Die nächste Blase: «Wir überlassen die Klimapolitik den Spekulanten»

Nr. 51 –

Ist die Wirtschaftskrise tatsächlich schon vorbei? Wer kann politisch profitieren? Bringt der Green New Deal die Lösung? Und wie sieht eine solidarische Ökonomie aus? Der renommierte Ökonom Elmar Altvater im Gespräch mit der WOZ.


WOZ: Vor etwas mehr als einem Jahr ging die Investmentbank Lehman Brothers Konkurs. Der bekannte Historiker Eric Hobsbawm misst dem Datum eine grössere Bedeutung zu als dem 11. September 2001. Hat Hobsbawm unrecht?

Elmar Altvater: Sicher nicht. Warum?

Weil sich seither nicht viel verändert hat. Die Investmentabteilungen der Banken schreiben fette Gewinne, die UBS spricht von 25 Prozent Eigenkapitalrendite, die Schweiz ist ganz offiziell aus der Rezession ...

Das sind Illusionen. Die Krise ist in keiner Weise überwunden. Was den Eindruck erweckt, die Krise sei vorbei, ist das billige Geld, mit dem die Zentralbanken – allen voran die Fed in den USA und die EZB in Europa – den Finanzsektor nachgerade fluten. Aber die Banken haben noch immer toxische Wertpapiere, nur müssen sie sie nicht versilbern, weil sie von den Zentralbanken Geld nachgeworfen kriegen. Niemand weiss allerdings, wie viele solcher Papiere noch existieren. Sie schlummern in den Tresoren und Kellern der Banken. Und irgendwann werden sie ans Tageslicht kommen, und man wird feststellen, dass noch grosse Abschreibungen gemacht werden müssen. Die guten Geschäfte machen die grossen Investmentbanken, also nicht die Sparkassen und Genossenschaftsbanken, mit Staatsanleihen, die die Staaten platzieren müssen, um mit dem Geld den Banken das verspekulierte Eigenkapital zu ersetzen. Das ist ein diabolisches Spiel, noch dazu, wenn sich die Bankmanager wegen der guten Geschäfte mit dem Geld der Steuerzahler Boni und Prämien genehmigen und empört deren Begrenzung zurückweisen.

Auch die Realwirtschaft hat die Krise keinesfalls überwunden. Die Automobilindustrie muss bis zu einem Drittel ihrer Kapazitäten abbauen. Die Abschreibungen sind noch nicht gemacht. Opel hat man versucht, zu retten. Aber eine der grossen Automobilfirmen wird dran glauben müssen.

Woher kommen die Gewinne der Banken eigentlich?

Die Investmentbanken haben ihre Gewinne ja quasi aus dem Nichts erzeugt. Es gibt in der politischen Ökonomie den Begriff der Inwertsetzung. Darunter hat man immer verstanden, natürliche Ressourcen zu fördern und sie dann auf den Markt zu werfen. Natur wird also in Wert gesetzt. Dadurch erhält zum Beispiel Eisenerz auf den Weltmärkten einen Wert. Und damit werden Geschäfte gemacht. Aber die Investmentbanken haben Wertpapiere geschaffen, ohne dass sie überhaupt eine Ressource entdecken mussten, im Extremfall einfach per Mausklick. Das ist wie im Mittelalter. Die Alchimisten wollten auch aus Scheisse Gold machen. Die Investmentbanken haben das geschafft, indem sie die faulsten Kredite noch verbrieften und weltweit als «besicherte» Wertpapiere verkauften. Dieses Geschäft geht jetzt weiter, weil die Banken billiges Geld von den Zentralbanken erhalten.

Die Banken werden um jeden Preis gestützt – weil sie für systemrelevant erklärt werden.

Ob sie systemrelevant sind, hängt davon ab, was man mit den Banken machen will. Geht es um die Bilanzsumme? Dann sind in Deutschland nur 0,8 Prozent der Banken systemrelevant. Aber wenn es um Lohnzahlungen und Kredite für kleinere und mittlere Unternehmen geht, dann sind die kleinen Banken viel wichtiger. Die Frage ist also: Was will man mit den Banken erreichen? Sollen sie Finanzierungsinstrument für regionale Wirtschaftsentwicklung sein? Oder soll ein Institut gefördert werden, das weltweit herumspekuliert?

Der Finanzsektor löst sich immer stärker von der Realwirtschaft. Allerdings – das hat die Krise gezeigt – muss für die negativen Folgen die Realwirtschaft büssen. Wäre es da nicht logisch, die Spekulation ganz abzukoppeln?

Ich weiss nicht, ob man das Investmentbanking völlig loslösen kann.

Konkret wäre das die Idee des Trennbankensystems.

Nach der Krise von 1929 wurde das mit dem Glass-Steagall-Gesetz ja so gemacht. Man trennte die Kreditversorgung der sogenannten Realwirtschaft vom Investmentbanking. In Deutschland aber gab es immer das Universalbankensystem.

Das Investmentbanking spielte bis zu den achtziger Jahren keine grosse Rolle. Das hat sich geändert, weil der Finanzsektor immer stärker liberalisiert wurde. Wenn das nicht geschehen wäre, würde das Investmentbanking nicht viel nützen. Erst ab den achtziger und neunziger Jahren wurde es den Investmentbanken möglich, weltweit zu spekulieren. Dann entstanden Geschäftsmodelle wie «Originate and Distribute» – Wertpapiere wurden aus dem Nichts geschaffen und verkauft. Das ging nur wegen der Liberalisierung der Finanzmärkte.

Sie haben die Krise von 1929 erwähnt. In den USA entstand damals der New Deal, in Europa allerdings ...

Wenn wir die Krise schon mit 1929 vergleichen, muss man einfach festhalten, dass daraus der Faschismus und der Nationalsozialismus entstanden sind. Natürlich liegen die Ursachen nicht nur in der Krise. In Italien kamen die Faschisten schon zu Beginn der zwanziger Jahre an die Macht. Aber er wurde durch die Krise natürlich gestärkt.

Rutscht in der Krise die Politik nach rechts?

Die Gefahr ist auf jeden Fall gegeben. Aber zurück zum New Deal. Das war eine ganz andere Antwort auf die Krise, als die der Nazis und Faschisten – fraglos eine viel positivere. Richtig erfolgreich wurde er allerdings erst, als die USA in den Krieg eingetreten sind. Eine einigermassen stabile Weltordnung entstand erst nach dem Zweiten Weltkrieg, unter anderem mit der Bildung des westlichen antikommunistischen Blocks.

Die Krise wurde also erst nach dem Krieg überwunden, als eine internationale kapitalistische Weltordnung entstand. Und das gibt mir zu denken, wenn man immer mit 1929 vergleicht: Wie kommen wir zu einer stabilen Weltordnung? Die alte ist noch nicht am Ende, aber sie ist fragil geworden. Was geschieht, wenn die Vorherrschaft des US-Dollars zusammenbricht? Welche Konflikte kommen da auf uns zu? Sie dürfen vor allem nicht kriegerisch werden. Denn ein Krieg wäre noch schrecklicher als der Zweite Weltkrieg mit seinen fünfzig Millionen Toten. Das wäre ein Verbrechen an der Menschheit.

Aber die Gefahr besteht?

Auf jeden Fall.

Welche Konflikte kommen denn auf uns zu?

Zum Beispiel die Inflation, die 1923 den Mittelstand enteignete und letztlich den Nazis in die Hände spielte. Inflation ist eine Form der Enteignung. Und niemand kennt die Folgen. Wer wird dafür verantwortlich gemacht? Es ist dann sehr einfach, dass irgendwelche Populisten daherkommen und sagen: Die Araber. Die Islamisten. Dubai hat uns das alles eingebrockt. Oder wer auch immer.

Heute sind die Regierungsprogramme darauf ausgerichtet, möglichst nichts zu ändern und das System wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich bin nicht sicher, ob das möglich ist. Es gibt grosse Verluste. Im Moment trägt sie der Staat, indem er Milliarden in die Finanzmärkte pumpt. Aber irgendwann ist eine Grenze erreicht. Dann werden die Leute rebellieren. Das geht nicht ewig. Sie werden dann rebellieren, wenn diese Programme abgerufen werden, wenn die Bürgschaften real werden, wenn die Inflation kommt. Und sie wird kommen.

Im Moment ist durch die Nachfrageschwäche der Preisdruck nicht da. Aber wenn die Programme Erfolg haben und sich das System stabilisiert, dann wird die Inflation kommen. Nicht sofort, aber in zwei, drei Jahren, wenn dieses billige Geld nicht abgesaugt wird. Und dann wird es zu politischen und sozialen Widerständen kommen.

Die Frage ist: Wer wird der in die Wade Gebissene sein?

Die Schweiz hat vor drei Wochen den Bau von Minaretten verboten.

Krisensituationen werden immer von rechten Populisten ausgenützt. Was Banken angeht, ist die Schweiz eines der weltoffensten Länder. Gleichzeitig aber will sie die Minarette nicht haben. Die Schweiz schottet sich ab in einer Kleinkariertheit, die einen im Ausland sprachlos macht. Aber vergessen wir die Ideologie, sehen wir uns die Realität an: Wenn der US-Dollar seine Stellung verliert – und das ist nicht unwahrscheinlich, denn die USA sind so hoch verschuldet, dass sie geneigt sein könnten, die Schulden durch Abwertung zu reduzieren – dann gibt es auf jeden Fall einen Konflikt mit denjenigen, die hohe Dollarreserven halten.

Mit China.

Genau, und die Chinesen werden sich das sicher nicht gefallen lassen. Sie werden versuchen, vom Dollar wegzukommen. Aber irgendwer muss die Wertberichtigungen des US-Dollars, also die Kosten der Abwertung schliesslich tragen. Aber wer? – Wenn andere Währungen die Stellung des Dollars einnehmen, wenn Öl nicht mehr in Dollar gehandelt wird, wenn die USA mehr exportieren müssen, also anderen Ländern die Weltmärkte wegnehmen. Wie die Konflikte aussehen werden, ist unklar. Aber dass wir in einer extrem konfliktträchtigen Situation stecken, steht ausserhalb jeder Frage.

Der Irakkrieg wurde immer wieder auch mit einer ökonomischen Dimension miterklärt. Mittlerweile soll die Zahl der Truppen in Afghanistan auf ein Niveau erhöht werden, das mit dem der Truppen im Irak vergleichbar ist. Was ist die ökonomische Dimension in Afghanistan?

Afghanistan sollte ein Transitland für Ölpipelines werden. Das wollte seinerzeit schon der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan realisieren, wurde aber durch den Einmarsch der Sowjetunion dran gehindert. Das zentralasiatische Öl sollte via Afghanistan an den indischen Ozean transportiert werden, um es dort zu verschiffen. Das ist eine alte Wunschidee: Afghanistan als Schlüsselstaat für Zentralasien, das schon als «Pipelineistan» bezeichnet wird. Wichtig ist die geostrategische Lage, Indien, China, der Ozean. Schauen Sie sich den Globus an, suchen Sie den Mittelpunkt der Landmasse, und Sie landen in Zentralasien: Wer Zentralasien beherrscht, beherrscht die Welt. Das war die Idee des Beraters mehrerer US-Präsidenten Zbigniew Bzrezinski.

Und das ist die einzige Erklärung dafür, dass Barack Obama diesen Krieg, der nicht zu gewinnen ist, weiterführt. Und dass ihn die Europäer dabei unterstützen.

Man hat oft von der Diskreditierung des neoliberalen Modells geredet. Hat die Krise dieses Modell nicht vielmehr verschärft?

Was ist das neoliberale Modell? Das rein marktgesteuerte Modell – das ist gescheitert. Es hat sich gezeigt: Wenn man zu sehr dereguliert, wenn die Liberalisierung quasi total wird, dann gibt es einen Konkurrenzdruck – gerade im Finanzsektor – das haftende Eigenkapital zu verspekulieren. Eigenkapital kann ich nicht «arbeiten lassen», damit kann ich die Rendite nicht erhöhen. Also wird alles getan, um das haftende Kapital zu reduzieren und damit zu spekulieren. Und dann stellt sich heraus, dass kein Kapital mehr da ist, um die Geschäfte des Finanzinstituts abzusichern – und der Staat muss helfen. Selbst Neoliberale sind dann dafür, dass der Staat eine grössere Rolle spielt und den Banken ihr Haftungskapital ersetzt, das sie verspekuliert haben. Der Neoliberalismus gelangt also aus seiner eigenen kaputten Logik heraus zur Einsicht, dass eine Reregulation notwendig ist.

Aber die Krise zeigt sich auch als extremer Angriff auf die Leute, die arbeiten. Die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften sinkt.

Die Gewerkschaften sind überall auf der Welt geschwächt. Migration spielt eine Rolle, Fremdenfeindlichkeit kommt dazu. Da muss man vorsichtig sein, dass das nicht Überhand gewinnt. Der freie Handel mit Waren ist ein weiterer Punkt. Und man kann in vielen Ländern feststellen, dass der informelle Sektor stärker wird: Prekäre Arbeit ist auf dem Vormarsch. Die Arbeitseinkommen reichen vielfach nicht mehr zum Überleben. In der Schweiz ist das noch nicht so sichtbar. Es gibt einen einigermassen passablen Mindestlohn. Aber in Deutschland liegt der Mindestlohn nicht mal bei 7,50 Euro, wie es die Gewerkschaften fordern, sondern in gewissen Regionen im Osten Deutschlands bei vier Euro und sogar darunter. Davon kann man nicht leben!

Wer wagt den Aufstand?

Es gibt gewerkschaftliche Kämpfe, Streikbewegungen, Betriebsbesetzungen – zum Beispiel bei Daimler Benz, wo die Produktion der C-Klasse in die USA verlagert wird. Es gab im Übrigen auch eine sehr grosse Solidarität. Es gibt solche Einzelbeispiele. Es sind zwar keine grösseren Bewegungen, die die Massen ergriffen hätten. Aber es gibt sehr viele Experimente, Genossenschaften, Selbstverwaltung. Oft ist das alles prekär. Aber da steckt etwas Neues drin.

Es gibt bisher zwei Antworten auf die Krise: Einerseits die Reparatur des Systems und andererseits das grünliberale Projekt des «Green New Deal». Dieses Projekt will das System auch reparieren, nur achtet man darauf, dass die staatlichen Interventionen ökologische Elemente enthalten.

Die Weiterführung des bestehenden Systems, mit grünem Anstrich ...

... mit Wachstum und allem, ja. Grüne Parteivertreter sagen: Wir wollen Modernisierung, Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit. Da sagen die Liberalen natürlich: Das wollen wir auch. Sagen die Grünen: Wir wollen aber, dass das Ökologische eine Rolle spielt. Das ist die Basis grünliberaler Koalitionen.

Der Green New Deal scheint Sie nicht zu überzeugen.

Ich bin mehr als skeptisch, wenn ich verfolge, welche Koalitionen sich dabei bilden. Sie wollen natürlich ökologisches Investment, aber sie wollen vor allem: Investment, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit.

Bedeutet grünes Investment auch ein neues Aufblähen der Finanzmärkte?

Aber selbstverständlich. Green Investment ist der neue Renner. Es gibt die Idee einer langen konjunkturellen Welle, laut der es immer nach grossen Krisen wieder ein neues Investment-Feld gab: Die Chemie- und Elektroindustrie Ende des 19. Jahrhunderts, die Automobile nach dem Zweiten Weltkrieg, später kam die New Economy mit dem IT-Hype und jüngst die Biotechnologie.

Jetzt sind wir wieder in einer Krise, und nun soll alles grün werden. Alternative Energien, der Emissionshandel – die Investmentbanker fabrizieren dafür schon neue Papiere. So geht das heute mit den Emissionszertifikaten: Aus nichts macht man Emissionsrechte bis zu einer Obergrenze. Die werden dann an Börsen oder ausserbörslich gehandelt, es wird mit ihnen spekuliert. Das heisst: Wir überlassen den Spekulanten die Klimapolitik! Und kriminellen Betrügern, die sich im einen Land die Mehrwertsteuer erstatten lassen, die sie im anderen Land gar nicht gezahlt haben. Das ist der Skandal. Abgesehen davon, dass dabei eine neue Blase aufgepumpt wird, die natürlich zum Crash führt: Das kann nicht gut gehen, denn es ist ja kein richtiger Wert dahinter.

Wir stolpern also von einer Blase in die nächste?

Wenn wir die Politik des Green New Deal verfolgen, dann ist die nächste Krise absehbar. Wann genau sie kommt, ist schwer zu sagen. Krisen sind immer auch politische und soziale Destabilisierungsphasen. Was dann folgt, ist nicht klar, ausser: Wir müssen uns warm anziehen.

Und gegen diese Entwicklung – Reparatur des Systems oder grüner New Deal – gibt es eben die solidarische Ökonomie, die darüber hinausgeht.

Solidarische Ökonomie?

Die Alternative zu den Programmen gegen die Krise. Sie orientiert sich an weniger Wachstum oder prinzipiell keinem Wachstum – was keinesfalls den Verzicht auf Entwicklung, auf Fortschritt bedeutet, aber nicht mehr dieses quantitative Wachstum der Überschussproduktion, um beispielsweise die Forderungen des Finanzsektors befriedigen zu können.

Das heisst, es müsste auch der Finanzsektor ganz anders gestaltet werden. Und das geht nur auf globaler Ebene. Solidarische Ökonomie ist nicht nur auf der lokalen Ebene zu denken, sondern funktioniert nur im Zusammenhang mit einer globalen Regulierung der Finanzmärkte. Das geht nur, wenn man zu anderen, erneuerbaren Formen der Energienutzung übergeht, eine postfossile Gesellschaft als Vision verfolgt. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber man kann es als Ziel formulieren und gleichzeitig die Produktion auf lokaler Ebene organisieren.

Wie?

Genossenschaftlich. Genossenschaften verfolgen andere Zielsetzungen als normale kapitalistische Unternehmen. Sie sind nicht profitorientiert, sie sind partizipatorisch, sie sind nachhaltig, und sie befinden sich in kollektivem Eigentum, nicht in Privateigentum.

Wie sollte solidarische Ökonomie jenseits einer Perspektive der Eroberung und Erhaltung von Macht möglich sein?

Was verstehen wir unter Macht? Wenn man darunter die Staatsmacht versteht, dann verfügt der Sektor Solidarische Ökonomie über keinerlei Macht. Wenn man darunter allerdings Überzeugung und das Beispielhafte versteht – was ja auch Macht bringen kann, weil dann andere dem auch folgen –, spielt das schon eine Rolle. Solidarische Ökonomie umfasst nicht nur kleine Projekte, sondern auch Volksbewegungen.

In Lateinamerika ist die solidarische Ökonomie in den politischen Institutionen mit verankert. Die linken Regierungen haben Staatssekretäre, Programme, finanzielle Mittel zur Förderung der solidarischen Ökonomie. Sie ist im formellen Politbetrieb integriert und nicht etwas Marginalisiertes. Das ist in Europa ganz anders.

Solidarische Ökonomie bedeutet weit mehr als genossenschaftliche Produktion. Dazu gehören auch die Verteidigung und Besetzung öffentlicher Güter, öffentlicher Räume, zum Beispiel der Kampf gegen die Privatisierung der Deutschen Bahn.

Sie sagen, es brauche dazu den Staat. Aber der Staat ist nicht nur eine Arena der gesellschaftlichen Auseinandersetzung, sondern er ist auch selbst ein Herrschaftsinstrument.

Vollkommen richtig. Aber trotzdem kann man das nicht ohne den Staat machen, denn die einzige legitimierte Institution, die zum Beispiel das Recht der Steuererhebung hat, ist der Staat. Wenn man umverteilen will, braucht man den Staat. Natürlich ist der Staat auch als Umverteilungsstaat gleichzeitig Herrschaftsinstrument. Er ist einerseits diese Arena, in der Auseinandersetzungen stattfinden, in der man sich selbst auch befindet, wenn man an diesen Auseinandersetzungen teilnimmt. Und er ist gleichzeitig auch ein Macht- und Verteilinstrument, das man benutzen kann – das aber gegenwärtig vor allem andere für ihre Zwecke benutzen.

Die Sozialdemokratie hat immer um den Staat gekämpft, sie hat ihn nur als ihr Instrument betrachtet und weniger als eine Arena der Auseinandersetzung.

Dabei hat sich die Sozialdemokratie stark getäuscht. Sie ist nun eine aktive Modernisiererin dieses Herrschaftsinstruments.

Ja, genau.

Sie schreiben von der «Ambivalenz des Reformismus» und reden nun selbst wie ein Reformist. Sehen Sie die Lösung nur innerhalb des Systems?

Was heisst hier innerhalb oder ausserhalb? Das System verändert sich auch durch diese Kämpfe. Und irgendwann ist man ausserhalb des Systems, wie es die letzten Jahrzehnte existierte.

Das Problem ist: Wenn man den Staat abschaffen will, braucht man ihn trotzdem. Denn den Staat als technische Einrichtung erhält man. Dabei gilt die Vorstellung, dass ein Staat als technisches Instrument nicht auch gleichzeitig Herrschaftsinstrument wäre – das ist er aber.

Eine vertrackte Situation. Es gibt eine Perspektive jenseits des Kapitalismus, und es gibt alternative Ansätze in der Gegenwart. Die beiden zu verbinden, ist sehr schwierig. Es braucht eine bestimmte Form von Staat, welche die solidarischen Ansätze auch verteidigen hilft.

Aber dieser bestimmte Staat ist durch die sozialen Bewegungen selbst entstanden. Die Regierungen in Lateinamerika sind ja ein Resultat dieser sozialen Bewegungen. Evo Morales wäre in Bolivien nicht an die Macht gekommen, wenn es nicht die indigene Bewegung zur Verteidigung der Bodenschätze und der Rekommunalisierung der Wasserversorgung gegeben hätte. Auch Brasiliens Präsident Lula da Silva wäre nicht ohne die Landlosen- und die Gewerkschaftsbewegung an die Macht gekommen. Dasselbe gilt in Venezuela. Es besteht immer diese Dialektik zwischen den sozialen Bewegungen, die Regierungswechsel erzwungen haben, und den Regierungen die – im günstigen Fall – die sozialen Bewegungen unterstützen und stärken. Nur wenn sie das tun, bleibt auch die Regierung im Amt, sonst wird sie weggefegt.

Alle diese Ansätze reflektieren komplett unterschiedliche Erfahrungen und Realitäten, wo kann hier ein gemeinsamer Nenner gefunden werden? Was kann die Kleinbäuerin in Indien und den Automobilarbeiter in Detroit verbinden?

Erstens, das Wissen um die Verschiedenheit. Denn das ist die Basis für Evolution. Wir beklagen den Verlust der Biodiversität, denn wir wissen, wenn die verloren geht, dann wird der Evolutionsprozess des Lebens zusammenbrechen. Das ist in Wirtschaft und Gesellschaft nicht total anders. Vielfalt ist die Voraussetzung, damit sich was Neues durchsetzen kann. Denn vorauszuplanen, was das Neue sein soll – so viel sollte man aus den Erfahrungen der Planwirtschaft gelernt haben, das kann nicht funktionieren.

Das Zweite, was der Kleinbäuerin und dem Automobilarbeiter gemeinsam sein wird, ist der Übergang zu einem anderen Energiemodell. Ein verändertes Energiemodell ist immer auch verbunden mit der Suche nach neuen Lebensweisen. Das verbindet natürlich auch, obwohl die Bedingungen für neue Energieträger ganz unterschiedlich sind. Da wird dann wieder Verschiedenheit zur Geltung kommen, aber das ist dann Diversität auf einer gemeinsamen Grundlage.


Elmar Altvater

Der Politikwissenschaftler und Ökonom Elmar Altvater (71) gilt als Doyen der marxistischen Wirtschaftswissenschaft. Er untersucht die Strudel der Finanzmärkte ebenso wie die Möglichkeiten einer solidarischen Ökonomie. Altvater lebt in Berlin. In der WOZ schrieb er zuletzt über die drohende Abwertung des US-Dollars (siehe WOZ Nr. 19/09).

Kürzlich ist von ihm und dem WOZ-Autor Raul Zelik ein Buch im Blumenbar-Verlag erschienen.

Raul Zelik, Elmar Altvater: «Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft.» Blumenbar. München 2009. 206 Seiten. Fr. 26.90.