Britannien: Das Kreuz mit dem Fragezeichen

Nr. 17 –

Wahlkampf im Zeichen der Krise – und keine Partei verrät, was sie den BürgerInnen demnächst zumuten will. Kein Wunder, hält sich die Begeisterung in Grenzen. Denn selbst nach Labours dritter Amtszeit steht die Bevölkerung links vom Mainstream der Parteien.


Gemeinschaftszentrum Love, Newham, Ostlondon. In einem Klassenzimmer der ehemaligen Volksschule sitzen die Friends of Queen’s Market, eine kleine Gruppe von AktivistInnen, die seit Jahren für den Erhalt des multiethnischen Strassenmarkts an der Green Road streitet. Heute haben sich nur ein halbes Dutzend Leute eingefunden, und doch ist die Stimmung gut: Die Basisinitiative hat der Labour-Verwaltung von Newham eine vernichtende Niederlage beigebracht. Nun ja, vielleicht nicht sie direkt. Aber ihre vielen Protestkundgebungen waren neben dem Immobiliencrash mit ausschlaggebend dafür gewesen, dass Newhams Labour-Bürgermeister Robin Wales seine hochfliegenden Träume beerdigen musste: Der Plan, anstelle des lange Zeit vernachlässigten Queen’s Market (vgl. WOZ Nr. 8/09) ein gigantisches Einkaufszentrum zu errichten, ist vorerst vom Tisch.

Ausgerechnet Boris Johnson, der konservative Oberbürgermeister von London, hat den Bauantrag verweigert. «Der kam vorbei und wollte wissen, was eigentlich los ist», erzählt Neil Stockwell, der in dritter Generation auf dem Markt Obst und Gemüse verkauft. «Und da habe ich ihm gesagt: So leidenschaftlich, wie Sie Oberbürgermeister sind, so leidenschaftlich versorge ich die MigrantInnen und armen Leute hier mit frischen Lebensmitteln.» Verkehrte Welt: Die frühere Arbeiterpartei Labour, nach eigener Darstellung immer noch Sprachrohr der Bedrängten und Marginalisierten, ignoriert ausgerechnet im ärmsten Londoner Stadtbezirk die Bedürfnisse der Menschen, obwohl sie hier über eine massive Mehrheit verfügt (56 der 60 Lokalabgeordneten gehören der Labour-Fraktion an). Und ein Konservativer hört zu – und handelt.

Aber stimmen die Friends of Queen’s Market bei der Unterhauswahl am 6. Mai für die Tories, die Konservativen, deren Chef David Cameron «mehr Macht für die Bürger» verspricht? «Nun ja», sagt Daulat Chadda, ein älterer Herr asiatischer Herkunft, «ich weiss nicht so recht.» Pauline Rowe, die die Initiative zusammenhält, ist da entschiedener: «Nein, die Tories wähle ich gewiss nicht. Schau doch nur, was die in den achtziger und neunziger Jahren aus dem Land gemacht haben. Die Labour-Politik gefällt mir zwar überhaupt nicht, aber hier im Wahlkreis gibt es keine Alternative.»

Skepsis und Zynismus

Wo immer man nachfragt: Die Begeisterung für Labour hält sich in Grenzen. Und das liegt nicht nur an der Person des Spitzenkandidaten Gordon Brown. Am anderen Ende von London, in Kilburn, ist Mehmet Berker nicht so gnädig wie Pauline Rowe. «Ich habe 1997 Labour gewählt, damit wir die Tories endlich loswerden», sagt der Architekt. «Aber nach ein paar Monaten Tony Blair habe ich gemerkt: Das war ein Riesenfehler! Der setzt ja die konservative Politik fort!» Labours Irakkrieg und die verlogene Begründung für den Feldzug haben Berker erst recht empört. «Es war ja nicht nur Blair. Gordon Brown [damals Schatzkanzler] hat den Krieg finanziert, Jack Straw [damals Aussenminister] hat ihn gutgeheissen, auch wenn er ihn hinterher nicht befürwortet haben will – und wenn du dir Geoff Hoon anschaust [damals Verteidigungsminister], wählst du in deinem ganzen Leben sowieso nie wieder Labour!» Hoon sei doch immer nur ein Strichjunge gewesen, sagt Berker – «wie die ganze Baggage». Früher hatte Berker stets für Labour und Ken Livingstone votiert, den ehemaligen linken Oberbürgermeister von London.

Seit Hoon zugeben musste, dass er für ein paar Tausend Pfund am Tag seine Kontakte zu Downing Street 10 (dem Amtssitz des Premiers) spielen lassen würde, und seit bekannt ist, dass zahllose Abgeordnete ihre Spesenrechnungen gefälscht haben, denken viele wie Berker. Die PolitikerInnen machen, was sie wollen, sie sind abgehoben und käuflich, ergehen sich in Sprechblasen und bieten keine Lösung für die drängendsten Probleme – viele BritInnen sind skeptisch, zum Teil auch zynisch geworden. Und wissen auch zehn Tage vor der Wahl nicht, für wen sie stimmen werden.

Das Vakuum

Britannien steckt noch immer mitten in der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Das Haushaltsdefizit beträgt umgerechnet 280 Milliarden Franken (rund zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts), die Konjunktur erholt sich kaum vom massiven Einbruch der letzten Jahre, der Wert des Pfunds sinkt weiter, und die Inflation liegt mit aktuell 3,4 Prozent deutlich über den Prognosen. Mit der Verstaatlichung von drei Grossbanken ist die Bankenkrise nicht ausgestanden – und die Finanzmärkte fordern immer drängender eine Kürzung der Staatsausgaben.

Jetzt rächt sich, dass Labour wie die Konservativen stets nur auf das Börsen- und Bankenzentrum in der Londoner City gesetzt haben. Und immer noch nicht wissen, wie sie die Geister, die sie einst riefen, in die Flasche zurückstopfen können. Dass den beiden grossen Parteien nicht mehr einfällt als marginale Korrekturen (eine höhere Versteuerung der Banker-Boni, etwas mehr Regulierung), hat ein politisches Vakuum geschaffen.

Über Jahrzehnte hinweg haben Labour und Konservative konträre Konzepte vertreten. Labour repräsentierte die Idee vom paternalistischen Staat, der das Kapital im Zaum zu halten versprach und die Interessen der Lohnabhängigen und Armen berücksichtigte. Die Tories hingegen sahen im Markt das Allheilmittel. Jetzt aber stehen beide nackt da: Den Konservativen haben die Finanzmärkte durch ihre Kernschmelze die Kleider gestohlen, und Labour (nicht minder marktorientiert) kann die früheren Zusagen nicht mehr einhalten – die Bevölkerung vor der Anarchie und der Dominanz der Märkte zu schützen: Das Schatzamt hat kein Geld mehr.

Dass sowohl Labours Staatsansatz wie die Markteuphorie der Konservativen gescheitert sind, wissen die Menschen – oder sie ahnen es. Und deshalb interessiert sich auch kaum jemand dafür, ob zur Reduzierung des Staatsdefizits die Sozialbeiträge um einen Prozentpunkt angehoben werden sollen (wie Labour beschlossen hat) oder ob Tory-Chef David Cameron hundert WirtschaftsführerInnen aufbietet, die eine Steigerung der Sozialabgaben strikt ablehnen. Laut einer Umfrage gehen 94 Prozent der Bevölkerung davon aus, dass ihnen die Parteien sowieso nicht die Wahrheit über ihre künftige Haushaltspolitik sagen.

Links von Labour

Gibt es also nichts, was die Menschen bewegen könnte? Doch, sagt Gavin Hayes von Compass, einer linken Denkfabrik und Kampagnenorganisation. «Das Hauptproblem ist, dass Labour nie so gehandelt hat, wie sich das die meisten erhofft hatten.» In vielen Bereichen befürworte die Bevölkerung eine Politik, die links von Labour ist, sagt Hayes und zählt auf: Irakkrieg und Afghanistan, Einführung einer Finanztransaktionssteuer, eine Bahn für alle und nicht für Profit, gleiche Löhne für Mann und Frau, Anhebung des Mindestlohns, Zerschlagung der Grossbanken und ein Wahlsystem, bei dem jede Stimme zählt. Für all das gebe es überwältigende Mehrheiten, sagt Hayes und verweist auf seriöse Umfragen.

«Trotz all ihren Bemühungen hat Margaret Thatcher die Sehnsucht der Briten nach kollektiven Lösungen nicht durchbrechen können», schrieb die «Financial Times» nach Labours Wahlsieg 1997. Dieser Wunsch ist offenbar immer noch da, vor allem in der Krise. Die grossen Fragen (Klimawandel, Grundversorgung, Arbeitsplätze, Sicherung des Sozialstaats) können nicht individuell beantwortet werden – davon sind die meisten überzeugt.

Aber wieso dann diese merkwürdige Apathie vor einer so entscheidenden Wahl? «Weil keine der Parteien eine Vision hat und ein neues Gesellschaftsmodell entwirft», sagt Gavin Hayes. «Dabei durchlebt das politische System derzeit seine grösste Krise seit hundert Jahren. Es ist bankrott.» Das Mehrheitswahlsystem habe vielleicht im 19. Jahrhundert seine Berechtigung gehabt. «Heute jedoch, in der grossen Krise, wollen alle ernst genommen werden.» Nicht einmal ein Sechstel der 646 Wahlkreise stehen im Zentrum des Wahlkampfs (die meisten davon in bürgerlichen Regionen); in allen anderen verfügen die grossen Parteien über jeweils stabile Mehrheiten – mit der Folge, dass sie sich vor allem um die WechselwählerInnen bemühen.

Power to the People?

Alle ernst zu nehmen – das versprechen Cameron und auch Nick Clegg von den LiberaldemokratInnen. Den Entwurf einer neuen Gesellschaft, den Labour vermissen lässt, bietet ausgerechnet Cameron an: Er plädiert für eine «Big Society» (ein neues Miteinander), befürwortet mehr Mitsprache der Bevölkerung auf allen Ebenen, will Schulen, Parks, Bibliotheken, Spitäler von Eltern, Gemeinschaftsorganisationen, LeserInnen und ÄrztInnen verwalten lassen und plant, den Genossenschaftsgedanken zu stärken. Cameron, der einen Teil der radikal-thatcheristischen Vergangenheit abschüttelte, schätze – so Hayes – «die Stimmung der Bevölkerung recht gut ein und hat Labour rhetorisch links überholt.»

Die Tories und die LiberaldemokratInnen haben zumindest eine Ahnung von der Wut der Menschen. Doch auch Camerons Konzept der Bürgerbeteiligung überzeugt nicht so recht, läuft es doch auf eine Privatisierung durch die Hintertür hinaus. Und agiert bei den Tories nicht immer noch ein starker rechter Flügel? Steckt die Partei nicht in der Tasche reicher GönnerInnen? Haben sich die konservativen Abgeordneten im Europaparlament nicht mit ultranationalistischen Gruppierungen zusammengetan? «Wer will schon ein Kreuz neben ein Fragezeichen setzen?», spottete vor kurzem Labour-Chef Brown über seinen unerfahrenen Konkurrenten. Doch auch über seinen Wahlversprechungen hängt ein grosses Fragezeichen: Warum hat Labour all die Versprechungen, die die Partei jetzt abgibt, nicht schon längst umgesetzt?

Wo Labours Staat und die Marktwirtschaft der Tories nicht funktionieren, könnte vielleicht ein Mittelweg Abhilfe bieten. Das erklärt den jüngsten Aufschwung der LiberaldemokratInnen in den Meinungsumfragen. Immerhin hatten sie als einzige der grösseren Parteien den Irakkrieg abgelehnt. Und da sie von den meisten Medien geschnitten werden, haben sie derzeit den Nimbus des Underdogs. Aber auch ihnen fällt zum Haushaltsdefizit nicht mehr ein als drastische Kürzungen: Sozialabbau, Stellenstreichungen im Service public, weitere Privatisierungen.

Am besten ein Patt?

Bei der Vorstellung seines Haushalts 2010 hat Labour-Schatzkanzler Alistair Darling «weitreichendere Einschnitte als zu Thatchers Zeiten» in Aussicht gestellt. «Noch mehr Einschnitte?», fragt da Mark Serwotka, Generalsekretär der Gewerkschaft PCS des öffentlichen Dienstes: «In den letzten fünf Jahren sind bereits zwischen 80 000 und 100 000 Jobs abgebaut worden.» Den grossen Parteien falle immer nur dasselbe ein, statt das Geld dort zu holen, wo es ist. «In der britischen Klassengesellschaft gibt es ernormen Reichtum.» Wer auch immer die Wahl gewinne: «Der entscheidende Kampf beginnt hinterher» – bei der Verteidigung der Arbeitsplätze.

Das sieht auch Gavin Hayes so: «Die Gesellschaft muss von unten her verändert werden.» Und wie? «Nimm beispielsweise den Londoner Living Wage», ein in der Hauptstadt geltender Minimallohn, der deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt. «Den haben nicht Politiker durchgesetzt, sondern eine breite Allianz von Gewerkschaftsgruppen und sozialen Organisationen. Den kann niemand mehr abschaffen – egal, wer gewinnt.» Der Londoner Mindestlohn ist mittlerweile so populär, dass Cameron in einem Beitrag für den «Guardian» sogar behauptete, der konservative Oberbürgermeister Johnson habe ihn eingeführt (tatsächlich war es dessen Vorgänger Livingstone).

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die Wahl keine eindeutige Gewinnerin haben; jüngsten Meinungsumfragen zufolge liegen die drei grossen Parteien gleichauf. «Ein parlamentarisches Patt wäre so schlecht nicht», sagt Architekt Berker. Alle seine KollegInnen fänden ein solches Ergebnis gut. Keine Partei könne dann so selbstherrlich auftreten wie bisher: «Eingebunden in eine Koalition, hätte Blair nie so einfach in den Krieg ziehen können.» Und das sei doch schon mal was.



Von oben nach unten: Labours Kontrollfreaks

Besonders gut ist Gale Stevenson nicht auf Labour zu sprechen. Die Rechtssekretärin der Grossgewerkschaft Unite (knapp zwei Millionen Mitglieder) kritisiert nicht nur, dass unter Tony Blair und Gordon Brown die Beschäftigten und ihre Organisationen so rechtlos blieben, wie sie von der früheren konservativen Premierministerin Margaret Thatcher gemacht worden waren. Es stört sie auch, wie Labour WahlkreiskandidatInnen auswählt: von oben herab. «In Wigan bei Manchester etwa», sagt die energische 52-Jährige, «hat die Parteispitze eine junge Kandidatin eingeflogen, die von Politik keine Ahnung hat.» Das komme der Führung wohl zupass. Dass Nandy, die Kandidatin, aber nichts von den Gewerkschaften halte, sei schon ein starkes Stück. «Für sie sind wir eher überflüssig. Doch wo hat sie ihre Zentrale aufgebaut? Im Unite-Büro! Unsere Mitglieder finanzieren eine Partei, die sich um uns nicht schert.» Für Stevenson ist es höchste Zeit, dass die Gewerkschaften ihre Verbindungen zu Labour kappen.

Seit Blair, Brown und der heutige Business-Minister Peter Mandelson die traditionelle Arbeiterpartei in New Labour umbauten, ist aus dem ehemals breiten Verbund von Gewerkschaften, Basismitgliedern, sozialistischen Gruppierungen und Abgeordneten eine schlanke, durchhierarchisierte Wahlkampfmaschinerie geworden. «Die Labour-Partei war nie eine sozialistische Partei», sagt Tony Benn, der grosse alte Mann der Labour-Linken. «Aber so, wie es in der Kirche auch ein paar Christen gibt, hat es in Labour immer ein paar Sozialisten gegeben.» Tony Benn sass ein halbes Jahrhundert lang im Unterhaus. Zur Wahl 2001 trat er jedoch nicht mehr an – er hatte genug von den ständigen Ermahnungen und Disziplinierungsversuchen der New-Labour-Kontrollfreaks um Blair, Brown und Mandelson.

Mittlerweile ist es noch schlimmer. Die Parteispitze mischt sich häufig in den Auswahlprozess der Wahlkreisparteien ein, denen eigentlich das Recht zusteht, die KandidatInnen zu bestimmen. Vor den letzten drei Wahlen intervenierte die Führung vor allem mit dem (zutreffenden) Argument, dass Frauen unterrepräsentiert seien. Heraus kamen «Blair’s Babes»: gut gebildete, aber unerfahrene Frauen, die Blair ihr Unterhausmandat zu verdanken hatten und dem Premier bedingungslos folgten.

Jetzt aber setzen Brown und Mandelson vor allem Männer durch, die ihnen als brave Adlaten gedient hatten, und boxen engagierte Frauen zur Seite. In etlichen Wahlkreisen kam es deswegen zu heftigen Protesten – wieder verliessen gleich reihenweise altgediente Labour-Mitglieder die Partei. Nicht nur die bisherige Labour-Politik, auch das undemokratische Gebaren hat dazu beigetragen, dass die Basis von 400000 Mitgliedern (1997) auf vielleicht 150 000 schrumpfte: Man habe ja nichts mehr zu sagen.

Die strikte Kontrolle der KandidatInnenauswahl hat vor allem einen Grund: Immer wieder mussten sich Blair und Brown mit HinterbänklerInnen herumschlagen, die gegen die Regierungspolitik stimmten. Sie votierten gegen Sozialabbau, gegen die Privatisierung der Flugsicherung, gegen die «Antiterror»-Gesetze nach dem 11. September 2001, gegen die Teilprivatisierung des staatlichen Gesundheitswesens, gegen weitere Einschränkungen der Bürgerrechte. 2003 stimmten 122 Labour-Abgeordnete gegen den Irakkrieg, und Blair war auf die Unterstützung der Tories angewiesen.

Damals verfügte Blair über eine grosse Mehrheit. Jetzt aber plagen Gordon Brown zwei Albträume: die Mehrheit ganz zu verlieren oder (für ihn fast so schlimm) im Falle einer knappen Wiederwahl auf linke HinterbänklerInnen angewiesen zu sein. Deswegen bremste der Labour-Vorstand beispielsweise den altgedienten Abgeordneten Bob Wareing aus, der seinen sicheren Labour-Wahlkreis Liverpool West Derby dem stromlinienförmigen Exstaatssekretär Stephen Twigg überlassen musste. Und in Liverpool Wavertree hat die Parteispitze gegen den Widerstand von unten eine 28-jährige Londonerin als Nachfolgerin einer bisher ebenfalls umstrittenen Abgeordneten durchgesetzt. Zwei Vorzüge hat Luciana Berger: Sie ist telegen – und mit einem Labour-Unterstaatssekretär liiert.



Wales und Schottland: Wo alles anders ist

Die Dezentralisierung des Regierungssystems 1998 war die mit Abstand wichtigste Reform in Labours erster Amtszeit. Seither gibt es neben dem Unterhaus in London (zuständig für das gesamte Vereinigte Königreich) auch Parlamente in Wales, Schottland und Nordirland. In Cardiff (Wales) und Edinburgh (Schottland) hat die Einrichtung regionaler Instanzen eine Demokratisierung eingeleitet, in Nordirland wäre ohne die Nordirische Versammlung das Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 nicht möglich gewesen.

Diese «Devolution» genannte Machtübertragung auf regionale Körperschaften war eine Antwort auf die Unabhängigkeitsbestrebungen walisischer und schottischer RegionalistInnen. Grosse Kompetenzen haben die Regionalparlamente und -regierungen allerdings nicht. Während das Scottish Parliament in einzelnen Bereichen wie Bildung, Landwirtschaft und Gesundheit immerhin eigene Gesetze erlassen kann, darf die National Assembly for Wales fast nur über die Verwendung der Gelder befinden, die ihr von der Londoner Zentralregierung zugewiesen werden. Und doch verschoben sich in Wales und Schottland die Verhältnisse: Bei den Regionalwahlen gilt (anders als bei den Unterhauswahlen) das Verhältniswahlrecht.

So spielt in Wales die walisisch-sozialdemokratische Cymru eine grosse Rolle. «Die Waliser stehen traditionell eher links», sagt Huw Beynon, Soziologieprofessor an der Universität von Cardiff, «der neoliberale Konsens hat sich hier nie durchsetzen können. Die Leute kümmern sich umeinander, die Kohlenreviere waren einst Zitadellen der Gewerkschaftsbewegung, und noch heute ist die Landbevölkerung hier viel progressiver als in England.» Mit ausschlaggebend dafür sei ein immer noch vorhandenes – und begründetes – Gefühl der Benachteiligung, ein antikoloniales Ressentiment sozusagen.

Diese Haltung spiegelt sich in der Politik von Plaid Cymru. Die walisische Partei hatte sich – wie die Schottische Nationalpartei (SNP) – von Anfang an gegen Labours Afghanistan- und Irakeinsätze ausgesprochen. Sie lehnt die atomare Aufrüstung ab, plädiert für eine Zerschlagung der Grossbanken, ist für eine Besteuerung von Finanztransaktionen, will einen Maximallohn durchsetzen und den Lohnabhängigen mehr Mitbestimmung geben. Zudem fordert sie die Vergesellschaftung der privatisierten Eisenbahnen, eine Regulierung der Supermärkte (mehr regionale Produkte, mehr Bio, mehr Fairtrade), höhere Renten, ein Ende der Internierung von Flüchtlingen und eine weitgehende Reform des Strafsystems.

Ein völlig abwegiges Programm, jenseits aller Mehrheiten? Von wegen: Bei den Regionalwahlen 2007 gewann Plaid Cymru ein Viertel aller Stimmen – und dank des Verhältniswahlrechts fünfzehn der sechzig Mandate in der Versammlung. Dazu kommt, dass die walisische Labour-Partei (26 Regionalabgeordnete), die mit Plaid Cymru die Regionalregierung bildet, mit der britischen Labour-Partei kaum zu vergleichen ist. Und so stoppte die Regionalkoalition die Teilprivatisierung des nationalen Gesundheitswesens, beendete die Public-private-Partnership-Programme (bei denen gewinnorientierten Privatunternehmen öffentliche Aufgaben zugeschustert werden) und förderte – im Unterschied zur Labour-Regierung in London – den sozialen Wohnungsbau.

Auch die schottische Minderheitsregierung der SNP verfolgt eine Politik, die in wesentlichen Punkten die Ziele der Zentralregierung konterkariert – und wird darin zum Teil von der schottischen Labour-Partei unterstützt. Beide schottischen Parteien – SNP und Labour – erzielten bei der Regionalwahl 2007 jeweils ein Drittel der Stimmen. An dieser sozialdemokratischen Mehrheit wird sich so schnell nichts ändern – egal, wie die Unterhauswahl ausgeht.


Dreizehn Jahre New Labour

Seit 1997 hat New Labour den Mindestlohn eingeführt, mehr Kindertagesstätten gebaut, die Kinderarmut reduziert, die Bedingungen für Teilzeitbeschäftigte verbessert, die Entwicklungshilfe angehoben und zuletzt den Einkommenssteuersatz für Besserverdienende angehoben.

In derselben Zeit aber hat sie drei Kriege geführt (Jugoslawien, Afghanistan, Irak), die Anschaffung neuer Atomraketen beschlossen, die CIA-Entführungsflüge unterstützt, mehr Menschen eingesperrt als je zuvor, private Gefängnisse bauen lassen, die Unternehmenssteuer von 33 auf 28 und die Kapitalertragssteuer von 40 auf 18 Prozent reduziert, den sozialen Wohnungsbau zusammengestrichen, Postämter, kleine Schulen und Artzpraxen geschlossen, die Flughafenkapazität verdoppelt, die Privatisierung öffentlichen Eigentums vorangetrieben, den Bau von zehn neuen Atomkraftwerken eingeleitet, zugesehen, wie die Kluft zwischen Arm und Reich wächst – und es der Polizei erlaubt, Demonstrationen zu verbieten.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

Förderverein ProWOZ unterstützen