Rache und Sühne: Wenn Volkes Zorn wächst

Nr. 14 –

Gewaltverbrechen wie jüngst die Ermordung der sechzehnjährigen Lucie lassen in weiten Teilen der Bevölkerung archaische Rachegefühle aufflammen, wie ein Besuch auf der Onlineplattform Facebook zeigt. Dies stellt eine latente Gefahr für langwierig erarbeitete Fortschritte unserer Gesellschaft dar.


Die Tötung von Lucie Trezzini durch den vorbestraften 25-jährigen Daniel Hofmann hat in der ganzen Schweiz grosse Betroffenheit ausgelöst.

Bereits kurz nach dem Verschwinden der Sechzehnjährigen bildete sich auf dem Onlinenetzwerk Facebook eine Gruppe mit dem Namen «Vermisst!! Hilferuf ! Wir suchen nach Trezzini Lucie!!», die sich zum Ziel setzte, sachdienliche Hinweise zur Auffindung der Vermissten zu sammeln. Innert kürzester Zeit traten der Gruppe mehrere Tausend Facebook-NutzerInnen bei und tauschten sich per «Pinnwand» und «Diskussionsforen» über den Verlauf der Ermittlungen aus. Nach dem Bekanntwerden des gewaltsamen Todes schnellte die Zahl der aktiven NutzerInnen massiv in die Höhe. Zahlreiche Kondolenzbekundungen waren dort zu finden, sehr viele Einträge drehten sich aber um die Frage, was mit dem Täter zu geschehen sei und inwiefern die Justiz eine Mitschuld an dem begangenen Verbrechen trage. Innert Wochenfrist wurden mehr als dreissig Facebook-Gruppen gegründet, denen mittlerweile über 100 000 Mitglieder beigetreten sind. Ein Grossteil beschränkt sich zwar darauf, seine Trauer zum Ausdruck zu bringen, doch bildeten sich im Laufe der Ermittlungen vermehrt auch Gruppen, in denen explizit eine massive Verschärfung des Strafrechts sowie eine Verminderung des Rechtsschutzes für vorbestrafte Gewalttäter gefordert werden.

Lebenslanges Leiden

Eine Analyse aller bis am 16. März 2009 über die Facebook-Gruppe «Vermisst!! Hilferuf! Wir suchen nach Trezzini Lucie!!» (die in der Zwischenzeit umbenannt wurde in «In Gedenken an Lucie Trezzini») verbreiteten Meinungsäusserungen führte zu folgendem Ergebnis:

Etwa ein Siebtel der bis zu jenem Zeitpunkt rund 720 Pinnwandeinträge beinhaltet im weitesten Sinne Forderungen gegenüber der Justiz und der Politik in Bezug auf eine erhebliche Verschärfung des Strafrechts. Eine Woche nach Bekanntwerden der Tötung zählte die fragliche Gruppe schon 19 167 Mitglieder. Nebst allgemeinen Forderungen nach härteren Strafen finden sich allein 21 Einträge, die die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern. Gedacht wird jedoch nicht nur an eine staatlich organisierte Hinrichtung, sondern auch an die Wiedereinführung der Lynchjustiz («Warum stellt man so einen nicht auf die strasse und schaut wie weit der kommt; so einen müsste man einfach totschlagen»). Gleichzeitig finden sich zwar Mitglieder, die gegen die Todesstrafe einstehen, jedoch allesamt nicht aus humanitären Motiven, sondern weil sie den angeblich erlösenden Charakter der Todesstrafe als viel zu human ansehen und stattdessen den Täter lebenslang leiden sehen wollen («de Tod wer doch en erlösig. so mensche wo so was schlimmes mached die müssted quelt werda ... lebenslänglich hinter gitter und schlusssentlich einsam sterbe»). Hinzu kommen etwa ebenso viele Mitglieder, die eine lebenslange Verwahrung verlangen, und neun Beiträge beinhalten die Forderung, der Täter sei zu foltern, oder sie wünschen ihm eine Massenvergewaltigung durch homosexuelle Gefängnisinsassen. In sechs Beiträgen wird die Zwangskastration sämtlicher Sexualstraftäter gefordert, und mehrfach findet sich auch der Vorwurf der Verschwendung von Steuergeldern im Falle einer langjährigen Inhaftierung des Täters («Im Gefängniss sollen die nichts von unserem Staat erhalten, nur Wasser und verfaultes Brot»).

Die Beiträge in den der Gruppe angeschlossenen Diskussionsforen drehen sich im Wesentlichen um «Gesetzesänderung», Todes- und Körperstrafen sowie eine «Unterschriftenkampagne für härtere Strafen». Ebenfalls ausgelöst durch die Tragödie um Lucie Trezzini, haben sich neben dieser mitgliederstärksten Hauptgruppe einige selbstständige Gruppen gebildet, die nur die explizite Forderung nach Gesetzesänderungen zum Inhalt haben. So beispielsweise die Gruppen «Mordfall Lucie Trezzini: Appell an die Behörden - Hört entlich auf mit dieser ‹Kuscheljustitz›. wie lange wollt Ihr noch zusehen??», «Lucie Trezzini - 10 Jahre für Mörder??? Ein Witz!!! - In den USA gibt es aus gutem Grund noch Staaten mit der Todesstrafe», «Der Mörder von Lucie Trezzini gehört für immer eingesperrt!!! R.I.P Lucie» und die Mitte März knapp 2000 Mitglieder starke Gruppe «Zwangskastration und nie wieder Hafturlaub für Vergewaltiger !!!!!!! Vergewaltiger und Pädophile sind UNHEILBAR Krank!!!!!!!!!!».

Die eingegangenen Meinungen sind statistisch nicht repräsentativ für das Rechtsbewusstsein der Schweizer Bevölkerung. Eine Auswertung nach streng wissenschaftlichen Kriterien ist daher nicht sinnvoll. Wohl aber lassen sich eindeutige Tendenzen erkennen, die wissenschaftlicher Erklärung bedürfen. Die Reaktionen lassen sich nach Adressatenkreisen folgendermassen ordnen: Empathische Äusserungen richten sich an das Umfeld des Opfers, den Menschen um Lucie Trezzini wird Mitgefühl und Beileid bezeugt. Kritische bis aggressive Äusserungen richten sich gegen den Täter und gegen die Justiz beziehungsweise das Recht und das rechtsstaatliche Verfahren. Insgesamt passen die Reaktionen in das Gesamtbild der letzten Jahre, in denen sich die Stimmberechtigten erfolgreich als treibende Kraft bei der punktuellen Verschärfung des Strafrechts etabliert und diesbezüglich dem Parlament den Rang abgelaufen haben.

Alle Mörder rädern

Gerade aus rechtshistorischer Betrachtung heraus erstaunt, mit welcher Leichtigkeit die Stimmberechtigten an der Urne und gegenüber den Medien die strafrechtlichen Errungenschaften der Aufklärung bewusst oder unbewusst infrage stellen.

Vom Hochmittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit hinein war die Todesstrafe für MörderInnen (jene, die heimlich getötet haben) sowohl für das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung als auch in den Rechtsordnungen eine Selbstverständlichkeit. «Alle morder (...), die sal man alle radebrechen» («Alle Mörder soll man rädern») heisst es im 1230 entstandenen «Sachsenspiegel», der das damalige Gewohnheitsrecht der Sachsen enthält. Um 1640 war der Mord für den sächsischen Rechtsgelehrten Benedikt Carpzov das Kapitaldelikt schlechthin, da er sich gegen den Menschen als Ebenbild Gottes richte und daher die härteste Sanktion erfordere. So zermalmten die Henker über Jahrhunderte hinweg den MörderInnen öffentlich mit einem schweren Wagenrad die Gliedmassen, bevor sie die oft noch lebenden Verurteilten an ihren mehrfach gebrochenen Armen und Beinen an das Rad flochten und dieses aufrichteten, sodass der Körper dann über Monate hinweg den Tieren und der Witterung ausgesetzt blieb. Erfolgte die Tötung nicht heimlich oder heimtückisch, aber ohne Rechtfertigung, so blieb der Täter zwar nicht von der Kapitalstrafe, wohl aber vom Rad verschont.

Dass Blut fliessen musste, war über Jahrhunderte hinweg also völlig unbestritten. Zwar limitiert das Alte Testament mit dem Talionsprinzip («Auge um Auge, Zahn um Zahn») die Rache beziehungsweise die staatliche Strafreaktion, doch wird der Grundsatz, wonach Mörder hinzurichten sind, damit auch durch die Bibel zementiert. Die damaligen rationalen Gründe für die Todesstrafe interessieren hier nicht, wohl aber die Tatsache, dass alle alten Völker das Racherecht kannten und seit den Anfängen der Staatenbildung stets klar war, dass Gewalt mit Gewalt zu ahnden sei. Auch die Christianisierung der europäischen Menschheit vermochte diese Selbstverständlichkeit nicht nachhaltig zu erschüttern.

Es liegt in der Natur des Menschen, dass er auf traumatische Gewalteinwirkung eine adäquate Reaktion fordert. Die Abschaffung der Todesstrafe, die zwar ab dem 18. Jahrhundert ernsthaft diskutiert wurde, aber in vielen europäischen Staaten erst nach dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich erfolgte, muss daher gemeinsam mit der Einführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens als einer der wichtigsten und wertvollsten Zivilisations- und Kulturalisierungsfortschritte bewertet werden. In der Schweiz wurde die Todesstrafe für zivile Strafdelikte 1942 nach langjähriger öffentlicher Diskussion und einer Volksabstimmung abgeschafft.

Die Auswertung der Facebook-Einträge macht nun aber deutlich, dass im Rechtsgefühl, möglicherweise auch im Rechtsbewusstsein vieler gerade auch junger ZeitgenossInnen, die alten Reaktionsmuster weiter wirksam sind. Es ist höchst ungewöhnlich, dass sich junge Leute nach einer Rechtsordnung sehnen, die vor bald sieben Jahrzehnten ab geschafft wurde.

Bemerkenswert ist, dass die Forderung nach der Verhängung grausamer Todesstrafen weniger prominent erhoben wird, seit bekannt geworden ist, dass das Opfer nicht sexueller Gewalt ausgesetzt war. Je grösser die Empörung und das Entsetzen, umso härter die geforderte Strafe, so die archaische Logik von Rache und Sühne. Gerade hier zeigt sich nun aber ein besonders problematisches Spannungsfeld des aufgeklärten Strafrechts: Die Menschen berührt nach wie vor in erster Linie die Tat. Bei den Germanen galt vor über tausend Jahren der Satz «Die Tat tötet den Mann». Die Schuld und die Hintergründe spielten keine Rolle. Diese Sicht hält sich in der Bevölkerung bis heute. Richterin und Richter haben gemäss dem Strafgesetzbuch aber nach der Schuld zu fragen. Oft sind StraftäterInnen, die besonders grausame Straftaten begehen, besonders gestört. Dies führt zu einer Verminderung der Schuldfähigkeit und zu einer Verringerung der Strafe, was im Ergebnis mit dem Rechtsgefühl vieler LaiInnen kontrastiert. Ebenso problematisch erscheint der Massnahmenvollzug: Während JuristInnen und Vollzugsfachleute seit dem 19. Jahrhundert nicht nur bessernde, sondern auch sichernde Massnahmen als Strafergänzungsinstrumente verstehen, die eine Heilung nicht ausschliessen dürfen, begreifen manche ZeitgenossInnen die Verwahrung im Sinne der antiken Einmauerung von VerbrecherInnen oder des Lebendigbegrabens, wie es die Germanen kannten.

Strafrecht, Justiz und die Masse

Die von den Facebook-NutzerInnen geäusserte Kritik an Recht und Justiz betrifft meist nicht einen konkreten, identifizierbaren Verfahrensfehler, sondern bleibt oft im Grundsätzlichen stecken. Dies kann in Anbetracht fehlender juristischer Fachkenntnisse der meisten Facebook-NutzerInnen auch nicht erstaunen. Dennoch verdient die Grundsatzkritik aus juristischer Sicht Beachtung: Zum einen widerspiegelt sie die fehlende Akzeptanz des geltenden Rechts in gewissen, quantitativ nicht zu unterschätzenden Teilen der Bevölkerung. Es lassen sich deutliche Abweichungen zwischen dem geltenden Recht und dem Rechtsbewusstsein beziehungsweise dem Rechtsgefühl der BürgerInnen feststellen. Zum andern muss diese Grundsatzkritik im direkt-demokratischen Rechtsstaat äusserst ernst genommen werden. Volksinitiativen stiessen in der Geschichte des Schweizerischen Bundesstaates meist auf geringe Zustimmung. Von den sechzehn bisher angenommenen Initiativen betreffen allerdings zwei das Strafrecht («Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter», «Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten an Kindern»). Beide Vorstösse wurden in den vergangenen fünf Jahren von der Bevölkerung gegen den Willen von Parlament und Regierung und gegen die einhellige Überzeugung von StrafrechtsexpertInnen gutgeheissen. Nach dem überraschenden Erfolg der Unverjährbarkeitsinitiative vergangenes Jahr bedauerte der Freiburger Strafrechtsprofessor Franz Riklin, dass jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin sich für fachlich versiert halte auf dem Gebiet des Strafrechts. Riklins Freiburger Kollege Marcel Niggli ging in der NZZ gar noch weiter. Er bezeichnete diese Entwicklung aus strafjuristischer Perspektive als Katastrophe. Es sei problematisch, «dass der unzufriedene Bürger in unserer Demokratie nicht nur eine allgemeine Richtung vorgeben, sondern konkret im Strafgesetz herumfuhrwerken kann».

Wer hinter dem direktdemokratischen Rechtsstaat steht, sollte die direkte Mitwirkungsmöglichkeit nicht bedauern. Der schweizerische Verfassungsstaat definiert sich jedoch nicht allein über das direktdemokratische Prinzip, sondern über das harmonische Zusammenspiel des Demokratieprinzips mit verschiedenen anderen gleichrangigen Prinzipien wie etwa dem Rechtsstaats- oder dem Föderalismusprinzip. Im Fall der ständigen Verschärfung des Strafrechts durch den mittels Abstimmungen manifestierten Volkswillen kommt es zu erheblichen Spannungen zwischen dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip, welche das Staatswesen in seinen Grundfesten erschüttern. Umso notwendiger ist es, in einem solchen Staat auf die Fragilität der aufklärerischen Errungenschaften des Strafrechts hinzuweisen und die politisch verantwortlichen AkteurInnen an ihre Überwachungsfunktion zu erinnern.

Die enorme Entwicklung im Bereich der Schutzrechte des Angeschuldigten im Strafverfahren seit den siebziger Jahren, die insbesondere durch die Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention erfolgte, ist von der Bevölkerung bisher wenig zur Kenntnis genommen worden. Die Erfahrungen in den USA nach dem 11. September 2001 haben gezeigt, dass die politische Bereitschaft zum Abbau der verfassungsmässig garantierten Verfahrensrechte auch in einem scheinbar etablierten Rechtsstaat rasch wachsen kann. So werden hart erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften bereitwillig preisgegeben.

Gefährdeter Zivilisationsgewinn

Es gibt keine Hinweise dafür, dass es den Menschen je möglich sein wird, solche (kollektive) Traumata, welche die schweren Verbrechen in der Gesellschaft unter der Vermittlung durch die modernen Medien auslösen, rein rational zu bewältigen. Angesichts der Beharrlichkeit des archaischen menschlichen Rechtsgefühls, insbesondere im Fall von Mord, sind nicht nur das rechtsstaatliche Verfahren und das moderne Strafrecht, sondern überhaupt ein Vierteljahrtausend abendländischer Zivilisations- und Kulturalisierungsgewinn latent gefährdet.


Die Autoren



Lukas Gschwend (41) ist Professor für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht an der Universität St. Gallen sowie Privatdozent für Rechtsgeschichte und -philosophie an der Universität Zürich. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Strafrechts- und Kriminalitätsgeschichte sowie juristische Zeitgeschichte.

Christoph Good (28) ist Doktorand und wissenschaftlicher Assistent am Institut für Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Strafrecht der Universität St. Gallen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Menschenrechte und die Ideengeschichte des 18. Jahrhunderts.