Wider die Vereinzelung: ArbeiterInnen an die Macht!

Nr. 48 –

Der Soziologe Richard Sennett kennt die Arbeitswelt aus Tausenden von Gesprächen. Und er ist überzeugt: Für die Jungen hat das neoliberale Wirtschaftsmodell keine Berechtigung mehr.


WOZ: Schnell, schneller, am schnellsten. Manager schielen nur aufs nächste Quartalsergebnis, Analystinnen nicht über den nächsten Tag hinaus. Was sind die sozialen Folgen dieser Beschleunigung?

Richard Sennett: Das eigentliche Problem ist nicht die Beschleunigung, sondern die zeitliche Verkürzung: Längerfristige Konsequenzen werden ignoriert. Diese Art des Umgangs mit der Zeit macht blind - schauen Sie sich nur das Verhalten der Menschen ganz oben im ökonomischen System an, die davon profitiert haben. Die Menschen weiter unten, die sind schlicht gezwungen worden, dieses Verhalten nachzuahmen.

Wie wurden sie dazu gezwungen?

Eine Möglichkeit, Anpassungsdruck auszuüben, ist die Form der Arbeitsorganisation. In den neunziger Jahren entwickelte sich ein neues Managementideal, das bis heute gültig ist: Es werden nur noch Projekte von kurzer Dauer realisiert und die Teammitglieder nach sieben oder acht Monaten gezwungen, sich für das nächste Projekt neu zu gruppieren. Das untergräbt die Solidarität und die Gemeinschaft innerhalb eines Unternehmens.

Die Beschäftigten sollen also gar keine längerfristigen Perspektiven mehr entwickeln innerhalb einer Firma?

Genau. Nehmen Sie etwa den Technologiesektor: Bleiben junge Arbeitskräfte zu lange in derselben Firma - fünf, sechs Jahre vielleicht -, bevor sie sich eine neue Stelle suchen, wird ihnen das bei der Stellenbewerbung als Zeichen mangelnden Unternehmergeistes angelastet. Der Druck, häufig die Stelle zu wechseln, ist im Technologiesektor so zur Norm geworden.

Wie kommen die Leute damit zurecht?

Die Menschen, die ich interviewt habe - sie arbeiteten im sogenannten neuen Kapitalismus, in Hightechbetrieben, im Finanzsektor und in der Kulturindustrie -, reagierten mit Stress und Angstgefühlen. Obwohl sie unter dem System litten, verloren sie aber nicht die Hoffnung. Vielmehr waren sie gerade in den Boomjahren davon überzeugt, dass sich dieser neue Kurzzeitkapitalismus auch für sie irgendwann auszahlen würde.

Hat sich das mit der Krise gewandelt?

Oh ja! In den vergangenen Monaten hat sich der Charakter von Stress und Angst stark verändert. Vor allem die Menschen im mittleren Bereich dieser Unternehmen realisieren immer mehr, dass ihnen das System keine Zukunft bietet.

Wie äussert sich das konkret?

Zurzeit interviewe ich Personen, die in der neuen Ökonomie gearbeitet und ihre Stelle verloren haben. Die meisten von ihnen sind jung: zwischen zwanzig und Anfang dreissig. Zu ihrem ökonomischen Leid gesellt sich das starke Gefühl, sie hätten sich nie darauf einlassen sollen, überhaupt in diesem damals angesagten Bereich zu arbeiten. Sie sind überzeugt, dass das System sie mit falschen Versprechungen gelockt hat und dass sie selbst einen grossen Fehler gemacht haben. Was mich vor allem erstaunt, ist, wie viele dieser jungen Menschen so empfinden.

Wie gehen sie mit dieser Enttäuschung um?

Viele von ihnen haben sich entschieden, nie mehr in ihren bisherigen Arbeitsbereich zurückzukehren. Gerade junge Menschen aus dem Finanzsektor - und aus diesem Bereich kommen viele unserer Gesprächspartner - wollen etwas völlig anderes machen. Sie haben einen betriebswirtschaftlichen Abschluss und denken darüber nach, einen kleinen Handwerksbetrieb zu eröffnen. Die Idee, wieder für eine Investmentbank zu arbeiten, erfüllt sie mit Abscheu.

Diese Erkenntnis ist also eine direkte Konsequenz der Finanzkrise?

Wir stecken mitten in unseren Untersuchungen - und die Krise ist noch lange nicht ausgestanden. Aber auffallend ist es schon: Diese Jungen wollen keine Wiederherstellung der Vergangenheit. Und genau das haben die Politiker noch nicht begriffen: Junge Menschen empfinden die neue Ökonomie nicht länger als eine legitime Arbeits- und Lebensform. Hier vollzieht sich ein grosser Generationenwechsel.

Ein Generationenwechsel?

Ja - die Fünfzigjährigen wünschen sich genau das Gegenteil: Sie wollen, dass die Dinge wieder so werden wie in den neunziger Jahren. Das hat weniger rationale als emotionale Hintergründe. Stellen Sie sich vor, da hat jemand 25 Jahre lang enorme persönliche Opfer gebracht, um in einem extrem stressigen Job - in einem permanenten Kampf sozusagen - zu überleben. Wer so viel in die Umstände des eigenen Leidens investiert hat, kann nicht einfach sagen: «Was solls - ich bin jetzt 55, und es war alles ein grosser Irrtum.»

Sie glauben, der Wandel muss von der jungen Generation ausgehen?

Absolut. Wir müssen Alternativen finden zum neoliberalen Unternehmerkapitalismus. Die Menschen wollen nicht nochmals durch diesen Zyklus von Boom und Pleite.

Und trotzdem wehrt sich keiner - die Menschen gehen ja nicht auf die Strasse . . .

Das erstaunt mich auch. Wirklich. Würden wir uns in den dreissiger Jahren befinden, wären die Strassen voll mit Massen Protestierender . . . Die Kultur hat sich schon sehr gewandelt.

Wie kam es zu diesem Kulturwandel?

Der Kapitalismus hat die Menschen so sehr vereinzelt, dass ein Glaube an kollektive Aktion kaum noch existiert. Versuchen Sie mal einen Ingenieur zu bewegen, einer Gewerkschaft beizutreten . . . Das hat sicher auch damit zu tun, dass Gewerkschaften gerade in Britannien sehr bürokratisch, ohne Konzepte und Visionen und daher ziemlich unattraktiv sind. Aber im Kern geht es darum, dass sich die Leute vom System verraten fühlen. Und diesen Verrat erfahren sie als vereinzelte Individuen. Der Kapitalismus hat die Menschen glauben gemacht, sie hätten mit ihren Mitmenschen nichts gemein.

Was muss denn passieren, bis die Menschen aufwachen und sich zu wehren beginnen?

Ich weiss es nicht! Viele alten Marxisten waren überzeugt, Elend und Not würden die Menschen zur Rebellion treiben. Ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Aber vielleicht finden wir auf der lokalen Ebene einen Weg, um uns ökonomisch zu organisieren und diese Isolation zu überwinden.

Geben die Umstände der Wahl von Barack Obama in dieser Hinsicht Anlass zur Hoffnung?

Das war in der Tat eine Art kollektive Bewegung junger Menschen - aber diese Bewegung formierte sich aus Gründen, die nichts mit der Krise zu tun hatten. Obama war schon lange vorher ein Hoffnungsträger für die Jungen. Ich persönlich neige nicht dazu, an Retter zu glauben. Kollektive Aktion heisst für mich, kollektiv zu handeln und nicht gemeinsam nach einem Retter zu suchen. Auch wenn Obama wahrscheinlich ein guter Präsident sein wird - kein Einzelner wird es schaffen, dieses System zu korrigieren.

In Europa ist die Linke ja schon lange in der Defensive - welche Chancen bietet die Krise, um da rauszukommen?

Darüber haben die Linken bislang viel zu wenig nachgedacht. Meiner Meinung nach sind sie zu sehr auf die inneren Qualitäten des Wohlstands fixiert, die der Kapitalismus geschaffen hat - statt sich auf eine Umwandlung der Arbeit selbst zu konzentrieren: Wie funktioniert der Arbeitsplatz, wer kontrolliert ihn, was ist das Ziel der Arbeit?

Was, glauben Sie, wäre denn eine geeignete Strategie, um den Wandel offensiv anzugehen?

In meinen Augen sollte man versuchen, Wege zu finden, um die Arbeit dem Einfluss des Finanzkapitals zu entziehen. Ironischerweise hat die britische Regierung genau das mit den Banken gemacht. Mit guten Argumenten: Die Banken dürfen nicht mehr so aggressiv funktionieren wie bisher - sie sollen mehr im Sinn ihrer Angestellten und weniger im Geist ihrer Investoren agieren. Das ist gut so.

Und was bedeutet das jetzt für die Linke?

Wir haben viel zu wenig über Mittel und Wege nachgedacht, die kapitalistische Struktur zu verändern. Meiner Meinung nach müssen wir zu diesem Zweck die Macht der Investoren schwächen. Und wir sollten uns Genossenschaften zum Vorbild nehmen und Strategien verfolgen, die den Beschäftigten mehr Kontrolle im Betrieb geben und sie weniger abhängig von externen Investoren machen. Zum Beispiel indem man den Firmen hilft, ihre Aktien vom Markt zu nehmen. Wissen Sie, ich bin ein altmodischer Linker: Ich bin für Arbeiterkontrolle, die Arbeiter sollen die Betriebe kontrollieren.