Genossenschaften: Stumpen für die Massen

Nr. 13 –

Einst war die Förderung von Genossenschaften in der Zürcher Kantonsverfassung verankert. Mit der 68er-Bewegung erhielten sie neue Impulse. Heute fristen die Inseln der Zukunft ein eher isoliertes Dasein.


Vom selbstverwalteten alternativen Kleinbetrieb bis zum Grossverteiler: Genossenschaften prägen die Wirtschaft mit. In einem Land mit grosser genossenschaftlicher Tradition lohnt sich in Zeiten der Krise ein Blick zurück in die Geschichte dieser Rechtsform. Denn wer weiss, vielleicht werden daraus bald wieder «Inseln der Zukunft», die aufzuschütten an Popularität gewinnt. Oder entlassene ArbeiterInnen erinnern sich dieser Methode der Selbsthilfe.

Die Genossenschaft ist eine Rechtsform, eine Körperschaft, die «die Förderung oder Sicherung bestimmter wirtschaftlicher Interessen ihrer Mitglieder in gemeinsamer Selbsthilfe bezweckt». Jeden Gewinn, den die Genossenschaft erarbeitet, muss sie an ihre Mitglieder verteilen. Keine Aufhebung, aber eine Einschränkung des Profitprinzips.

Konsumvereine für Unfreie

In der Eidgenossenschaft steckte von Beginn weg die Genossenschaft. Das war zuerst einmal ein politisches Bündnis, aber dann auch eine soziale Institution: Alpkorporationen, Allmenden, Sennereigenossenschaften. Die freie Vereinigung der Freien. Die Unfreien hatten freilich das Nachsehen.

Die Zahl der Unfreien wuchs mit der industriellen Revolution. Am 18. Oktober 1851 zeichnete der Sozialreformer Karl Bürkli den ersten Aktienschein des Konsum-Verein Zürich. Vorangegangen waren Versuche in Genf, Glarus und Basel, die sich ihrerseits auf die englischen Pioniere von Rochdale beriefen. Es ging darum, den verarmten Massen verbilligtes Brot und gelegentlich auch verbilligte Stumpen anzubieten.

Bürkli initiierte zudem die Zürcher Kantonalbank - gegen Alfred Eschers Schweizerische Kreditanstalt und unter dem Slogan «Volksbank statt Herrenbank». Die Reform des Banken- beziehungsweise Kreditwesens ging mit dem Genossenschaftsprinzip parallel, angeregt durch frühsozialistische Theorien, im Falle der ZKB aber eher kleingewerblich orientiert. Auf Vorschlag von Bürkli schafften es die Genossenschaften in die 1869 angenommene Zürcher Kantonalverfassung: «Der Staat fördert und erleichtert die Entwicklung des auf Selbsthülfe beruhenden Genossenschaftswesens.» Von solcher Progressivität lässt sich heute nur noch träumen.

Eine wacklige dritte Säule

Dabei hatten die Genossenschaften zur Strategie des Kampfs um die Gegenmacht gehört. Sogar Karl Marx beurteilte die frühe Kooperativbewegung als Sieg der Arbeit über das Kapital. «Der Wert dieser grossen Experimente [der Kooperativfabriken] kann nicht überschätzt werden», erklärte er 1864 in der Gründungsadresse der Internationalen Arbeiterassoziation, wobei er allerdings beifügte, sie bedürften der Entwicklung auf nationaler Stufenleiter. 1870 gab es in der Schweiz rund vierzig Arbeiter-Produktivgenossenschaften.

Doch mit der Entwicklung der kapitalistischen Fabrikindustrie und den enttäuschenden Erfahrungen der ersten Genossenschaften setzte sich die marxistische Strategie durch, die radikale Umwälzung der Wirtschaft anzustreben. Die Arbeiterselbsthilfe wurde durch die Kampfmittel der Gewerkschaften und der unabhängigen Arbeiterpartei abgelöst. 1895 scheiterte ein Antrag, die Selbstorganisation als Hauptstrategie im Programm der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zu verankern. Stattdessen wurde auf die Machteroberung im Staat gesetzt. Zwar wurden Genossenschaften neben Partei und Gewerkschaften als dritte Säule beschworen, aber praktisch war diese Säule ziemlich wacklig. Höchstens Druckereien hielten sich die GenossInnen als Genossenschaften. Das galt auch für die reformistisch werdende Arbeiterbewegung.

Die Genossenschaft als Ziel und Weg wurde in der religiös-sozialen Bewegung aufrechterhalten. Dora Staudinger erläuterte in der Schrift «Ein sozialistisches Programm» (1919), dass die sozialistische Wirtschaft eine genossenschaftliche sein werde. Deren Basis sollten die Konsumgenossenschaften bilden, ergänzt durch Produktivgenossenschaften. Gerade für die Frauen würden durch die Konsumgenossenschaft Haushalt und Arbeitswelt verknüpft. In Genossenschaften existiere ein anderes Verhältnis zur Arbeit, und die Entfremdung werde gewissermassen aufgehoben. Die SP nahm genossenschaftliche Anregungen in ihre 1942 vorgestellte Programmergänzung «Neue Schweiz» auf, die aber, nach der Einführung der Sozialversicherungen und der einsetzenden Nachkriegskonjunktur, zu Makulatur wurde.

Soziales Kapital

Die genossenschaftliche Selbsthilfe blieb pragmatisch: verbilligte Konsumgüter, Versicherungen gegen Krankheit und Tod, später Hilfe beim Wohnungsbau. Konsumgenossenschaften begannen zu florieren. Der Allgemeine Consum-Verein Basel, 1865 gegründet, erwies sich als erfolgreicher als die Zürcher Konkurrenz und dominierte den 1890 entstandenen Verband Schweizerischer Konsumvereine, der 1970 zur heutigen Coop umbenannt wurde. Noch weiter, auf die 1825 gegründete Murtener Mobiliar-Assekuranz-Kasse, geht die Schweizerische Mobiliar zurück.

Die Landwirtschaft, einst Vorreiterin, hatte organisatorisch erst mit der Agrarkrise in den 1880er Jahren nachgezogen. Die meisten landwirtschaftlichen Genossenschaften sind mittlerweile bei der Fenaco mit den Detailhandelsketten Volg und Landi gelandet. Unterstützung erhielten sie durch die Raiffeisenbanken, die um 1900 von Deutschland aus in der Schweiz Fuss fassten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden zudem Wohnbaugenossenschaften, deren Blüte allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann.

Personell waren die Konsum- und Wohnbaugenossenschaften stark mit der Arbeiterbewegung verbunden, ideell immer weniger. 1941 wandelte Gottlieb Duttweiler seine Migros AG in eine Genossenschaft um. Nach anfänglichem Misstrauen liebäugelten die Linke und Duttweiler kurz miteinander, was dieser mit dem Begriff des «sozialen Kapitals» ausdrückte.

Ganzheitlich, alternativ

Harziger lief es im Produktionsbereich. Schon in den Anfängen war die Selbsthilfe zumeist Nothilfe gewesen. Arbeitslose taten sich zusammen, Angestellte, deren Betrieb geschlossen werden sollte, führten ihn als Genossenschaft weiter. Das war als eine Art Arbeitslosenversicherung politisch umstritten, weil Unternehmer und Staat aus der Pflicht entlassen wurden.

1932 half der Gewerkschaftsbund, den Schweizerischen Verband sozialer Baubetriebe, bestehend aus siebzehn Genossenschaften, zu gründen. Deren Schwergewicht lag in der weniger kapitalintensiven Baubranche. 1956 umfasste der Verband 46 Mitgliederbetriebe, danach ging es langsam bergab. Heute hat er als Verband genossenschaftlicher Bau- und Industrieunternehmungen fünfzehn Mitglieder: Maler- und Schreinerbetriebe, Metall- und Gartenbau.

Als gesellschaftspolitisches Konzept erhielt die Genossenschaftsbewegung mit der 68er-Bewegung neue Impulse. Unter dem Stichwort Wirtschaftsdemokratie wurden die beiden Strategien Mitbestimmung und Selbstverwaltung verfochten. Genossenschaft wurde nun zumeist als selbstverwalteter Betrieb übersetzt. Als 1979 eine Bestandesaufnahme der Bewegung erschien, war sie mit einem Fragezeichen versehen: «Inseln der Zukunft?» Neue Betriebe hatten sich vor allem in Nischen gebildet, im expandierenden Dienstleistungssektor, im Gastrobereich, in den Medien. Nicht mit der traditionellen Arbeiterbewegung verbunden, zielte ihr Anspruch zuweilen über die Realpolitik hinaus auf einen ganzheitlichen alternativen Lebensentwurf: die Aufhebung der Entfremdung, wie es schon Dora Staudinger formuliert hatte.

1980/81 nahm die SP den abgerissenen Faden auf und rückte die Selbstverwaltung ins Zentrum einer programmatischen Debatte. Das gültige SP-Programm von 1982 nennt sie immer noch: «Selbstverwaltung ist ein grundlegendes Prinzip, mit dem wir die Demokratie erweitern und vertiefen wollen.» Dazu heisst es schlicht und ergreifend: «Wir setzen uns für selbstverwaltete und genossenschaftliche Betriebe ein.» Praktische Auswirkungen dieser Sätze lassen sich kaum feststellen.

Genossenschaftliches Vermögen

In der Schweiz gibt es gegenwärtig rund 13 000 Genossenschaften, das entspricht drei Prozent der eingetragenen Firmen. Davon sind 5300 landwirtschaftliche und 1700 Wohnbaugenossenschaften. Dem industriellen Sektor lassen sich 430 Genossenschaften zuordnen, dem Dienstleistungssektor 1900, inklusive 600 Raiffeisenbanken. Von der Wirtschaftskraft her sind vor allem Coop und Migros bedeutsam, und sie weisen mit 2,5 beziehungsweise 2 Millionen auch die grössten Mitgliederzahlen auf. Die Wohnbaugenossenschaften verwalten gut fünf Prozent des Wohnungsbestandes in der Schweiz, in den Städten Biel und Zürich über achtzehn Prozent.

Die Grossgenossenschaften erlauben eine bescheidene Mitsprache und bewirken eine gelinde Zähmung des Kapitals. Die Schweizerische Mobiliar zum Beispiel fährt eine vorsichtige Geschäfts- und Anlagestrategie. Das Gegenbeispiel bildet die Schweizerische Rentenanstalt, 1997 aus einer Genossenschaft in eine AG und zur Swiss Life umgewandelt, seither im Börsenkasino aufgestiegen und abgestürzt.

Wer mehr erwartet: Der «Migros-Frühling», der sich nach 1980 für grundlegende Änderungen einsetzte, ist längst verblüht, und die 2003 entstandene Nachfolgeorganisation Sorgim kommt nicht richtig in Fahrt. Die Migros engagiert sich «für eine umweltgerechte Produktion und faire Arbeitsbedingungen», anerkennt aber nicht einmal die Gewerkschaften. Und Coop, auf «marktwirtschaftliche, ökologische und ethische Grundsätze» verpflichtet, hat Verdienste im Ökobereich, drückt das soziale Gewissen aber vor allem beim Sponsoring aus.

84 500 «Kunden»

Bleibt das Salz im Brot: die alternativen Kollektive. «Die andern gelben Seiten», das Branchenverzeichnis der WOZ, listen rund hundert alternative Genossenschaften auf, im Handwerk, in den Medien, in der Kultur. Als grösstes alternatives Unternehmen gilt mittlerweile Mobility, die Carsharing-Genossenschaft, mit 84 500 «Kunden». Natürlich, miteinander fahren ist besser als alleine, doch radikal und alternativ mag man das nicht wirklich nennen.

Zum Trost: Selbstverwaltung ist ein ständiger Prozess. Sie kann nur in der Praxis geübt werden. Was die Gefahr des Scheiterns einschliesst. «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.» (Samuel Beckett) Und als kleinste solidarische Tat bleibt jederzeit die Unterstützung der Genossenschaft infolink, der Herausgeberin der WOZ.



Literatur zum Thema

  Toni Holenweger / Werner Mäder (Hg.): «Inseln der Zukunft? Selbstverwaltung in der Schweiz». Limmat. Zürich 1979. 327 Seiten. Vergriffen.

  Hans-Ulrich Schiedt: «Die Welt neu erfinden. Karl Bürkli und seine Schriften». Chronos. Zürich 2002. 384 Seiten. 58 Franken.

  Robert Purtschert (Hg.): «Das Genossenschaftswesen in der Schweiz». Haupt. Bern 2005. 347 Seiten. 68 Franken.

Wirtschaft zum Glück

Dieser Artikel ist der zweite Beitrag der neuen WOZ-Serie «Wirtschaft zum Glück», in der wir in unregelmässiger Folge nachhaltige Produktions- und Eigentumsformen, neue Ideen für eine neue Ökonomie und ökologisch sinnvolle Projekte vorstellen. Finanziert wird diese Serie aus einem Legat des früheren Nachhaltigen Wirtschaftsverbandes WIV.