Nordirland: «Alle lügen, ausser ich»

Nr. 16 –

Korruption, Gedächtnisschwund und zwei Sexgeschichten – in dieser Hinsicht unterscheidet sich die frühere Kriegsprovinz kaum von anderen Ländern. Aber warum stehen jetzt ausgerechnet altgediente Friedenspolitiker unter Druck?


Die letzten Wochen hatte sich Peter Robinson wohl anders vorgestellt. Seit Monaten steht der Erste Minister der nordirischen Regionalregierung unter Dauerbeschuss – und dann rief ihn an Karfreitag auch noch die BBC an. Ob er ein Interview geben könne, fragte der erfahrene Reporter Seamus McKee. Das konnte und wollte Robinson – er ist auch Vorsitzender der grössten nordirischen Partei, der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) – nicht ausschlagen; gab ihm das doch die Gelegenheit, es endlich allen zu zeigen.

Und das tat er auch. Die BBC betreibe eine Verleumdungskampagne gegen ihn, eine wahre Hexenjagd, und alles, was da behauptet werde, sei erstunken und erlogen. Dabei hatte ihn der TV-Interviewer nur gefragt, was denn da nun wirklich gelaufen sei, als die Familie Robinson vor Jahren einen Streifen Land neben ihrer Villa für nur fünf Pfund (rund acht Franken) habe kaufen können. Das sei nur ein Deal mit einem befreundeten Grundstücksmakler und Bauunternehmer gewesen, sagte Robinson, der durch den Handel ein ihm gehörendes Grundstück erschliessen konnte, das er dann für 460 000 Pfund veräusserte. «Und ich kenne nicht nur ihn, sondern Hunderte von Geschäftsleuten sehr gut.» Durch den Handel habe er keinerlei Gewinn erzielt, sagte der Regionalpremier (immerhin habe er den Streifen Land für fünf Pfund zurückgegeben) – und wurde ausfällig: «Sie lügen», warf er dem BBC-Mann vor. Die BBC und andere, die ebenfalls Aufklärung verlangen: «Alles Lügner!»

Die Nerven liegen blank beim bis dahin eher pragmatisch-unauffällig agierenden Premierminister von Nordirland. Immerhin stehen Unterhauswahlen an, und die DUP macht sich Sorgen: Kann sie ihre Sitze verteidigen? Peter Robinson vertritt seit 31 Jahren den Wahlkreis Belfast Ost im britischen Parlament.

Die First Lady

Im Unterhaus sass bis vor kurzem auch seine Frau Iris Robinson. Doch dann kam heraus, dass sich die First Lady von Nordirland mit einem Teenager eingelassen hatte. Viele Staatsmänner und Regierungschefs (von Kennedy bis Mitterrand, von Sarkozy bis Berlusconi) erlaubten und erlauben sich jüngere Geliebte – doch im zutiefst religiösen und bigotten Nordirland, und dann auch noch als Frau? Als wäre die Bettgeschichte nicht schon schlimm genug, wurde auch noch publik, dass sich Iris Robinson bei «befreundeten Bauunternehmern» 50 000 Pfund geliehen hatte, um ihrem Liebhaber beim Kauf eines Cafés unter die Arme zu greifen. Die unionistisch-protestantische Politelite Nordirlands hatte ihren ersten handfesten Sexskandal.

Robinson liess fünf Wochen lang sein Amt ruhen, und seine Gattin trat von all ihren Posten im britischen Parlament, in der nordirischen Versammlung und im Bezirksrat von Castlereagh zurück; danach wurde sie in eine Londoner Klinik verfrachtet, wo sie rund um die Uhr betreut wird. Das jedenfalls behauptete ihre Partei – bis herauskam, dass Iris Robinson zwischendurch auch mal shoppen geht. Und wieder wetterte der Regionalpremier gegen die Medien, die er lange mit Familienglückstorys gefüttert hatte.

In vielen anderen Ländern würden Parteimitglieder nun Fragen stellen: Kann einer mit solch lukrativen Verbindungen zur Geschäftswelt noch Nordirland regieren? Gefährdet Robinson nicht die Wahlchancen der DUP? Ist seine Kommunikationsstrategie noch dienlich? Doch kaum jemand fragt.

Auch Sinn Féin, der wichtigste Partner in Robinsons nordirischer Allparteienkoalition, hält sich mit Kritik zurück. Das liegt zum einen daran, dass selbst die irisch-nationalistischen GegnerInnen der DUP das heikle Gleichgewicht in der weiterhin gespaltenen Provinz nicht gefährden wollen. Und daran, dass die Partei Sinn Féin – einst der politische Arm der früheren Untergrundorganisation IRA – ebenfalls nicht mehr gut auf die Medien zu sprechen ist: Ihr langjähriger Chefstratege und Präsident Gerry Adams ist momentan in gleich zwei Skandale verwickelt, deren Folgen kaum absehbar sind. Und auf die er wie Robinson reagiert: Alle lügen, nur ich nicht.

Gerry Adams ist einer der bedeutendsten nordirischen Politiker der letzten vierzig Jahre. Aufgewachsen im armen Westbelfast, hat er miterlebt, wie Ende der sechziger Jahre ein probritisch-unionistischer Mob mit Unterstützung der nordirischen Polizei die Arbeitslosenquartiere der weitgehend rechtlosen katholischen Minderheit überfiel. Er organisierte ab 1968 den Widerstand gegen die britischen Truppen, die den protestantischen Einparteienstaat verteidigten; er war dabei, als die IRA mit Waffen die Quartiere verteidigte; er kämpfte für ein Ende der britischen Herrschaft über Nordirland, sass im Gefängnis, spielte eine wichtige Rolle bei den Hungerstreiks Anfang der achtziger Jahre und erkannte früher als manch andere, dass der Kampf gegen die Londoner Dominanz militärisch nicht zu gewinnen war. Er führte Geheimverhandlungen mit der britischen Regierung, baute Sinn Féin in eine schlagkräftige Partei um und gewann durch allerlei Winkelzüge und zum Teil haltlose Versprechungen die Mehrheit der irisch-republikanischen RebellInnen für seinen Kurs. 1998 unterzeichnete er das Friedensabkommen; seither sitzt seine SF-Partei (mit Unterbrüchen) in der nordirischen Regionalregierung.

Fast alles hat Gerry Adams während seiner Karriere vom Rebellen zum Staatsmann also richtig gemacht. Und doch sind ihm zwei schwerwiegende Fehler unterlaufen:

Seit Jahren behauptet Adams, er sei nie Mitglied der IRA gewesen. Was ihn dazu getrieben hat, ist unklar – denn er hätte wissen müssen, dass Hunderte seiner ehemaligen MitkämpferInnen das Gegenteil bezeugen können. Vor zwei Wochen erschien ein Buch, in dem einer seiner engsten Gefährten im Untergrundkampf Adams’ Selbstdarstellung detailliert widerlegt.

Potenziell verheerender sind Adams’ Ausflüchte, als er zu seinem Vater und seinem Bruder Liam befragt wurde: Beide hatten sich an Kindern vergangen. Besonders schwerwiegend für frühere IRA-Mitglieder ist, dass die nordirischen Behörden schon früh von Liam Adams’ Verbrechen wussten, aber kein Verfahren gegen ihn einleiteten, sondern ihn, den Vorsitzenden eines Sinn-Féin-Klubs, unter Druck setzten – und aller Wahrscheinlichkeit nach als Informanten einsetzten.

Scappaticci und Donaldson

«Mit Liam Adams hatten die britischen Geheimdienste offenbar einen weiteren Spitzel nahe der IRA-Führung», sagt Tommy McKearney, «und dass das alles in letzter Zeit bekannt wurde, ist sicher kein Zufall.» McKearney, der seit Jahren ein Projekt zur Versöhnung der beiden nordirischen Gemeinschaften leitet, war früher ein wichtiges IRA-Mitglied; er sass sechzehn Jahre in Haft, nahm 1980 am Hungerstreik teil und trat Ende der achtziger Jahre aus der IRA aus, weil sie ihm zu militaristisch geworden war. Er kennt sich also aus.

«Wir wissen schon lange, dass die Briten Spitzel in der IRA-Führung hatten», sagt McKearney. Nur so sei zu erklären, dass gegen Ende des Krieges etliche IRA-Einheiten von britischen Sonderkommandos aufgerieben wurden. «Interessant ist dabei, wann manche der Informanten enttarnt wurden: Fred Scappaticci zum Beispiel flog auf, als die IRA-Basis zögerte, ihre Waffen abzugeben. Und der Name Denis Donaldson ging durch die Medien, als Sinn Féin und IRA darüber diskutierten, ob sie die neu formierte Polizei Nordirlands akzeptieren sollen.» Scappaticci floh nach der Enttarnung ins Ausland, Donaldson wurde von ehemaligen Kampfgenossen erschossen.

Verratene Verräter

In beiden Fällen sei die Botschaft dieselbe gewesen, glaubt McKearney. «Die Briten haben Informationen über die Informanten an die Medien weitergeleitet, um die Sinn-Féin-Spitze um Gerry Adams zu warnen: Wir wissen alles und können noch mehr durchsickern lassen, wenn ihr nicht mitspielt.» So habe die britische Regierung Sinn Féin die Möglichkeit jedweder Opposition – auch einer friedlich-politischen – genommen.

Beruht also der nordirische Friedensprozess seit dem Karfreitagsabkommen 1998 nur auf Zwang und der Drohung mit einem Verrat der Verräter, der die Glaubwürdigkeit der Sinn-Féin-Führung gefährden könnte? Sicher nicht. Das sagt auch Tommy McKearney. «Ausschlaggebend war, dass die Menschen genug vom Krieg hatten. Aber mit diesen Manövern wurde Gerry Adams der Spielraum genommen.» Und warum kam jetzt Liams Geschichte zutage? «Es kann gut sein, dass London die neue Sinn-Féin-Generation an der Stelle der alten Führung sehen will – junge, dynamische und tendenziell prinzipienlose Leute, die mit den Zielen der irisch-republikanischen Bewegung und dem Krieg nichts mehr zu tun haben.»

McKearney ist nicht der Einzige, der die aktuellen Skandale staatsdienstlichen Machenschaften zuschreibt. Auch Roy Garland – Wissenschaftler, Journalist und Mitglied der protestantischen Ulster Unionist Party (UUP) – glaubt nicht an einen Zufall. Immerhin hat Iris Robinsons Sekretär die Medien über die Fehltritte der ehemaligen DUP-Powerlady informiert – und der stand lange Zeit im Dienst der britischen Armee. «In den britischen Geheimdiensten gab es immer zwei Strömungen», sagt Garland. «Die eine bugsierte die IRA in Richtung Frieden, die andere bekämpft sie immer noch und mit ihr alle, denen an einer politischen Lösung gelegen ist – also auch Peter Robinson.»

Ein Rücktritt des Regionalpremiers hätte verheerende Folgen, sagt Garland. «Mit ihm würde Nordirland den einzigen unionistischen Politiker verlieren, der über den [protestantischen] Tellerrand hinausblicken kann. Alle anderen krebsen zurück.» Selbst Garlands UUP will immer weniger von einem Ausgleich mit der irisch-nationalistischen Bevölkerungsminderheit wissen: Die Partei, die 1998 gegen den heftigen Widerstand von Ian Paisleys und Robinsons DUP das Karfreitagsabkommen unterzeichnet hatte, lehnt mittlerweile alle Schritte hin zu einer Normalisierung ab. «Die UUP wird nun von einer verängstigten Mittelschicht dominiert, die jede Änderung fürchtet», sagt Garland, der wegen seiner liberalen Ansichten wiederholt von der UUP gemassregelt wurde.

Dabei wären Änderungen dringend. Über neunzig Prozent der nordirischen Bevölkerung lebt entweder in nationalistisch-katholischen oder unionistisch-protestantischen Wohngebieten, es gibt noch immer keine interkonfessionellen Schulen, und die Zahl der «Friedensmauern» zwischen den Quartieren wächst beständig. Alle grossen Parteien auf der einen wie auf der anderen Seite profitieren von dieser Segmentierung. Doch stabil ist selbst diese nicht: Am vorletzten Montag detonierte schon wieder eine Autobombe der republikanischen Militanten – vor dem Hauptquartier des britischen Geheimdienstes MI5 – dort also, wo die Strippenzieher sitzen.


Wahl in Nordirland

Am 6. Mai wählen auch die NordirInnen ihre Unterhausabgeordneten. Grossen Einfluss haben sie freilich nicht, weil keine der britischen Parteien in Nordirland kandidiert – es sei denn, die Unterhauswahl endet (wie allgemein erwartet) in einem Patt. Dann könnten die Stimmen der unionistischen Parteien – wie Mitte der siebziger Jahre – spielentscheidend sein.

Am meisten zu verlieren hat die DUP, die derzeit neun der achtzehn Abgeordneten von Nordirland stellt. Vor dem Karfreitagsabkommen 1998 hatte sie zwei. Die bisher als gemässigt geltende UUP (1998 noch mit zehn Abgeordneten in London vertreten) verlor vor kurzem ihren einzigen Sitz. Die fünf Sinn-Féin-VertreterInnen spielen im Unterhaus keine Rolle, da sie den Eid auf die Queen verweigern und ihren Sitz nicht einnehmen.

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