Krisenprogramme: Die Finanzkrise versperrt den Ausweg

Nr. 6 –

Nach den Billionen für die Banken folgen jetzt Milliarden für die Konjunktur. Aber wer zahlt? Und wofür?


Eine grössere Kehrtwende ist kaum möglich. Bis in den Herbst hinein haben die Regierungsverantwortlichen in Europa und den USA das Ausmass der Weltfinanzkrise schöngeredet und kleingebetet. Als sich das Desaster nicht mehr leugnen liess, als klar wurde, dass die Finanzmarktkrise eine Weltwirtschaftskrise unerhörten Ausmasses auslöst, als alle führenden Industrie- und Exportstaaten gleichzeitig in die Krise stürzten und selbst China als Lokomotive der Weltkonjunktur ausfiel, da liessen die Marktradikalen etliche ihrer liebgewonnenen Dogmen einfach fallen.

Konjunkturprogramme waren plötzlich kein Teufelszeug mehr, sondern schlicht und einfach notwendig. Was war die Linkspartei in Deutschland mit Hohn überschüttet worden, als sie im Frühjahr 2008 angesichts der kommenden Krise ein Konjunkturprogramm im Umfang von 50 Milliarden Euro forderte. Inzwischen haben die deutschen WirtschaftspolitikerInnen im Eilverfahren Konjunkturprogramme in der Höhe von fast 75 Milliarden Euro beschlossen, Japan wirft fast 100 Milliarden Euro in den Kampf, China ist mit mindestens 450 Milliarden Euro dabei (vgl. Artikel). Und viele grosse europäische Industriestaaten haben Konjunkturprogramme in der Grössenordnung von 30 bis 80 Milliarden Euro aufgelegt - Tendenz steigend.

Verrottete Brücken

Nichts tun geht nicht mehr; doch wie sollen die Konjunkturprogramme finanziert werden? Neue oder höhere Steuern sind nach jahrzehntelangem Steuersenkungswettlauf nicht durchsetzbar, lautstark werden weitere Senkungen eingefordert. Also werden die Programme mit neuen Staatsschulden finanziert. Genau daran entzündet sich der Streit, droht der «Konsens der Demokraten» aufzubrechen. Kein Wunder nach den vielen Moralpredigten gegen jegliche Form des öffentlichen Kredits. Dabei kommt es nur darauf an, wie die Staatsschulden finanziert werden und wofür der Staat die Gelder ausgibt, die er sich leiht.

Privates Geldkapital gibt es weltweit mehr als genug, die AnlegerInnen flüchten geradezu in Staatspapiere. Kein westeuropäischer Staat - ausser Island - hat im Moment Schwierigkeiten, neue Staatsschuldpapiere auf den Markt zu bringen. Einen Riesenbedarf an öffentlichen Investitionen gibt es auch. Mindestens 500 Milliarden Euro, so schätzt die Weltbank, werden künftig pro Jahr notwendig sein, um die Infrastruktur der Industrie- und Schwellenländer instandzuhalten und zu modernisieren. Und das ist noch viel zu niedrig gegriffen.

Für die USA mit ihren verrotteten Brücken, Kanalsystemen und Schulen hat die American Society of Civil Engineers einen Investitionsbedarf von mindestens 1,6 Billionen US-Dollar errechnet. Nach der jahrzehntelang systematisch betriebenen Unterfinanzierung und Ausplünderung des öffentlichen Sektors - umgesetzt, um die öffentlichen Unternehmen für die Privatisierung reif zu machen - gibt es auch in Europa und Japan mehr als genug zu tun. Dazu kommt die dringend nötige Reparatur der schwer angeschlagenen Wohlfahrtssysteme. Das alles sind Investitionen, die angesichts riesiger Überkapazitäten, explodierender Arbeitslosenzahlen und eines rasanten Preiszerfalls die Inflation nicht anheizen. Sogar die Erzdogmatiker von der Europäischen Zentralbank müssen jetzt zugeben, dass sie ein Trugbild bekriegt haben.

Barack Obama hat die Botschaft verstanden - offenbar kennt er, anders als sein Vorgänger, die tatsächlichen Zustände in seinem Land. Mehr als zwei Millionen Jobs will er durch Reparaturmassnahmen schaffen; fünf Millionen sollen im Bereich der erneuerbaren Energien entstehen. Das US-Repräsentantenhaus hat diesem Konjunkturprogramm (Umfang: mindestens 850 Milliarden US-Dollar) mittlerweile zugestimmt.

Neues Personal muss her

Allerdings kann keine Regierung dieses Fass ohne Boden füllen; die Weltwirtschaftskrise, der weltweite Einbruch der grossen Exportindustrien ist nicht aufzuhalten. Kein Staat ist so finanzstark, dass er einen Absturz der Weltnachfrage um zehn bis zwanzig Prozent ausgleichen kann. Denn wer, bitte schön, soll die Autos kaufen, deren millionenfache Überproduktion jetzt wieder angekurbelt wird?

Dazu kommt, dass die Milliarden für Bankenverstaatlichungen - über die jetzt auch die deutsche Regierung laut nachdenkt - und Bad Banks, die faule Kredite übernehmen sollen, den Spielraum für eine sinnvolle Konjunkturpolitik weiter einengen. Die Finanzkrise hat die Weltwirtschaftskrise ins Rollen gebracht, nun steht sie einer koordinierten, hinreichend dimensionierten Konjunkturpolitik im Wege. Gordon Brown, der britische Premier, hat sich vertan: Weder er noch seine AmtskollegInnen haben die Welt gerettet. Da braucht es schon andere Massnahmen, andere Kaliber - und anderes Personal.

 

Dossier Finanzkapitlismus

Früher als die meisten anderen Zeitungen hat sich die WOZ mit dem Thema Finanzkapitalismus beschäftigt. So schrieben wir beispielsweise im Mai 2007 unter dem Titel «Der Reiz der wilden Trillionen»: «Der Kapitalismus mutiert. Von einem mächtigen Verwertungstrieb bewegt, hat das Finanzkapital begonnen, die wirtschaftliche Substanz zu plündern, die Generationen geschaffen haben». Und im März 2008: «Wir beklagen die Folgen der thatcherschen Revolution, als wäre sie erst gestern über uns hinweggerollt. Dabei ist ihre Zeit vorbei. Und kümmern uns zu wenig um die Fragen der neuen Epoche: Welchen Staat wollen wir eigentlich? Und wie kämpfen wir dafür?»