Zuckerbäcker: Süss ists nur in der Ferne

Nr. 13 –

In ihrem Bündner Tal fanden die SchamserInnen früher kein Auskommen mehr. Sie zogen in die Fremde, buken Kuchen, eröffneten exklusive Konditoreien und kamen so zu Ruhm und Ehre. Und wie steht es heute um das Schams?


Wer von Thusis über den San Bernardino ins Tessin fährt, fährt durch das Schams an Zillis und Andeer vorbei. Der Massentourismus zieht an diesem Bündner Tal zwischen der Viamala und der Roflaschlucht vorbei. Verstreut liegen die Dörfer im Tal und am Hang des Schamserberges, unter weiten Alpen und dem mächtigen Piz Beverin. Skigebiete gibt es keine; das Schams, romanisch Val Schons, ist bis heute von der Landwirtschaft geprägt.

Donata Clopaths Haus steht am Dorfeingang von Donat. Als eine der ersten Frauen im Tal übernahm sie vor zwanzig Jahren einen Hof. Das zugehörige Haus ist gross und mächtig, eher ein Herren- als ein Bauernhaus. Und es ist nicht das einzige seiner Art im Schams. War die Talschaft einmal reich?

Heute ist sie es jedenfalls nicht mehr. Zwar ist das Thermalbad in Andeer bei italienischen TouristInnen beliebt, und der geplante Regionale Naturpark Beverin soll dem Wander- und Naturtourismus einen Schub geben. Viele BäuerInnen produzieren biologisch, und die Sennerei Andeer gewinnt mit ihrem Biokäse internationale Preise. Auch administrativ versucht das Schams einen Neuanfang: Seit Anfang Jahr sind die drei Gemeinden Andeer, Clugin und Pignia zu einer verschmolzen: Andeer, mit 880 EinwohnerInnen auf 46 Quadratkilometern. Dennoch droht zunehmend Abwanderung, das Gebiet gilt als «potenzialarm».

Donata Clopath widerspricht. «Ich kann das Wort potenzialarm nicht mehr hören. Neuerdings hören wir es hier oft. Doch ich weiss gar nicht, was die Leute haben. Uns geht es gut. Unsere Landwirtschaft funktioniert, hat Zukunft und ist nachhaltig.» Und die Abwanderung? «Das geht hin und her. Im Moment gibt es wieder einige Junge, die den Hof der Eltern übernehmen. Sie ziehen den eigenen Betrieb einer fremdbestimmten und entfremdeten Arbeit vor.»

«Abneigung gegen das Handwerk»

Der «potenzialarme Raum» steht im Kontrast zu den prächtigen Häusern im Schams. War es denn hier früher so viel besser? Gab es so viel mehr Verdienstmöglichkeiten? Die Antwort darauf ist ganz klar Nein. Das Schams ist schon lange eine landwirtschaftlich geprägte Gegend. Der Andeerer Pfarrer Mattli Conrad meinte 1808, dass die Schamser eine grosse «Abneigung gegen das Handwerk» hätten, mit einer einzigen Ausnahme: das Zuckerbäckerhandwerk, das im Ausland ausgeübt wurde. Die Arbeit in der Fremde erklärt auch die grossen Häuser in Schams: Sie finanzierte diese zu einem guten Teil.

Die Talschaft war schon immer ein Auswanderungsgebiet. Die Formen der Migration aber haben sich im Verlauf der Jahrhunderte geändert. Am Anfang stand die temporäre Auswanderung nach Oberitalien im Zentrum. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verblieben die AuswanderInnen zunehmend in ihrer neuen Heimat und kehrten nicht mehr zurück in ihr Tal. Die Auswanderungsorte lagen nun immer weiter weg - Russland, Amerika, Australien.

Wer im Schams vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sein Bündel packte und in die Ferne zog, verdiente sich sein Leben hauptsächlich mit dem Backen von Kuchen und Süssspeisen. Danach verlor das Zuckerbäckerhandwerk mehr und mehr an Attraktivität. Es wurde von der Auswanderung nach Amerika verdrängt, wo der grössere Teil der Schamser wiederum in der Landwirtschaft tätig war; dort jedoch mit viel höherem Verdienst als in der Heimat.

3000 BündnerInnen in Venedig

Als Phänomen ist die Zuckerbäckerei wohl die interessanteste Form in der Bündner Migrationstradition. Entstanden ist dieser Berufszweig in Venedig, das während Jahrhunderten das Ziel bündnerischer Auswanderung war. Um 1740 hielten sich mehr als 3000 BündnerInnen in der Lagunenstadt auf. Viele von ihnen hatten sich auf den Kaffeeausschank und die Zuckerbäckerei verlegt. Sie gelten sogar als die Ersten, die Kaffee öffentlich als Genussmittel servierten. Bald dominierten sie diesen Geschäftsbereich absolut. Zu dieser Zeit waren von den 42 Konditoreien der Stadt 39 in Bündner Hand. Diese ertragreiche Bündner Aussenwirtschaft fand 1766 ein jähes Ende, als sich Chur und Venedig zerstritten. Die BündnerInnen mussten die Stadt verlassen. Sie mussten erneut ihre Koffer packen und in die Fremde ziehen.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten verteilten sie sich über ganz Europa. In mehr als 250 europäischen Städten eröffneten sie ihre exklusiven Konditoreien und Cafés an bester Lage und erwarben sich bald einen legendären Ruf. Die PuschlaverInnen liessen sich mit Vorliebe in Spanien nieder, die SchamserInnen in Deutschland, Schweden, Polen und Russland. Allein zwischen 1800 und 1825 sind in Lüneburg sieben Schamser Konditoren tätig. Das Kapital, das die Ausgewanderten mit ihren süssen, aufwendig angefertigten Backwaren erwirtschafteten, war so beträchtlich, dass die Zuckerbäckerei auch als Bündner Industrie bezeichnet wurde. Interessanterweise gab es in Graubünden selber keine Zuckerbäcker. Das Handwerk wurde ausschliesslich im Ausland erlernt und betrieben.

Grossvaters Bild in Finnland

Und heute? Wer weiss im Schams noch um seine Zuckerbäckervorfahren? Christian Joos, Präsident des Schamser Talmuseums in Zillis, ist der Grossneffe des Zuckerbäckers Christian Andrea. Dessen Familiengeschichte ist gut dokumentiert - Briefe, Fotos, Erinnerungsstücke, eine russische Garnitur mit Zuckerdose, Kaffee- und Milchkanne aus ziseliertem Silber. Joos reiste für seine Recherchen bis nach Finnland. In Vihti/Jrjala, einem kleinen Dorf irgendwo zwischen Helsinki und Turku, entdeckte er bei finnischen Nachfahren von Schamser Zuckerbäckern nicht nur ein gemaltes Panorama des Schams, sondern auch ein unbekanntes Bild seines eigenen Grossvaters.

Sein Grossonkel Christian Andrea lebte von 1843 bis 1900, stammte aus Pignia und wurde schliesslich Zuckerbäcker und Hotelier in Wyborg im damaligen Russland. Gerade erst vierzehnjährig verliess Christian Andrea sein kleines Heimatdorf und machte sich auf den Weg nach Helsinki, um dort eine Zuckerbäckerlehre zu absolvieren. Bei der Auswahl der Lehrlinge griffen die Zuckerbäcker in der Regel auf ihr bestehendes Beziehungsnetz zurück. So war es wohl auch bei Christian Andrea. Sein Lehrmeister Conrad Clopatt stammt aus dem benachbarten Zillis.

In hundert Tagen nach Odessa

Bevor die zwischen vier und fünf Jahre dauernde Lehrzeit begann, stand erst einmal die lange und kostspielige Reise an. Christian Andrea wird wahrscheinlich einen Teil der Reise mit der Eisenbahn und mit dem Schiff zurückgelegt haben. Noch eine Generation vor ihm hatten die Lehrlinge die weiten Wege zu Fuss bewältigen müssen. Der Engadiner Historiker Dolf Kaiser berichtet von einem Zuckerbäckerlehrling, der in hundert Tagen zu seinem Onkel nach Odessa lief. Kaum angekommen, packte ihn dermassen das Heimweh, dass er sich unverzüglich wieder auf den Rückweg machte.

Nach seiner Lehrzeit arbeitete Christian Andrea ein Jahr in St. Petersburg. 1867 übernahm er von einem Landsmann aus Zillis dessen Konditorei und Café in Wyborg. Ein Jahr darauf verheiratete er sich mit Wilhelmina Silander. Dass seine Gattin nicht aus dem Schams stammte, war aussergewöhnlich: Die Zuckerbäcker verheirateten sich, wenn irgend möglich, mit einer Frau aus der Heimat. Den Zuckerbäckerfrauen kam im Geschäft eine wichtige Aufgabe zu. Sie arbeiteten tatkräftig mit und standen dem Ladengeschäft und dem Café vor, während ihre Männer die Backstuben leiteten.

Ein internationales Netzwerk

Christian Andrea und seine Frau hatten Erfolg, sie weiteten ihr Geschäftsfeld aus und bauten das Hotel Andrea, das sehr bald einen vorzüglichen Ruf genoss. Das Ehepaar kam zu Ehre und Wohlstand. Doch bei weitem nicht jedem Bündner Zuckerbäcker gelang es, ein eigenes Café mit einer Konditorei zu eröffnen. Und wer kein eigenes Geschäft besass, auf den wartete viel harte Arbeit und vergleichsweise geringer Verdienst.

Christian Andrea hielt seine Kontakte mit dem Bündnerland sowohl privat als auch geschäftlich aufrecht. Ausserdem besuchte er als gemachter Mann mehrfach seine alte Heimat. 1900 verstarb Christian Andrea kinderlos in der Fremde.

«Der Einfluss des Öhis aus Russland auf die im Schams gebliebene Familie war gross», berichtet sein Nachkomme Christian Joos. Mehrere Familienmitglieder, auch er selbst, tragen zu Ehren des Onkels und seiner Frau die Namen Christian oder Willhelmine. Immerhin ermöglichte deren heimgeschicktes Geld einiges: Die beiden Onkel von Christian Joos konnten deshalb in die Kantonsschule geschickt werden, seine Mutter und die Tante aufs Institut nach Ilanz.

Der Einfluss der Bündner Zuckerbäcker war erheblich und beschränkte sich nicht nur auf die finanzielle Unterstützung der Heimat. Als Vertreter einer frühen Schweizer Aussenwirtschaft machten sie «Schweizer Qualität» zu einem Begriff in ganz Europa. Ihr internationales Netzwerk und ihr Renommee bildeten die Ausgangslage für die Schweizer Exportwirtschaft.

Nicht nur das Schams ist ressourcenarm, sondern auch der Rest des Alpenbogens. Die Schweiz hatte als Land schon immer einen Standortnachteil, daran hat sich bis heute wenig geändert. Um in den unwirtlichen Bergen überleben zu können, lässt man sich seit Jahrhunderten alles Erdenkliche einfallen. Die Innovation erwächst hier aus Potenzialarmut. Zusammen sind sie ein Motor des schweizerischen Wohlstandes.

www.jacobsfoundation.org



Bücher zum Thema

  Peter Michael-Caflisch: «Hier hört man keine Glocken. Geschichte der Schamser Auswanderung nach Amerika und Australien». Hier und Jetzt. Baden-Dättwil 2008. 576 Seiten. 48 Franken.

  Roman Bühler: «Bündner im Russischen Reich. 18. Jahrhundert bis Erster Weltkrieg». Verlag Desertina. Chur 2003. 670 Seiten. 55 Franken.

  Dolf Kaiser: «Fast ein Volk von Zuckerbäckern». NZZ Verlag. Zürich 1985. Vergriffen.