Banküberfall gegen die Gründung einer Bank, was ist schon die Gründung einer Bank gegen die Verbankung eines Staates - was sind schon Nothilfe, Invalidenrente und Mindestlohn gegen 68 Milliarden Franken? Wohl wissen wir, es gibt keine Macht im Zentrum, kein Dahinter und keine letzte Instanz. Die Begriffe haben sich uns angeeignet, und wir haben sie weitergesendet. Wir wurden zu Sendern und zu Empfängern gleichzeitig, doch je dichter die Verbindungen liefen, umso weniger wussten wir um die tatsächlichen Verbindungen in diesem Sinn: was das eine mit dem anderen zu tun hat. Man kann zu dem Prozess, der jetzt abläuft, Finanzkrise sagen oder Vertrauenskrise, vor allem ist er eine Verbindungskrise: Finanzprodukte wurden um so viele Ecken gehandelt, dass am Ende niemand mehr wusste, dass daran Hypotheken hingen und daran Häuser und ihre BewohnerInnen. Wir müssen neue Verbindungen herstellen. Nur dann wird aus Zorn und Angst eine Handlung möglich.

Was sein könnte

Was alle angeht, können nur alle lösen. Und trotzdem gibt es ein Sie und ein Wir. «Tatort»-Kommissar Bruno Ehrlicher hat nicht Unrecht und sicher das Vergnügen, wenn er als Präsidentschaftskandidat der deutschen Partei Die Linke die Einknastung von Joe Ackermann fordert. All jene, welche gesagt haben, es gäbe keine Alternative zu diesen Begriffen, die ganz oben ihre Boni kassierten und die sich unten als Kleinaktionär gesehen haben: schuldig! All jene, die sich im Vorteil wähnten und stets auf den Vorteil bedacht waren: schuldig! Christoph Blocher: schuldig! Urbaner Liberaler: schuldig! Marcel Ospel: schuldig! Stammtischrassist: schuldig! Roger Köppel: schuldig! Es gab nämlich auch die anderen: diejenigen, welche die Steuern bezahlt haben, diejenigen, die sich für andere stark machten, diejenigen, welche im Zweifel blieben und im Widerspruch. Wobei: Auch du, over-sophisticated Popdiskursler, der sich dann doch nie politisch festlegen wollte: schuldig! Es heisst jetzt: keine Schadenfreude. Aber wir werden noch lange lachen über das «Weltwoche»-Cover von letzter Woche: «La crise n’existe pas. Die Schweizer Grossbanken gehen aus der Krise gestärkt hervor.» Erschienen just an dem Tag, als der Bundesrat die UBS stützen musste. Die «Weltwoche», ein faules Papier, der letzte Beleg, dass die Verbindungen selbst unter ihresgleichen gekappt sind. «Schreiben, was ist», war ihr Motto. Deutlicher schreiben, was nicht ist, geht nicht. Die nackte Weltsicht des Neoliberalismus hat sich nicht als Wahrheit, sondern auch nur als eine mögliche, speziell verlogene Erzählung erwiesen. Schreiben wir, was sein könnte.

Die Dinge nehmen Kenntnis

Roberto Saviano weiss Rat. Was sein könnte, heisst: verstehen, wie etwas funktioniert. Jetzt, wo sein Buch über die neapolitanische Camorra verfilmt ist, erscheint der Journalist auf allen Kanälen. Aber unbedingt auch sein Buch lesen! Es ist grausam und aufschlussreich zugleich - die Mafia als Reinkultur des Neoliberalismus. Aber «Gomorrha» ist nicht nur ein Mafiastück, sondern auch über alle Seiten die Offenlegung einer Beobachtungsmethode. «Ich weiss! Ich habe gesehen!», ruft Saviano in einem Schwur am Grab des Filmregisseurs Pier Paolo Pasolini. Seine Methode beschreibt Saviano in einer Szene, als an Junkies gestrecktes Heroin ausprobiert wird. Er habe die Szene nicht beobachtet, um mehr über die Versuche zu erfahren. Er habe sie beobachtet, damit die Dinge von ihm Kenntnis nehmen würden. Saviano spricht mit den Strassenjungs und den Geldkurieren, fährt mit seinem Moped an die Tatorte und durch die Rauchschwaden der Abfallberge. Die Dinge haben von ihm längst Kenntnis genommen, die Camorra droht Saviano mit dem Tod. Aber umgekehrt hat er die Dinge zusammengehängt und zu Bildern, zu Komplexen, zu Beweisen geformt. Saviano blieb vor Ort. Ein solches Buch über den Finanzplatz - das möchte man jetzt lesen. Peterlicht weiss auch Rat. Was sein könnte, heisst: den künftigen Zustand vorwegnehmen. Also eben nicht sagen, wie es sein könnte, sein sollte und schon gar nicht, wie es sein müsste. Sondern einfach, wie von einem Aussenposten, vermelden: Es ist schon so. Die Gegenwart zur Vergangenheit machen und so einen Schritt weit in die Zukunft vorstossen.

Der künftige Zustand

Auf seinem letzten Album «Lieder vom Ende des Kapitalismus» singt Peterlicht: «Hast du schon gehört, das ist das Ende. Das Ende vom Kapitalismus. Jetzt ist er endlich vorbei. Vorbei, vorbei. Weisst du noch, wir pflückten das Zeug aus den Regalen aus den Läden. Und wir waren komplett. Weisst du noch, wir regelten unsere Dinge über das Geld. Vorbei, vorbei, jetzt ist er endlich vorbei. Der Kapitalismus, der alte Schlawiner ist uns lange genug auf der Tasche gelegen. Vorbei, vorbei, jetzt ist er endlich vorbei.» Weniger optimistisch, in einem nächsten Song: «Hallo, Geld, hallo, heile Welt. Hallo, du altes Gesetz vom Wachstum, du Naturgesetz. Dies ist der Tag, an dem es nicht mehr wächst. Dies ist der Tag, an dem es uns wie den andern geht. Hallo, Nachkriegszeit, dies ist der Tag, an dem du zur Kriegszeit wirst.» Die Songs sollte man jetzt täglich am Radio hören. Auf seinem aktuellen Album «Melancholie und Gesellschaft» singt Peterlicht übrigens: «Nach vorn, nach vorn, die Zukunft leuchtet schon.»

Was sein könnte! Statt Roberto Saviano und Peterlicht hätten wir jetzt auch andere bringen können. Andere kennen ja immer noch einen anderen - und schon ergibt sich eine neue Verbindung. Wir wollen im Gespräch sein, durch den Tag und durch die Nächte. Das ist ganz wichtig. Der Neoliberalismus hat uns fast jede Vorstellung von Zusammensein geraubt (und wir haben das allzu lange mit Unabhängigkeit verwechselt). Wir können nicht nur auf die Kurven starren, wir dürfen nicht nur Konjunkturprogramme fordern. Wir müssen viel, viel mehr wollen. Wir wollen verstehen, wie es funktioniert. Wir wollen vorwegnehmen, wie es sein könnte. Wir wollen Verbindungen herstellen. Wenn wir schon von Wir reden - dann müssen wir herausfinden, wer wir sind.