Vollmondbier: Warum nicht auch beim Bier?

Nr. 29 –

Marketing oder Mystik? Die Appenzeller Brauerei Locher braut Vollmondbier und füllt damit eine Marktlücke. Aber was ist das Besondere an dem Bier? Ein Rundgang am vergangenen Vollmondtag.


Bei Schönenbühl im Appenzellerland gibt es eine alte Burgruine. Wenn man aufmerksam ist, hört man in stillen Vollmondnächten ein Klopfen von der Ruine her. Es ist das Klopfen eines untoten Burgvogts, der seit Jahrhunderten eingesperrt im Burgkeller an die Decke schlägt und ruft: «Uuftue, uuftue!»

Tatsache.

Als Michael Jackson vergangenen Dienstag beerdigt wurde, war Vollmond – und wer wollte, hörte vom Ende der Welt das lustige Lachen eines jungen Paares. Es war das Lachen der Wasserjungfrau von Weissbad und eines Jünglings, den sie vor Urzeiten in den Weissbach gezogen hatte.

Tatsache.

In Appenzell (und wahrscheinlich nicht nur dort) gibt es Menschen, die gehen nur dann zum Coiffeur, wenn der Mond «nitzi» geht, also abnehmend ist. Denn der «obsigehende» Mond zieht. Das heisst, die Haare wachsen schneller nach.

Tatsache.

Max Bürki schreitet durch die Locher-Produktionshalle an der Brauereistrasse in Appenzell, wo das Appenzeller Bier gebraut wird, und sagt: «Über den Einfluss des Vollmonds auf das Bier müssen wir gar nicht erst reden. Jeder weiss darum, jeder spürt das. Das ist eine Tatsache.» Und wers nicht glaubt, sagt er dann, der ist selber schuld.

Appenzeller Bier in Zürich

Der Vollmond geht um 11 Uhr 21 Minuten und 18 Sekunden auf. Es ist Dienstag, der einzige Tag in diesem Monat Juli, an dem in Appenzell das Vollmondbier gebraut wird. Dunkle Wolken und ein leichter Nieselregen versperren die Sicht auf den Himmel. Der Vollmond ist nicht zu sehen. «Der Mond wirkt auf das Meer, auf die Pflanzen, auf die Tiere», sagt Raphael Locher, «wieso soll er nicht auch auf das Bier wirken?»

Lichtgraue Schwaden steigen aus den Tälern auf und klettern den Alpstein empor, als würde der Wald am Fuss des Gebirges in Flammen stehen. Eine seltsame Stimmung breitet sich über das Appenzellerland. Kein Wunder, entstanden hier so viele Sagen über Untote, die nachts Holzpfähle einschlagen, Wanderstudenten mit Zauberkräften und Jungfrauen, die mit Goldsäcken in Bächen auf ihre Opfer warten.

Max Bürki kümmern die Sagen wenig. Er weiss um die Wirkung des Monds. Der kräftige Mann mit dickem Schnauzbart ist hier der Braumeister und verantwortlich dafür, dass die sechzehn Sorten des Appenzeller Biers so schmecken, wie sie sollen.

Raphael Locher ist Mitglied der Geschäftsleitung und verantwortlich für die Finanzen, das Marketing und den Verkauf des Appenzeller Biers. Er führt mit seinem Cousin Karl Locher das Familienunternehmen in fünfter Generation. Seit fast zwanzig Jahren braut ihre Brauerei das Vollmondbier in Appenzell, ausschliesslich aus biologischen Rohstoffen und immer nur bei Vollmond.

Entstanden ist die Idee aber in Zürich, in der Bar El Internacional an der Zentralstrasse. Heute heisst sie «Vollmond-Taverne». Ende der achtziger Jahre hatten Viktor Bänziger und Peter Brogli die Bar geführt und die Idee, ein Hausbier für die Bar brauen zu lassen. «Sie fragten uns», sagt Raphael Locher, «ob wir ein Bier für sie produzieren würden. Wir sagten zu. Das Bier hiess Vollmond. Denn ihre Bedingung war, dass es ausschliesslich bei Vollmond gebraut wird. Das war der Grundstein für unseren Erfolg mit Spezialitätenbier.» Später kaufte Locher den beiden die Lizenz ab, beliefert sie aber noch heute.

Mittlerweile ist das Vollmondbier eine bekannte Marke geworden. Ausgerechnet in Zürich, wo die Ostschweizer Grossbrauerei Schützengarten seit Jahren versucht, Fuss zu fassen, sind Appenzeller Biere (Quöllfrisch, Naturperle, Vollmond) äusserst beliebt. Vor allem das Vollmondbier hat zu diesem Durchbruch verholfen. «Es ist kein Umsatztreiber, aber es war ein Türöffner zum Zürcher Markt», sagt Locher. Natürlich sei er ein bisschen esoterisch angehaucht, er glaube an die Kraft des Mondes. Er weiss aber auch, dass das Vollmondbier als Marketingidee gut ankommt.

Scharfer Blick, sichere Nase

Bier ist eines der ältesten Getränke der Welt. Bereits die alten Ägypter sollen den Gerstensaft getrunken haben. Vielleicht darum die Mystik um die Braukunst, vielleicht darum die Rede von seiner heilenden Wirkung: bei Osteoporose, wegen des Calciums. Oder bei Schwangerschaften, wegen der Folsäure. Einmal rief Locher eine Frau an, die sagte, ihr Mann habe vom Biertrinken ständig an Magenschmerzen gelitten. Seit er nur noch Vollmondbier trinke, seien die Schmerzen verschwunden.

Tatsache.

Braumeister Bürki steht neben sechs mit Hopfen gefüllten Fässern. Von der Decke hängt ein riesiger orangefarbener Tank, der aussieht wie eine verkehrt aufgehängte Flasche. Bürki erklärt, wie das Vollmondbier gebraut wird – und worauf es bei gutem Bier ankommt. Zum Brauen braucht es nicht viel: Malz, Hopfen, Hefe und Wasser. Und natürlich braucht es einen Braumeister mit scharfem Blick, sicherer Nase und gutem Geschmackssinn. «Man sollte nicht zu scharf essen und sich schon gar nicht erkälten. Das schadet den Sinnen.»

Um 15.26 Uhr klickt Max Bürki auf die Maus und starrt auf einen von drei Bildschirmen. Er hat soeben die Produktion des ersten Suds für das Vollmondbier ausgelöst. Auf dem Bildschirm leert sich das Silo 4, das Malz läuft über ein Förderband durch die Putzmaschine, der Staub wird abgesaugt, und dann kommt das Malz in den Malzrumpf, einen orangefarbenen Trichter an der Decke, vor dem Bürki eben noch stand.

2350 Kilogramm Biomalz werden jetzt zu 140 Hektoliter Vollmondbier gebraut.

Das Malz gelangt über eine Schrotmühle in die Maischepfanne, wo das Malz mit Quellwasser aus dem Alpstein vermischt wird. Die Qualität des Wassers ist entscheidend, ebenso der Härtegrad und die Anzahl enthaltener Mineralstoffe. Im heissen Wasser löst sich die Stärke auf und wird dank malzeigener Enzyme in Malzzucker verwandelt. Der Braumeister nennt diesen Vorgang Maischen.

Der Sud fliesst daraufhin durch ein Gedärm von Röhren und Schläuchen, die sich durch die ganze Brauerei schlängeln, in einen Läuterbottich, wo Malzreste nach unten sickern und so einen natürlichen Filter bilden. Wenn der Sud später abgelassen wird, bleiben feste Reste hängen, der Sud wird gefiltert. Diese Reste werden als Mastfutter für Tiere gebraucht. Dann kommt der flüssige Sud in einen riesigen silbernen Topf, Bürki nennt ihn fachgerecht: Würzeniederdruckwhirlpoolpfanne.

Hier wird der Hopfen beigegeben – vollautomatisch wie fast alles in der Brauerei. Er gibt dem Bier das Aroma, er ist das Parfüm des Biers oder, wie Bürki sagt: «Das Malz ist bloss das Fleisch, der Grundstoff. Aber erst mit dem Hopfen, dem Gewürz, erhält es eine bestimmte Note – blumig, bitter oder herb.» Je nach Verhältnis von Aroma- und Bitterhopfen. Mehr Aromahopfen bedeutet mehr Geschmack. Danach wird der Sud bei 99 Grad gekocht und gelangt anschliessend in Gärbottiche oder sogenannte ZKG, zylinderkonische Gärtanks.

Das Maischen, das Läutern, das Kochen – oder einfach: das Brauen – dauert etwa sieben Stunden, und gebraut wird nur bei Vollmond. Je nachdem macht Braumeister Bürki zwei oder drei Sude. Wenn der Sud im Gärbottich ist, wird ihm Hefe beigefügt, der Malzzucker im Jungbier beginnt bei etwa zehn Grad zu Alkohol und Kohlensäure zu vergären, sieben bis neun Tage lang. Dann, wenn der Malzzucker vollständig vergärt ist, wird das Bier in Lagerfässer abgefüllt, die wie kleine Raumschiffkapseln aussehen, bereit, diesen Planeten jederzeit zu verlassen. Jede ist beschriftet: Vollmondbier, Quöllfrisch, Naturperle, Hanfbier ...

Einmal wöchentlich steigt Braumeister Bürki in den auf null Grad gekühlten Lagerkeller, zapft ein Bier, hält es ins Licht (ist die Farbe in Ordnung?), schwingt das Glas (bleibt der Schaum hängen?), steckt die Nase ins Glas (riecht das Bier gut?), trinkt einen grossen Schluck und sagt dann: «Perfekt. So muss ein Bier schmecken.»

Bier ist krisenresistent

Das Vollmondbier war so etwas wie ein Startschuss für Appenzeller Bier. Gerade in szenigen Bars, aber auch in alternativen Kulturzentren ist das Bier sehr beliebt. «Unser Marktleader, also das verkaufsstärkste Bier, ist aber klar das Quöllfrisch. Damit haben wir uns die Sympathien der Stammtischbiertrinker geholt. Durch das Gehabe der grossen Bierkonzerne sind viele Emotionen rund ums Bier verloren gegangen. Wir sind ein Familienbetrieb geblieben, das schätzen die Kunden.»

Dass Locher das sagt, hat einen Grund. In den letzten Jahren wurden viele Traditionsbrauereien zusammengelegt oder aufgekauft. Die Bierbranche wird heute von zwei Grossunternehmen dominiert (vgl. «Der Schweizer Biermarkt» weiter unten). Das eröffnete aber auch Chancen für Kleinbrauereien. Derzeit laufen die Maschinen im Sudhaus rund um die Uhr. Im Sommer arbeiten die Angestellten in der Brauerei in drei Schichten, 24 Stunden am Tag. Die Leute trinken mehr Bier, wenn es heiss ist. Während rund sechs Wochen wird in der Brauerei in Doppelschichten gearbeitet. Diese Woche haben die Angestellten damit begonnen. Spüren die Brauereien nichts von der Krise? «Ja», sagt Locher, «wir spüren die Finanzkrise. Aber im positiven Sinn. Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, psychische Probleme, Unsicherheit – in solchen Zeiten wird mehr Alkohol getrunken. Kein Champagner, kein Wein, sondern Bier. Bier ist krisenresistent.»

In der Brauerei stehen Propangasflaschen, ein Schweisser hantiert an einem Bottich, der Boden ist nass. Umbauarbeiten. Der Betrieb wächst. In den letzten sechzehn Jahren haben die Lochers die Zahl der Beschäftigten von sechzehn auf achtzig erhöht. Produzierte sie damals noch 14 000 Hektoliter Bier, so sind es heute 105 000 Hektoliter, fast zehnmal so viel wie 1983.

Das Erfolgsgeheimnis der Brauerei sind Spezialitätenbiere, die Nischen, die die industriell Herstellenden nicht füllen können – und die Sympathie für einen Kleinbetrieb. Appenzeller Bier beliefert keine Discounter, weder Denner noch Aldi oder Lidl. «Wir haben qualitativ hochstehende Biere, die etwas kosten. In Discountern haben unsere Biere nichts verloren.»

Braumeister Bürki steht wieder im Büro vor den drei Computerbildschirmen und sagt: «Jetzt gehts ans Verkosten. Aber es geht dabei nicht darum, ein ganzes Glas zu leeren.» Dann schenkt er sich ein frisches Vollmondbier ins Glas, hält es ins Licht, schwingt es, steckt seine Nase hinein und trinkt einen Schluck. Er seufzt, reicht das Glas weiter und sagt dann in urchigem Appenzellerdialekt: «Dass Bier gsond ischt, do dröbe mömme nüd rede.»

Tatsache.


Der Schweizer Biermarkt

Die SchweizerInnen trinken jährlich rund 4,4 Millionen Hektoliter Bier. Davon produzieren die Grossbrauereien Carlsberg (Feldschlösschen, Cardinal und andere) und Heineken (Calanda, Haldengut, Eichhof und andere) zwischen 65 und 68 Prozent. Weitere 20 Prozent sind Importbiere wie Corona, Franziskaner oder Erdinger. Die restlichen 12 bis 15 Prozent teilen sich die anderen Brauereien: Schützengarten mit 4 Prozent, Locher mit 2,5 Prozent und zahlreiche Klein- und Mittelbrauereien sowie Gasthaus- und Mikrobrauereien.

Locher ist eine der ältesten Brauereien der Schweiz. Es gibt historische Hinweise, dass sie älter ist als Schützengarten (Gründungsjahr 1779). Urkundliche Beweise fehlen allerdings bislang. Bis diese vorliegen, gilt Schützengarten als älteste Schweizer Bierbrauerei.