El Salvador: Einzigartige Abhängigkeit

Nr. 11 –

Zwanzig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs könnte die ehemalige Guerilla FMLN die Präsidentschaftswahl vom kommenden Sonntag gewinnen.


«Wir wollen den Leuten Mut machen», sagt Claudia Fuentes, die für die FMLN in einer Wahlkampfequipe aktiv ist. «Denn diesmal schaffen wir es.» Die 22-jährige Medizinstudentin war noch ein Säugling, als die Nationale Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) 1989 Teile der Hauptstadt San Salvador besetzte und damit Verhandlungen mit der Regierung erzwang. Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg mit über 70 000 Toten kam es 1992 schliesslich zu einem Friedensabkommen.

Wichtige Beschlüsse dieses Abkommens wurden jedoch nicht erfüllt oder einfach umgangen. 1993 veröffentlichte eine unter dem Patronat der Uno stehende Wahrheitskommission einen Bericht, in dem Dutzende von hohen Militärs und Zivilpersonen schwerer Menschenrechtsverletzungen bezichtigt wurden. Nur wenige Tage später erliess das von der Rechten dominierte Parlament eine Generalamnestie für alle Menschenrechtsverletzungen während des bewaffneten Konflikts. Die daraus entstandene Kultur der Straflosigkeit ist ein wichtiger Grund dafür, dass El Salvador seit zwanzig Jahren von der Nationalistischen Republikanischen Allianz Arena wie eine Hazienda verwaltet wird. Die Arena war 1981 von Roberto D’Aubuisson, dem ehemaligen Führer der Todesschwadronen, gegründet worden.

Inzwischen ist die FMLN zur stärksten politischen Kraft im Land herangewachsen und regiert in einer Mehrzahl von Gemeinden. Um am 15. März den Präsidenten stellen zu können, muss sie allerdings über ihre StammwählerInnen hinaus eine absolute Mehrheit gewinnen. Dafür ist die Nachkriegsgeneration eine wichtige Gruppe, die achtzehn Prozent der Bevölkerung ausmacht und die, wie Claudia Fuentes, erstmals wählen kann. Diese Generation kennt den Krieg nur noch vom Hörensagen.

Fatale Remesas

Im Osten des Landes hatte die FMLN ihre soziale Basis. Hier litt die Bevölkerung besonders stark unter der Gewalt und der Repression von rechtsextremistischen Milizen und Todesschwadronen. Heute sind die einst holprigen Strassen schnelle Autopistas. Am Strassenrand allerdings stehen immer noch die gleichen brüchigen Holzbuden, wo Frauen, oft mit einem Säugling auf dem Arm, Früchte, Bohnen, Getränke und Fische verkaufen. In den von der FMLN regierten Gemeinden gibt es verbilligtes Benzin - ein solidarischer Gruss von Präsident Hugo Chávez aus Venezuela.

Auf der Fahrt entlang der Küstenstrasse taucht plötzlich eine ungewöhnliche Ortstafel auf: «Welcome to Intipuca. The place to be.» In der 17 000 EinwohnerInnen zählenden Ortschaft mit ihren herausgeputzten Häuschen, sauber gepflasterten Strassen, Banken und Reiseagenturen fühlt man sich wie in einem Vorort von Washington DC. Kein Wunder: Etwa siebzig Prozent der Haushalte von Intipuca leben von Zahlungen - sogenannten Remesas - ihrer in die USA ausgewanderten Verwandten. Dadurch ist in Intipuca nur eine Minderheit gezwungen, einer Arbeit nachzugehen.

Toni hat ebenfalls in den USA gearbeitet, will nun aber nach seiner Rückkehr mit einem Unternehmen für Computerreparaturen auf eigenen Füssen stehen. Er warnt: «Wenn wir nicht bald unsere eigenen Kräfte reaktivieren, versinken wir in einem Sumpf.» Die Bevölkerung in Intipuca habe sich an die Remesas gewöhnt und lebe wie in einem Schlaraffenland. Zudem hätten Drogenkonsum, Gewalt, Prostitution und Aids beunruhigende Ausmasse angenommen, erzählt der ehemalige Guerrillero. «Die Polizei ist Komplize des Verbrechens geworden. Für die Jugend gibt es keine Perspektive.»

Eng mit der Migration verbunden ist in El Salvador die dramatisch zunehmende Gewalt - vor allem unter den Jugendlichen, die zumeist in vaterlosen Familien aufwachsen. Mit achtzehn Morden pro Tag ist es zum Land mit der höchsten Mordrate in Lateinamerika geworden. KritikerInnen beschuldigen die Regierung, die Gewaltzunahme für ihre Zwecke zu benutzen. Unter dem Vorwand der Gewaltbekämpfung würden soziale Organisationen unterdrückt. Die Sicherheitskräfte unterstehen keiner demokratischen Kontrolle.

Zwang zur Emigration

Intipuca ist ein Symbol für die Nachkriegsrealität von ganz El Salvador. Mindestens zwanzig Prozent der salvadorianischen Bevölkerung leben in den USA und sorgen mit ihren Überweisungen für etwa siebzig Prozent der Deviseneinnahmen. Die Remesas werden zu einem grossen Teil für importierte Konsumgüter gebraucht und nicht investiert. Sie helfen zu Hause, Armut und Ungleichheit zu mildern. «Migration und Remesas», so der Menschenrechtsanwalt David Morales, «dienen als Ventil und entlasten die nationale Oligarchie. Diese ist vom Druck befreit, mit Reformen in der Landwirtschaft die nationale Produktion wieder aufzubauen, für Arbeitsplätze und eine funktionierende Marktwirtschaft zu sorgen.»

Die Folgen dieser Auslagerungspolitik sind im Dorf Cerro Verde zu beobachten. Es ist rund eine Autostunde von Intipuca entfernt. Auf dieser ehemaligen Kaffeeplantage gibt es für die rund 300 Menschen seit dem Zusammenbruch des Kaffeeexports in den neunziger Jahren keine Arbeit mehr. Die nächste Ortschaft mit einem Markt erreichen die EinwohnerInnen nur in einem Fussmarsch von anderthalb Stunden. Auswanderung ist für die Menschen von Cerro Verde keine Alternative: Sie sind zu arm, die 5000 bis 7000 US-Dollar für die SchlepperInnen zu bezahlen, die sie nach Mexiko und von dort in die USA schleusen könnten. Die Region von Cerro Verde war 2001 stark von einem Erdbeben betroffen. Das Dorf kann bis heute nur dank Wiederaufbauprojekten des Schweizerischen Roten Kreuzes notdürftig überleben.

«Bienvenido a Casa»

Seit gut einem Jahr spielen sich auf dem internationalen Flughafen von San Salvador traurige Szenen ab. Jede Woche landen fünf Flugzeuge aus Houston oder Los Angeles mit etwa 500 SalvadorianerInnen, die wegen fehlender Dokumente oder Verstössen gegen das Gesetz aus den USA ausgeschafft worden sind. Sie werden von einer staatlichen Institution namens «Bienvenido a Casa» empfangen, erhalten eine warme Mahlzeit und Gratistransport in ihre Gemeinde. Dort müssen sie dann selber sehen, wie es weitergehen soll. Die Anzahl der Deportierten, so glauben ExpertInnen, könnte bald die Zahl jener übertreffen, die emigrieren.

Als Folge der Wirtschaftskrise in den USA beginnen zudem die Remesas zu sinken. Noch 2008 meldete die Zentralbank El Salvadors eine Zunahme von 2,5 Prozent im Vergleich zu 2007. Seit einigen Monaten gibt es jedoch eine spürbare Abwärtsbewegung. Allein im Januar haben die MigrantInnen, gemessen am Vorjahr, 8,4 Prozent weniger US-Dollar in die Heimat geschickt.

Wie angespannt die Stimmung in El Salvador ist, ist auch bei einem Gespräch mit Don Enrique Altamirano spürbar, dem Herausgeber der Zeitung «Diario de Hoy» und einem wichtigen Ideologen im Lager der Arena. «Stellen Sie sich vor, in Deutschland käme die Baader-Meinhof-Bande an die Macht. Das blüht El Salvador, wenn die FMLN gewählt wird. Mein Land steht vor der Alternative: Zivilisation oder Chaos.» Entscheidende historische Tatsachen würden in Europa nicht zur Kenntnis genommen, meint Altamirano, der in den sechziger Jahren in Deutschland studiert hat. Zum Beispiel: Das Friedensabkommen zwischen der salvadorianischen Regierung und der FMLN sei von den USA diktiert worden. Nach ihrem Sieg im Kalten Krieg hätten die USA den Konflikt in El Salvador so schnell wie möglich beenden wollen. Der Bericht der Uno, in dem die Armee und die Todesschwadronen für einen Grossteil der Gewaltakte während dem Krieg verantwortlich gemacht werden, trage die Handschrift der «Roten». Laut Altamirano geht auch der politische Mord an Erzbischof Óscar Romero von 1981 auf das Konto der «Roten» - aus dem einfachen Grund, so die Logik Altamiranos, dass die Linke daraus am meisten Kapital geschlagen habe.

Altamirano und ein Grossteil der Arena-Führung stecken immer noch in den geistigen Schützengräben der achtziger Jahre. Damals galt es, in El Salvador «eine indirekte bewaffnete Aggression durch die kommunistischen Mächte Kuba und Sowjetunion» abzuwehren, wie es der frühere US-Aussenminister Alexander Haig bezeichnete. Die US-Regierung wollte ein zweites Nicaragua verhindern. Bis zu einem gewissen Grad war sie erfolgreich: El Salvadors alte Oligarchie der Kaffeeexporteure wurde durch eine in den USA ausgebildete Unternehmerschicht ersetzt, die sich in - häufig gefälschten - Wahlen legitimieren konnte. Demokratie wurde in El Salvador gleichbedeutend mit neoliberaler Wirtschaftsordnung und einem schwachen Staat, den die alten Seilschaften wie eh und je leicht infiltrieren konnten. Über die Einführung des US-Dollars als salvadorianische Währung (2001) und mit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens Cafta (2005) geriet das Land in eine für Lateinamerika einzigartige Abhängigkeit von Washington.

Der sichere Wandel

Das wird sich nicht so schnell ändern. So sagte Nidia Díaz, ehemalige Guerillakommandantin und Abgeordnete der FMLN: «Die Beziehungen zu den USA müssen für uns Priorität haben. Aber wir wollen keine Kolonie sein.» Entsprechend heisst der Wahlkampfslogan der FMLN «Cambio seguro» - sicherer und kein abrupter Wandel.

Die starke wirtschaftliche Abhängigkeit El Salvadors von den USA, die Dominanz der Arena sowie ihrer Verbündeten in der Wirtschaft, den Medien und im Parlament machen tiefgreifende Reformen nach einem möglichen Wahlsieg der FMLN unmöglich. «Die wichtigste Reform», so die realistische Einschätzung des Menschenrechtsanwalts David Morales, «wäre im besten Fall ein Wandel der politischen Kultur.»


Von der Polizei zur Politik

Mauricio Funes, der Kandidat der FMLN für das Amt des Präsidenten, sei ein «Wolf im Schafspelz», behaupten seine GegnerInnen. Ein Vorwurf, den man dem Gegenkandidaten Rodrigo Ávila von der Arena wahrlich nicht machen kann.

Offenbar wusste der 1964 geborene Ávila schon früh, welche Karriere er einschlagen wollte. Rodrigo, dessen Bruder Roberto und Onkel Ricardo zu den Mitgründern der Arena gehörten, trat im Alter von siebzehn Jahren der Arena-Jugend bei. In einem Interview mit der Online-Zeitung «El Faro» sagte Ávila, er sei in den achtziger Jahren in «patriotischen, zivilen» Milizen tätig gewesen. Später studierte er in den USA unter anderem «Polizeiwissenschaft», auch an der Akademie der Bundespolizei FBI.

Nach seiner Rückkehr nach El Salvador wurde Ávila erst Vizedirektor, dann im Alter von dreissig Jahren Direktor der Zivilen Nationalpolizei PNC. Diese Funktion übte er zwischen 1994 und 1999 sowie von 2005 bis 2008 aus. Die PNC ersetzte nach dem Friedensabkommen von 1992 die Militärpolizei und war für die öffentliche Sicherheit zuständig.

Ávila gilt als geistiger Vater der als «Mano Dura» und «Super Mano Dura» bezeichneten Repressionsprogramme, welche die Gewalt bekämpfen sollten. Allerdings wird die PNC beschuldigt, selber Menschenrechte verletzt zu haben und am Drogenhandel sowie an Killerkommandos beteiligt zu sein.

Dass die Gewaltkriminalität in El Salvador dadurch weiter gewachsen ist, ficht Ávila wenig an. Gerade weil die Gewaltspirale weiter zugenommen habe, sei es für das Land notwendig, dass ein ehemaliger Polizeichef die Macht übernehme.

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