Flüchtlingshaus: Pasta von den NachbarInnen

Nr. 11 –

Anerkannte Flüchtlinge aus Afrika sehen sich in Italien gezwungen, Häuser zu besetzen. Besuch in einer ehemaligen Turiner Klinik, wo das Leben hart und der politische Widerstand entschlossen ist.


«Wir sitzen hier. Morgens und nachmittags. Und dann wieder abends. Wir sitzen nur hier vor dem Haus. Wir können nichts weiter tun», sagt Mohammed. Er stammt aus der Westsahara und ist anerkannter Flüchtling in Italien. Nur bedeutet das in Italien nicht sehr viel. «Eigentlich nicht mehr, als dass man diesen Zettel bekommt», sagt Scheik. Der elegant gekleidete Mann spricht ein sehr gewähltes Französisch und wedelt mit einem Plastikmäppchen. Darin sein Ausweis: «Rifugiato politico», er hat in Italien politisches Asyl erhalten. «Mit dem Wisch kann ich in der Kirche nebenan etwas zu essen holen, und auch das nur einmal im Tag», sagt er. Sonst nützt der Ausweis nicht viel. Vom italienischen Staat bekommt er dafür eine Liste der Notschlafstellen.

Besetzte Klinik

Die AfrikanerInnen in Turin helfen sich darum selbst. Im November 2007 besetzen achtzig Flüchtlinge aus Darfur eine leer stehende Feuerwehrstation in der Via Bologna. Am 12. Oktober des vergangenen Jahres dann, der Platz in der Feuerwehrkaserne reicht längst nicht mehr für alle, besetzt eine andere Gruppe ein paar Strassen weiter ein leer stehendes Spital, die Clinica San Paolo am Corso Peschiera. Diesmal kommen die BesetzerInnen mehrheitlich aus Somalia.

Sie hängen Transparente an die Balkongeländer, legen eine provisorische Wasserleitung und ziehen Strom durch das baufällige Haus. Die AktivistInnen vom nahe gelegenen Gabrio, einem selbstverwalteten Kulturzentrum, unterstützen sie.

Und dann kommen sie alle: Das besetzte Haus zieht Flüchtlinge aus allen Städten Norditaliens an. Mittlerweile sind es über 400, die in den beiden besetzten Häusern leben. Es werden täglich mehr, und sie kommen aus ganz Europa.

Mit dem europäischen Abkommen von Dublin - dem auch die Schweiz seit letztem Dezember angehört - haben Asylsuchende nur noch das Recht auf ein einziges Verfahren: im Land, in dem sie den ersten Asylantrag einreichen oder in das sie als Erstes eingereist sind. Für viele ist das Italien, und das ist meist eine fürchterliche Sackgasse. Wie für Scheik: Er hat versucht, in andere europäische Länder weiterzureisen, und ist wieder zurückgeschafft worden - auch aus der Schweiz. «Die Italiener wollen uns nicht, das ist eindeutig, wir bekommen weder Obdach noch Nahrung noch Arbeit», sagt Scheik. Und dann hat er nicht einmal das Recht wegzugehen. Manchmal wünsche er sich zurück nach Hause. Dasselbe sagt auch der 32-jährige Somalier Daud, eine Art Sprecher der Clinica-BewohnerInnen. Er sagt es laut und wütend und wiederholt es immer wieder, zitiert die Genfer Flüchtlingskonvention, zeigt Videos, verteilt Pressetexte und Flugblätter. Währenddessen klopft Scheik immer wieder auf das Notizheft und sagt: «Schreib das auf, vergiss ja nichts!»

Die meisten hier am Corso Peschiera haben zuerst einen Krieg, eine lebensgefährliche Überfahrt auf dem Meer und dann ein Aufnahmelager, wie jenes in Lampedusa, überlebt. Lampedusa ist wie alle Lager hoffnungslos überfüllt, und gerade hat der italienische Innenminister Roberto Maroni beschlossen, dass es nicht mehr als Durchgangsstation - von der aus die Asylsuchenden weiter in ein Asylzentrum reisen - sondern direkt als Abschiebestation betrachtet werden soll. Dann wollte Maroni auf einen Schlag alle tunesischen Flüchtlinge in Lampedusa loswerden, über 300 Menschen, «um Platz zu schaffen». Darauf zündeten TunesierInnen das Lager am 18. Februar an. Sechzig Menschen wurden verletzt, und das Lager bietet seither nur noch halb so vielen Flüchtlingen Platz.

Das Sicherheitspaket

Für Maroni kein Grund zum Rückzug, ganz im Gegenteil: Im italienischen Senat ist Anfang Februar ein «pacchetto sicurezza», ein sogenanntes Sicherheitspaket, beschlossen worden. Es sieht unter anderem vor, dass illegaler Aufenthalt mit bis zu vier Jahren Gefängnis geahndet werden soll, dass der Erhalt der Aufenthaltsbewilligung an einen Italienischsprachtest gebunden ist, die Gebühr für die auf ein halbes Jahr befristete Aufenthaltsbewilligung neu bis zu 200 Euro kosten kann, dass alle Obdachlosen in einem Register eingetragen sein müssen, und dass patrouillierende Bürgerwehren explizit gefördert werden.

Maurizio, ein Aktivist vom Kulturzentrum Gabrio, erklärt, was das Sicherheitspaket bedeutet: «Im Grunde genommen betrifft es alle, Italiener und Migranten. Aber es ist wie üblich: Am stärksten trifft es die Schwächsten.» So soll das Einschreiben auf der Gemeinde, die «residenza», nur noch möglich sein, wenn der Wohnraum gewissen gesetzlichen Anforderungen entspricht - in der Grösse beispielsweise: «Unzählige bescheidenere italienische Wohnungen erfüllen dieses Gesetz nicht!», sagt Maurizio. Nur mit der «residenza» bekommen die Leute eine Arbeitsbewilligung, nur die «residenza» gibt ihnen ein Recht auf medizinische Leistungen.

Gefährliche Rückschaffungen

Die Sans-Papiers trifft es noch schlimmer: Internationale Geldtransfers dürfen nur mit Aufenthaltsbewilligungen abgeholt werden, Ehen mit Sans-Papiers sind verboten, Vaterschaften können ohne Papiere nicht anerkannt werden, ÄrztInnen müssen Sans-Papiers gar den Behörden melden. «Sans-Papiers begehen durch ihren Aufenthalt in Italien ein Verbrechen, und wer Kenntnis von einem Verbrechen hat, ist zur Denunziation verpflichtet», sagt Maurizio.

Weil das Kulturzentrum Gabrio fast nicht mehr weiss, wo es die ständig ankommenden Flüchtlinge noch unterbringen soll, und um die europäischen Staaten vor Rückschaffungen nach Italien zu warnen, haben die Turiner AktivistInnen Alarm geschlagen und Asylhilfeorganisationen in ganz Europa kontaktiert. Darum ist Vroni Zimmermann von der Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau mit zwei KollegInnen nach Turin gekommen, genauso wie die Baslerin Anni Lanz von Solidarité sans frontières und die Bernerin Yvonne Zimmermann von der Schweizerischen Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht. Sie wollen sehen, wohin die Rückschaffungen aus der Schweiz führen und in der Schweiz reagieren können - etwa mit der Forderung, Kranke seien nicht mehr nach Italien zurückzuschaffen.

Vroni Zimmermann wurde nicht nur von den Gabrio-Leuten, sondern parallel dazu auch von Hussein alarmiert. Er ist ein junger Somalier, der aus dem Empfangszentrum in Kreuzlingen nach Italien zurückgeschafft wurde, wo er ein anerkannter Flüchtling ist. Nach einem seiner Anrufe aus Turin hat sich Vroni Zimmermann in den Zug gesetzt, um das besetzte Haus zu sehen, in dem Hussein lebt. Nach der Rückschaffung aus der Schweiz haben Hussein und seine Frau noch einmal versucht weiterzureisen. Bis nach Finnland sind sie gekommen, von dort sollten sie wieder ausgeschafft werden. Husseins Frau war inzwischen schwanger - bis zur Geburt darf sie nun alleine in Finnland bleiben. Dann muss sie Hussein nach Italien folgen.

Wein wärmt am schnellsten

«Casa Bianca» («Weisses Haus») haben die BewohnerInnen den düstersten und engsten Flügel der Klinik genannt, als ob Barack Obamas Einzug in jenes von Washington ihnen jene Hoffnung zurückgäbe, die sie in Italien völlig verloren haben. Sie kämpfen zwar, aber im Wissen, dass sich nicht viel ändern wird. Die Männer teilen sich Zimmer im düsteren Erdgeschoss und im dritten Stock; die Frauen leben im zweiten Stock. In einem Zimmer von etwa zehn Quadratmetern wohnen fünf schwangere Somalierinnen. Gekocht wird in allen Zimmern, sofern gerade Strom für die kleinen Herdplatten verfügbar ist. Fliessendes Wasser gibt es kaum. Obwohl eine Wasserleitung angezapft und mit Schläuchen in provisorische Duschen gezogen wurde, tröpfelt das Wasser nur spärlich und eiskalt. Geheizt wird ohnehin nicht. Auch darum liegen überall leere Weinkartons herum: Wein wärmt am schnellsten. Am Tag zuvor hat sich ein Siebzehnjähriger die Arme schwer verbrannt, als er die angezapften Stromkabel über den Balkon legen wollte, nun liegt er im Spital.

Mit der ärztlichen Versorgung hat die Clinica San Paolo übrigens Glück gehabt, erzählt Gabrio-Aktivist Maurizio, der selbst in einem Spital als Pfleger arbeitet: «Dieses Jahr ist es uns erstmals gelungen, mit dem Gesundheitsministerium für die Flüchtlinge eine Art ‹residenza› auszuhandeln.» Damit haben sie Anspruch auf kostenlose medizinische Versorgung, wie sie allen ItalienerInnen und MigrantInnen mit «residenza» zusteht.

Im Anzug an die Demo

Im obersten Stock der Klinik werden gerade Transparente gemalt. Am nächsten Nachmittag treffen sich die DemonstrantInnen an der Porta Palazzo, dem Quartier der MigrantInnen in Turin. Heute sind auch die Sans-Papiers sicher - hier leben so viele von ihnen, dass eine Polizeikontrolle direkt zur Revolte führen würde. Die BesetzerInnen kommen alle gemeinsam. Ein paar junge Männer haben sich in Schale geworfen. Im Anzug schreiten sie vom grossen Freiluftmarkt zur Piazza Castello, dem Regierungssitz, und wieder zurück. Es seien 3000 Menschen gekommen, sagen die OrganisatorInnen. Begleitet werden sie von der Polizei mit unzähligen Kastenwagen. Bei der letzten Demo der MigrantInnen in Turin war es zu Zusammenstössen, Verletzten und Verhaftungen gekommen. Die BesetzerInnen waren Ende Januar auf die Piazza Castello marschiert, um Unterkünfte und Arbeit zu fordern und um zu verhindern, dass die Klinik geräumt wird. Der Besitzer, der vor zehn Jahren mit seinem Spital Konkurs ging und das Gebäude seither leer stehen liess, will die BesetzerInnen loswerden. Es seien Patientenunterlagen verschwunden, behauptet er. Warum diese zehn Jahre lang in der leeren Klinik liegen geblieben sind, fragen sich die zahlreichen JournalistInnen, die über die Besetzung schreiben, nicht. Dafür lassen sie nach solchen Vorkommnissen immer wieder mal Mauro Borghezio zu Wort kommen, ein Europaparlamentarier der Lega Nord, der dadurch bekannt wurde, dass er Zugsitze, auf denen zuvor NigerianerInnen gesessen hatten, mit Desinfektionsspray besprühte. Er will die besetzten Häuser räumen. Flüchtlinge müssen raus aus dem Land. Alle.

An der Demo zitiert Daud den Artikel 23 der Genfer Flüchtlingskonvention: «Die vertragschliessenden Staaten werden den Flüchtlingen, die sich rechtmässig in ihrem Staatsgebiet aufhalten, auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und sonstigen Hilfeleistungen die gleiche Behandlung wie ihren eigenen Staatsangehörigen gewähren.»

Gut aufgenommen im Quartier

«Wenigstens im Quartier sind die Flüchtlinge sehr gut integriert», sagt Claudio, ein weiterer Aktivist des Kulturzentrums. Das hat viel mit dem besetzten Haus des Gabrio und dessen Konzertlokal, Bar, Sporthalle und Kino zu tun, das in den letzten fünfzehn Jahren viel Anerkennung gewonnen hat. So bringen die NachbarInnen auch mal Decken, Matratzen oder eine Familienpackung Pasta und Tomatensauce für die Flüchtlinge vorbei. Dank der guten Organisation der AktivistInnen ist der Kampf in Turin auch fast lückenlos dokumentiert: Besetzungen, Demos, Begegnungen mit den Behörden, alles ist auf Video aufgenommen und online gestellt. Dort gibt es auch eine Tagesschaureportage über die erste Besetzung in Turin, jene der Feuerwehrskaserne in der Via Bologna. «Die anerkannten Flüchtlinge stehen offiziell unter humanitärem Schutz des italienischen Staates», sagt der Tagesschausprecher einleitend. Was auch immer dieser Schutz wert ist, hier in Turin.

www.youtube.com/infoautto

www.csoagabrio.info

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