Russland: Für gute Kartoffeln muss das Geld reichen

Nr. 44 –

Die Finanz- und Wirtschaftskrise beutelt die Menschen, aber noch kommen sie über die Runden, zumindest in der Provinz. Ein Streifzug durch Russlands südliche Metropole Rostow am Don.


Warum sie nach Rostow gekommen sei? Die zwanzigjährige Psychologiestudentin Maja Miftachowa, die alle paar Tage in einer Strassenunterführung vor dem Zentralen Markt von Rostow steht, um sich als Bluessängerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen, braucht nicht lange zu überlegen: «Hier ist es schön warm.» Ausserdem liege Rostow fast am Asowschen Meer. Und im Sommer fährt Miftachowa immer zum Studentencamp ans Schwarze Meer. Das sei «ganz toll».

Um «normal zu leben», braucht die junge Tatarin, die bei ihrem Freund wohnt und eigentlich aus der Stadt Ufa in der russischen Teilrepublik Baschkortostan kommt, 12 000 Rubel im Monat, rund 410 Franken. Das staatliche Stipendium beträgt jedoch nur 1500 Rubel. Und so fesselt Maja Miftachowa die PassantInnen mit eigenen Blues- und Folkkompositionen und Evergreens russischer Rocklegenden wie Chaif und DDT. Die Arbeit mache Spass, sagt sie. Selbst Polizisten würden Geld geben. Nur manchmal gebe es Ärger mit alten Frauen. Die würden schimpfen, «geh doch arbeiten». Als ob Arbeit nur Schufterei in der Fabrik oder im Haushalt sei.

Drei tote JournalistInnen

Rostow ist immer ein Schmelztiegel verschiedener Nationalitäten gewesen. 1749 als Festung des russischen Reichs in Abgrenzung zu den türkischen Gebieten gegründet, zog der Ort immer wieder Fremde an. Im 18. Jahrhundert liessen sich armenische ÜbersiedlerInnen von der damals muslimisch beherrschten Krim nieder, in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Aserbaidschan, Georgien, Abchasien und vor allem ArmenierInnen und KurdInnen. Heute zählt die Stadt – das Verwaltungszentrum des föderalen russischen Südbezirks – laut offiziellen Angaben eine Million EinwohnerInnen, tatsächlich aber sind es mehr als doppelt so viele.

Auch aus den umliegenden Bezirken strömen Menschen hierher, obwohl die Unterwelt von Rostow berüchtigt ist. Deren Wurzeln gehen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als Rostow einen stürmischen Wirtschaftsaufschwung erlebte. Die Geschäfte der Banden blühten in den neunziger Jahren wieder auf, als sich auch in Rostow ein ungezügelter Kapitalismus breitmachte. Die Kriminellen seien weiterhin aktiv, auch wenn ihre Anführer mittlerweile als ehrbare Leute gelten, sagt Sergej Slepzow, ein ehemaliger Polizist, der jetzt Chefredaktor der Zeitung «Korruption und Verbrechen» ist.

Nur ihre Methoden hätten sich geändert. «In letzter Zeit werden Journalisten nicht erschossen», sagt Slepzow und spielt damit auf drei Todesfälle an, die die Polizei als Unfälle dargestellt hat. Natalja Skryl von der Zeitung «Nasche Wremja», Pawel Makejew vom Fernsehkanal TNT-Puls und Wjatscheslaw Jaroschenko, der Slepzows Vorgänger in der Chefredaktion von «Korruption und Verbrechen» gewesen war, hatten an Korruptionsfällen gearbeitet. Jaroschenko fiel im April in einem dunklen Hof angeblich von einer Leiter und schlug sich dabei den Schädel ein. Schürfwunden, die bei Stürzen typisch sind, fand man bei dem Toten nicht.

Der 24-Stunden-Markt

«Russland wird von der Korruption und der Mafia beherrscht», sagt Sergej Slepzow. Und jetzt kommt auch noch die Krise dazu. Nach Angaben der nationalen Statistikbehörde Rosstat verlieren seit Jahresbeginn monatlich 150 000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz; die Inflation stieg auf zwölf Prozent. Auf Rostows breiten Strassen ist von der Krise auf den ersten Blick jedoch wenig zu sehen. Sie sind belebt, alle scheinen irgendwie einer Tätigkeit nachzugehen, wenn auch nur für einige Tage oder in der Schattenwirtschaft. Wer allerdings bei den Kaufleuten nachfragt, erfährt, dass die Lage ernst geworden ist: Die Umsätze brechen überall ein.

Der Zentralij Rynok, der Zentrale Markt im Stadtzentrum, ist mit drei Hektaren Grundfläche einer der grössten Freiluftmärkte Russlands. Über 3000 HändlerInnen verkaufen hier Fleisch, Gemüse, Milchprodukte und Kleidung aus China, Dubai und der Türkei. Hier handeln nicht nur RussInnen, sondern auch Koreanerinnen, Armenier, Aserbaidschanerinnen, Kurden und Tataren. Gearbeitet wird rund um die Uhr; nachts kaufen die GrosshändlerInnen, tags läuft der Einzelhandel.

Jura, ein dicker Metzger, der seine Arbeitskluft schon abgelegt hat, bietet eine Führung durch die Räume der Lebensmittelkontrolle an. Nachts wägt er Schweinehälften auf einer grossen Waage, jetzt trägt Jura die Wüstenuniform der US-Army und hat schon ein paar Wodkas intus. Offenbar erfüllt er auf dem Markt auch eine Art Ordnerfunktion, jedenfalls erteilt Jura laufend Anweisungen.

Das Wägen ist ein Knochenjob. Im letzten Jahr wurden auf dem Zentralij Rynok 3500 Tonnen Fleisch verkauft, das Geflügel nicht mitgerechnet, erzählt der Marktdirektor später. Das sei mehr, als alle Supermärkte von Rostow zusammen verkaufen. Das Fleisch wird nicht nur von Grosshändlern geliefert, oft kommen auch Kleinbauern mit zwei Schweinehälften vorbei, die sich so ein Auskommen sichern. Stolz führt Jura das «Labor» vor, wo Milch auf ihre Frische, Gemüse auf Nitrate und Schweinefleisch auf Trichinen geprüft wird. Niemand soll denken, dass es auf russischen Märkten keine Kontrollen gibt. Bestechungsversuche von HändlerInnen kämen nicht vor, sagt Wladimir Wasiljewitsch, der 39-jährige Chef des Labors. Und selbst wenn, blieben sie erfolglos: «Von unserer Arbeit hängt schliesslich das Leben der Rostowschani ab», der EinwohnerInnen von Rostow. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Die längliche Amerikanka

Von der Fleischabteilung führt der Weg direkt zum Kartoffelmarkt. Entlang einer Gasse offerieren etwa vierzig Händlerinnen – die Männer schleppen im Hintergrund Säcke – dreissig verschiedene Sorten in bunten Plastikeimern. Von einer solchen Auswahl können MoskauerInnen nur träumen; sie werden von Handelsmonopolen mit nur drei Billigsorten abgespeist.

Ein Grossteil der Kartoffeln auf dem Zentralij Rynok komme von Kleinbauern, sagt Ira, die seit zehn Jahren «Kartoschki» verkauft. Ihre Produkte könnten durchaus mit der billigen Massenware konkurrieren, erzählt die schlanke 42-Jährige mit der blonden Dauerwelle. Die Edelkartoffeln – wie die längliche Amerikanka, die rosa-gelb gefleckte Iwan da Marja oder die dunkelviolette Ziganotschka – kosteten zwar um die dreissig Rubel das Kilo (umgerechnet ein Franken), würden aber auch doppelt so gut schmecken wie die Massenware der Agrarindustrie, die für ihre Erzeugnisse fünfzehn Rubel verlangt.

Offenbar ist den Rostowschani Qualität noch etwas wert – oder sie wissen um die Zusammenhänge. Die Kenntnisse über den Kartoffelanbau hätten sich die kleinen ProduzentInnen zu Sowjetzeiten angeeignet, erzählt die ehemalige Lehrerin, als die Kolchosen ihren Bauern kleine Felder für den Privatanbau zuteilten. «Sie düngen noch mit Hühnerkot und Pferdemist», sagt Ira, «und lieben ihre Kartoffeln.»

Juri Mukowos preist seinen Markt, der als Aktiengesellschaft organisiert ist, als eine Art soziales Projekt. Die niedrigen Standgebühren gäben auch KleinproduzentInnen eine Chance, sagt der Direktor des Zentralnij Rynok, der in jungen Jahren als Verkäufer in einem Kaufhaus angefangen hat. Dennoch habe sich seit Beginn der Finanzkrise die Zahl der HändlerInnen um ein Zehntel verringert. Keine Einflussnahme von aussen, keine Schutzgelderpressung? Nein, antwortet Mukowos; mit einer Waffe sei er nie bedroht worden. «Wir machen ein offenes Business. Das schützt uns.»

In diesem Jahr habe man dem Staat schon über drei Millionen Franken Steuern bezahlt, und der Kauf von neuen Kühlkammern und Pizzaöfen sei aus eigenen Rücklagen finanziert worden. Selbst die Händler würden Steuern zahlen, beteuert Mukowos; doch an keinem der Stände ist ein Kassenapparat zu sehen. Aber vielleicht ist das ja auch nicht so wichtig: In der russischen Provinz sind Märkte wie der Zentralnij Rynok für viele Menschen von existenzieller Bedeutung – gerade jetzt.

Mähdrescher auf Halde

Denn noch härter als die HändlerInnen auf Rostows Zentralem Markt hat die Krise die Mähdrescherfabrik Rostselmasch getroffen, das grösste Industrieunternehmen in Russlands Süden. Vor der 1929 eröffneten Fabrik steht auf einem angeschrägten Podest ein kleines Monster, ein Modell der neuen Mähdreschergeneration, 400  PS stark, ausgerüstet mit Klimaanlage und einer Vorrichtung für den Satellitenfunk. Doch die ausländische Konkurrenz, die immer mehr auf den russischen Markt drängt, und die Finanzkrise haben Rostselmasch an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Nur eine Intervention von Premier Wladimir Putin, der das Werk in den letzten zwölf Monaten zweimal besuchte, konnte eine Insolvenz verhindern.

Was Putin in Rostow sah, hat ihn offenbar schockiert: ein Fabrikgelände voller unverkaufter Maschinen. Putin liess die Importzölle für ausländische Mähdrescher von fünf auf fünfzehn Prozent anheben und einen Kredit in Höhe von umgerechnet 175 Millionen Franken bereitstellen; mit dem kaufte das staatliche Unternehmen Rosagroleasing Rostselmasch über tausend Mähdrescher ab. Doch das schönte nur die Statistik: Die Produktion sinkt weiter – von 6300 Stück 2008 auf möglicherweise nur 4200 in diesem Jahr. «Das grösste Problem ist, dass die Agrarbetriebe von den Banken keine Kredite bekommen», sagt Rostselmasch-Pressesprecherin Tatjana Sakablukowa.

Die Krise hat die Rostselmasch-Beschäftigten voll erwischt: Normalerweise verdienen sie 22 000 Rubel, was für eine vierköpfige Familie kaum reicht. Jetzt arbeitet ein Teil der Belegschaft nur drei Tage die Woche – bei entsprechenden Lohneinbussen. Im letzten Winter hat das Unternehmen, das zu einem Drittel dem Staat, zu zwei Dritteln einem russischen Privatunternehmer gehört, 1300 von insgesamt 7000 Angestellten entlassen. Wie es weitergehen soll, weiss niemand. Denn auch die Autofabrik Tagas in Taganrog bei Rostow, wo Modelle des südkoreanischen Hyundai-Konzerns montiert werden, hat die Löhne so sehr zusammengekürzt (auf rund 7000 Rubel), dass im ersten Halbjahr 2009 über ein Drittel der einst 9000-köpfigen Belegschaft lieber zu Hause blieb. Und möglicherweise Kartoffeln pflanzt.

Es ist später Nachmittag. In einer Unterführung vor dem Zentralnij Rynok steht immer noch Maja Miftachowa und singt. Sie ist bester Stimmung. Ihr Tuch mit den Geldscheinen ist gut gefüllt. So war es immer in Russland. Krisen kommen und gehen. Und die Menschen schlagen sich durch, wenn sie können.


Russlands Opposition

Unter dem Titel «Opposition gegen das System Putin» haben WOZ-Korrespondent Ulrich Heyden und Ute Weinmann eine Analyse der innenpolitischen Verhältnisse Russlands vorgelegt. Das im Rotpunktverlag Zürich erschienene Buch beschäftigt sich unter anderem mit der neuen Arbeiterbewegung, mit Stadtteilinitiativen, Umweltgruppierungen, den vielen kleinen linken Organisationen und der Protestkultur der AnarchistInnen.

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