Kein Fussball den Faschisten!

Nr. 17 –

100 Jahre FC St. Pauli - 75 Jahre Schnarchsack, 25 Jahre Punkrock und antifaschistische Politik im Stadion: Wie ein Hamburger Quartierklub vor 25 Jahren von der Autonomen Szene neu belebt und zur weltweiten Kultmarke wurde. Eine Reportage aus dem Umfeld des FC St. Pauli mit viel Zigaretten und Alkohol.


«Wenn es auf die Fresse gegeben hat, dann hat es auf die Fresse gegeben.» Es ist ein Satz, der alles sagt und nichts. Ein Satz, den Dirk, Punker und Sänger der Band Slime, bewusst sagt, weil er eine Haltung zeigt: Wir lassen uns das nicht mehr nehmen, egal, was es kostet. Das ist ein Bundesligastadion ohne Rassismus und Neonazis – im Deutschland der achtziger Jahre die absolute Ausnahme. «Und so was hast du nicht mit einer Lichterkette erreicht», sagt Dirk, zündet sich eine Zigarette Marke West an und nimmt einen Schluck von seinem Frühstück: Wodka auf Eis. «Wir haben den Stress nicht gesucht, aber wer ihn wollte, der konnte ihn haben.»

Ein Hooligan, der so redet. Und der Antifaschist, wie sich der Fünfzigjährige selbst bezeichnet, will es gar nicht bestreiten. «Ich war bei den Anti-AKW-Protesten in Brockdorf am Zaun, habe mich mit Faschos auf der Strasse geprügelt, habe bei den Barrikadentagen mitgemacht, als die Polizei versuchte, die besetzte Hafenstrasse zu stürmen. Ich komme aus einer Strassenkämpferecke. Heute würde man wohl sagen, ich sei erlebnisorientiert.»

Hafenstrasse war die Bezeichnung für die besetzten Häuser an der und um die St.-Pauli-Hafenstrasse, für deren Erhalt zeitweise bis 12 000 Menschen demonstrierten. Mit Slime, einer der legendären Punkbands Deutschlands, lieferte Dirk gleich selbst den Soundtrack zu den wilden und düsteren achtziger Jahren. Die Slime-Stücke von 1981 heissen «Legal, illegal, scheissegal», «A.C.A.B. – All Cops Are Bastards» oder «Deutschland muss sterben, damit wir leben können». Und ein Stück trägt den Titel: «Block E – Hier regiert der HSV!».

Die letzte Flucht

«Dieser Song war absolut ernst gemeint», sagt Dirk. Noch 1981 war der Punkrocker Fan des HSV, lebte aber auf St. Pauli, dem Arbeiterquartier am Hafen, in der daraus gewachsenen Vergnügungsmeile in Hafennähe mit der Reeperbahn, den Nachtclubs, den Prostituierten und Zuhältern, den damals vielen besetzten Häusern, Junkies, dunklen Schmuddelecken, einem in Behördendeutsch «hohem Ausländeranteil» und einer hohen Kriminalitätsrate. Der Hamburger Sportverein ist einer der grössten und erfolgreichsten deutschen Fussballklubs, der Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre mit dem Gewinn des Europapokals der Pokalsieger und dem Europapokal der Landesmeister seine grössten sportlichen Erfolge feierte. «Ich bin 1960 geboren, 1966 nimmt dein Vater dich an der Hand und bringt dich ins Volksparkstadion zum HSV, wo Uwe Seeler spielt. So wirst du als Kurzer HSV-Fan», sagt Dirk. «Die ganze Hamburger Punkszene ist zum HSV gegangen.»

Der FC St. Pauli, der kleine Stadtteilverein, dessen Stadion mitten im Quartier auf dem Heiligengeistfeld in der Nähe der Reeperbahn liegt, sei damals ein gutbürgerlicher Quartierklub gewesen, «ein Schnarchsackklub», Regionalliga, ein Schnitt von 2000 ZuschauerInnen. «Das hat niemanden interessiert.»

Dann ist etwas passiert: Rechtsextreme Gruppen um den Neonaziführer Michael Kühnen begannen, in den Bundesligastadien systematisch Leute zu rekrutieren. «Die ganze Geschichte ist heftig nach rechts gekippt», sagt Dirk. «Rassismus, Hitlergrüsse und Reichskriegsflaggen gehörten schnell zum Alltag. In Dortmund, in Frankfurt, beim HSV. Die Gruppen hiessen Borussen-Front, Adler-Front. Beim HSV waren es die Löwen. Schnell hat man in der Westkurve nicht mehr ‹HSV, olé!› gehört, sondern nur noch ‹Ausländer raus!› und ‹Sieg Heil!›.» Es sei für ihn wie für andere, die gegen Rassismus und Nazis waren, extrem gefährlich geworden, ins Stadion zu gehen. «Wenn du da mit roten Haaren angekommen bist, hast du aufs Maul gekriegt.»

1985 beginnt die Geschichte des FC St. Pauli, wie man ihn heute kennt. Sie beginnt mit einer Flucht: Weg vom Block E, weg vom HSV, weg vom Volksparkstadion. Was blieb, war der Rückzug ins Viertel: «Punk war auf St. Pauli stark. Die Hafenstrasse war besetzt, der Stadtteil veränderte sich schnell: Es gab immer mehr besetzte Häuser, und es entwickelte sich ein buntes, alternatives Quartierleben. Und mittendrin stand das Millerntor-Stadion. Das Quartier hat sich irgendwann im Stadion gespiegelt.»

1985 besuchte Dirk zum ersten Mal ein Spiel des FC St. Pauli. Der Verein spielte damals nach einem kurzen Abstecher in die 2. Bundesliga wieder in der Amateuroberliga Nord. Die Gegengerade mit 5500 Stehplätzen, die später zum immer ausverkauften Symbol für Antifaschismus im deutschen Fussball wurde, war damals so gut wie leer. «Am Anfang waren wir zehn Leute. Aber ich konnte es mit meiner politischen Einstellung nicht mehr vereinbaren, zum HSV zu gehen. Und vielen anderen ging es genauso.» Aus zehn seien drum schnell fünfzig Leute geworden, dann hundert, mit dem plötzlichen sportlichen Erfolg dann Hunderte. «Seit 1985 reichen zwei Hände, um abzuzählen, wie viele Heimspiele des FC ich verpasst habe. Was der Schriftsteller Nick Hornby geschrieben hat, trifft auf mich zu: Wenn mein Vater stirbt, und wir spielen in der Relegation, dann tut es mir echt leid für meine Mutter, aber ich werde erst später kommen.»

Stefan vom Fanladen, der heutige Fanbeauftragte des Vereins, erinnert sich an seinen ersten Besuch im Millerntor 1988: «Die Gegengerade war der Anlaufpunkt. Da stand der Schwarze Block: 200 Leute mit schwarzen Bomberjacken und Kapuzen. Da konnte man sich als schüchterner Jungspund hinstellen und erhaben zu den grossen Punkern aufschauen.»

Sven Brux, der Mann für alles

Eine jener grossen Figuren – durch seine fast zwei Meter Grösse ist das auch wortwörtlich zu verstehen – war Sven Brux. Schon damals nannte man den heutigen Organisationsleiter und Sicherheitsbeauftragten des FC St. Pauli, der eigentlich aus Köln stammt, «Bürgermeister», weil er offenbar immer alles mitorganisiert hat: Sven Brux hat das erste Fanprojekt ins Leben gerufen und damit den Fanladen, die selbstverwaltete Anlaufstelle für Fans. Er wurde Deutschlands erster Fanbeauftragter, hat Demonstrationen mitorganisiert für die Hafenstrasse, gegen Nazis und die Pläne der Vereinsleitung, Ende der achtziger Jahre das Millerntor in einen «multifunktionalen Sport-Dome» umzubauen. Er hat das «Jolly Roger» mitgegründet, die selbstverwaltete Fankneipe direkt beim Stadion, «weil man als grölender Fussballfan dauernd aus Kneipen rausgeflogen ist». Im Sommer 1989 rief er mit anderen das Fanzine «Millerntor Roar!» ins Leben, das wohl erste Fussballfanzine in Deutschland: «Der Verein hatte sich geweigert, einen polizeikritischen Bericht in der Stadionzeitung abzudrucken. Es ging um Ärger mit der Münchner Polizei wegen irgendwelcher Uwe-Barschel-T-Shirts.» Der in eine politische Affäre verwickelte CDU-Politiker hatte sich im Oktober 1987 das Leben genommen. «Also schafften wir uns unsere eigene Plattform, zuerst in einer Auflage von 300 Stück, am Schluss dann 5000.»

Sven Brux hat – «wie so vieles bei diesem Verein: im Suff» – mit Leuten aus Berlin in seiner Küche die Idee für einen überregionalen Bund Aktiver Fussballfans ausgeheckt, der sich heute unter dem Namen BAFF im ganzen Land gegen Rassismus und Diskriminierung in den Stadien engagiert. Der heutige Sicherheitschef des Vereins hat, so wird erzählt, gegen Nazis Kopf und Fäuste hingehalten, wenn die Polizei die St.-Pauli-Fans sich selbst überliess, wenn wie etwa einmal in Dresden vor dem Stadion Hunderte Neonazis unbehelligt warteten. Nebenbei hat er noch den Grundstein für die Fanfreundschaft zum grossen Celtic FC aus Glasgow gelegt.

Die Geschichte des FC St. Pauli, wie man ihn heute kennt, ist eng mit Sven Brux verbunden. Und Brux dreht sich erst einmal eine Kippe.

«Der Deutsche Fussball-Bund, der heute selbst alle drei Wochen irgendeine Anti-Rassismus-Aktion unterstützt, hat uns heftig angefeindet. Es hiess: ‹Lasst das mal doch sein, mit diesem ewigen «Gegen Nazis!», «Gegen Nazis!». Ihr bringt doch nur die Politik ins Stadion.› Im Berliner Olympiastadion gab es Fangruppen, die sich Zyklon B oder Endsieg nannten, und in fast allen Kurven der 1. Bundesliga hingen Reichskriegsflaggen. Damit hatte der DFB kein Problem. Wir waren die Ersten, die sich öffentlich und ganz massiv dagegen aufgelehnt haben, später dann zum Glück mit grosser Unterstützung von vielen anderen. Doch der Verband und andere Fans haben uns permanent vorgeworfen: Ihr bringt die Politik ins Stadion. Rassistische Gesänge, das hat ja dann keiner merken wollen, das ging in Ordnung. Erst als wir uns dagegen gewehrt haben, war das dann Politik.»

Auch die Alteingesessenen beim FC St. Pauli hätten anfangs «überhaupt keinen Bock drauf gehabt, dass da plötzlich die Hafenstrasse aufläuft», sagt Brux, während er im Millerntor auf der Gegengerade vor einer Bande steht, auf der keine Werbung zu lesen ist, sondern ein gedrucktes Statement: «Kein Fussball den Faschisten».

Später sitzt Brux, der vor zwölf Jahren das Hobby zum Beruf gemacht hat, in seinem Büro in der vor zwei Jahren eröffneten Südtribüne des Millerntor-Stadions – der ersten fertig gestellten Station des auf zehn Jahre angelegten, schrittweise wachsenden Stadionneubaus – und blättert in der «Bild» vom 24. März 2010. Die Zeitung präsentiert das Ergebnis einer Umfrage unter 51 403 Fans: «Sie haben abgestimmt, sie haben Paulis Jahrhundertelf gewählt. Das sind die Helden: Klaus Thomforde, André Trulsen, Walter Frosch, Karl Miller, Dirk Dammann, Michel Dinzey, Thomas Meggle, Jürgen Gronau, Harald Stender, Peter Osterhoff, Franz Gerber.»

Aber Thomforde ist nicht die Wahl des Organisationsleiters. Sven Brux hätte Volker Ippig ins Tor gestellt. Mit Torwart Ippig stieg der FC St. Pauli 1988 in die 1. Bundesliga auf. Der ausschlaggebende Punkt für Brux’ Wahl ist jedoch ein anderer. «Ippig war der erste Fussballspieler Deutschlands, der sich bewusst links geäussert hat. Volker hat in der besetzten Hafenstrasse gewohnt, hat in Nicaragua gearbeitet. Er war eine Ikone der Szene und hat wesentlich dazu beigetragen, dass in unseren Kreisen die Faszination für den Klub stieg: Der steht auf dem Platz mit langen Haaren, unkonventionell, und grüsst mit erhobener Faust die Gegengerade.»

Wenn man heute das 100-Jahr-Jubiläum des Klubs feiere, sagt Brux, «dann feiern wir einerseits die Geschichte eines Vereins, der während 75 Jahren ein normaler, kleinbürgerlicher Stadtteilverein war, der durchaus in früheren Jahrzehnten, Anfang der fünfziger Jahre, auf Augenhöhe mit dem HSV gespielt hat, dann aber den Sprung in den Profifussball nicht schaffte und deshalb sportlich hinter dem HSV zurückgeblieben ist. Und wir feiern andererseits die Geschichte eines Vereins, der durch viele Zufälle Mitte der Achtziger – Nazis in allen Stadien und die daraus folgenden klaren antifaschistischen Bekenntnisse am Millerntor, durch die Wucht des Punkrock, die Kraft der besetzten Hafenstrasse, die grosse autonome Szene Hamburgs und den plötzlichen sportlichen Erfolg – ein neues Kapitel aufgeschlagen hat: 25 Jahre antifaschistische Politik im Stadion. Und einer dieser vielen wichtigen und letztlich entscheidenden Faktoren zur Zeit, in der die Wurzeln dieser Erfolgsgeschichte liegen, war Volker Ippig.»

Nach einem Spiel gegen den FC Bayern München lud die ARD Volker Ippig 1988 ins «Aktuelle Sportstudio» ein. Ippig trug eine Vokuhila-Frisur – vorne kurz, hinten lang – und Kampfstiefel. Achtzehn Millionen schauten zu. Weil die Zeit eine andere war, sagte der Moderator voller Abneigung und Unverständnis: «Nicaragua, Hafenstrasse, Fussball – das passt für mich absolut nicht zusammen.» Volker schaute ihn an und sagte: «Für mich schon.» Dann versenkte er die bereitliegenden Bälle in den Löchern der Torwand.

Slime-Sänger Dirk, der damals vor dem Fernseher sass, sagt: «In gewisser Weise waren wir ‹top of the world›! Viel Feind, viel Ehr. Wie beim Punkrock. Du erreichst mit einer Gang was, und die Medien hassen und lieben dich. Wir haben wahnsinnig viel Druck erfahren, aber dadurch sind wir auch näher zusammengerückt. Letztlich haben wir gewonnen. Es gibt keinen Fussballklub, der weltbekannt ist, obwohl er überhaupt nichts gewonnen hat ausser einem lächerlichen Lokalpokal.»

Volker Ippig, zurück aus Nicaragua

Ein Donnerstagabend Ende März 2010 auf St. Pauli. Vor dem Haupteingang des Millerntor-Stadions steht ein Mann, der aussieht, als gehöre er hier irgendwie nicht richtig hin. Altes T-Shirt, alte Hose, alte Turnschuhe, Cap ins Gesicht gezogen, er raucht eine Selbstgedrehte. Der Mann hat jetzt Feierabend. Arbeitet am Hafen auf Abruf: Schiffe laden und entladen. Er pendelt dafür täglich eine Stunde in einem zum Gasauto umgebauten VW Polo. Daneben war er jahrelang Torwarttrainer, zuletzt in Wolfsburg, bis Diego Benaglio kam und einen eigenen Trainer mitbrachte. Er lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Lensahn an der Ostsee, wo er die lokale Fussballmannschaft trainiert: Volker Ippig (47), Sven Brux’ Jahrhunderttorwart.

Das ist also der Mann, der als junger Fussballer lieber nach Nicaragua ging, um ein Gesundheitszentrum zu bauen, während die SandinistInnen gegen den Diktator Revolution machten. Im Café Millers bestellt Ippig eine Schorle und sagt: «Die drei Jahre mit dem FC St. Pauli in der Bundesliga waren die beste Zeit meiner Karriere. Ich spielte gegen Effenberg in München. Gegen Klinsmann in Stuttgart. Beide haben kein Tor gegen mich geschossen. Wir besiegten Stuttgart mit Immel und Allgöwer – das Viertel drehte durch. Und dann, in der Abstiegssaison 90/91, besiegten wir die Bayern in München 1:0.»

Der FC sei heute eine Gelddruckmaschine, und das sei ja auch gut so: «Jede Menge Arbeitsplätze für die Leute.» Damals aber – Ippig kam 1979 bereits als Siebzehnjähriger zum FC – sei die Zeit eine andere gewesen, der Verein, das Selbstverständnis. Im Mannschaftsbus sei etwa die Meinung über die Anti-AKW-DemonstrantInnen klar gewesen: «‹Scheiss Demonstranten!›, hiess es da. ‹Hafenstrasse? Abreissen!› Das war die generelle Meinung. Und als Anfang der Achtziger die ‹Morgenpost› eine Aktion für die Rettung einer Hamburger Werft startete, um die Arbeitsplätze zu erhalten, und ich meinen Namen dafür gab, wurde ich vom Verein angemacht, ich solle so was bitte unterlassen und mich auf den Fussball konzentrieren.» Deshalb sei er dann erst einmal abgehauen; zuerst ein Praktikum in einer Behindertenschule, dann Nicaragua. Als er zurückkam, wohnte er für ein halbes Jahr in der Hafenstrasse. Dann bot ihm der damalige Trainer Willi Reimann einen Profivertrag als zweiter Torwart an. Das war 1985. Zur Rückrunde der Saison 1987/88 stellte ihn der neue Trainer Helmut Schulte als Nummer 1 ins Tor. Es war die Saison, in der der Verein in die 1. Bundesliga aufstieg.

«Der plötzliche sportliche Erfolg war ein wichtiger Faktor für die Politisierung der Kurve, weil dadurch einfach viel mehr Leute kamen, und das war dann eben fast die gesamte Autonome Szene Hamburgs, die riesig war. Siege sind einfach schöner als Niederlagen, das Bier schmeckt nach einem Sieg einfach besser. Im Jahr vor dem Aufstieg sind wir ja bereits Dritte geworden. Man kann sich also ausmalen, wie oft wir damals gewonnen haben.»

Es sei eine gute Party gewesen, sagt Ippig, «eine richtig schöne Zeit».

Mit der Trillerpfeife gegen Kohl

Er habe zwar immer eine besonders gute Leistung zeigen müssen, um als Linker und «deshalb als Feind auserkoren, von der ‹Bild› nicht unter aller Kanone bewertet zu werden». Aber das habe auch motiviert. «Karl Allgöwer in Stuttgart und Ewald Lienen in Mönchengladbach, der Haare bis zum Arsch hatte, wurden ja auch oft angefeindet. Weil sie halt eine Meinung hatten, weil sie links waren. Ewald war friedensmässig drauf, Allgöwer war zudem sozial engagiert, was dem damaligen VfB-Stuttgart- und späteren DFB-Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder, einer ganz rechten Socke, schwer missfiel. Friedensdemos waren nicht meine Welt, ich habe lieber die Leute mit der Trillerpfeife genervt, wenn Helmut Kohl in der Nähe aufgetreten ist.»

Und dann wird der leise Ippig plötzlich laut und steigert sich in eine Art Rap über ein Land der Schwachköpfe: «Ich konnte dem Mann im ARD-Sportstudio, der mich für mein Engagement angemacht hat, auch nicht helfen. Heute wäre mein politisches Engagement kein Problem. Damals war es ein Problem. Überall Schwachköpfe, grauenhafte Schwachköpfe. Das Einzige, was die Schwachköpfe der CDU zu erneuerbaren Energien gesagt haben, war: ‹Du spinnst!› Stinkig, miefig und verschissen war das damals alles. Da durfte ja nichts anderes hochkommen, wurde ja gleich mit der Klatsche draufgeschlagen. Deutscher Fussball-Bund? Das ist doch alles rechts von bürgerlich: Hauptsache, ich mach meine Kohle, und auf andere Leute trete ich. Damals haben die die Leute hier, die sich gegen Rassismus und Nazis gewehrt haben, ganz übel angemacht: ‹Lasst das mal schön bleiben mit der Politik.› Noch 1978 an der WM in Argentinien haben dieselben DFB-Leute den Altnazi Hans-Ulrich Rudel, der sich nach Argentinien verpisst hat und nicht den Arsch in der Hose hatte, sich dem Scheiss, den er angerichtet hat, zu stellen, ins Trainingslager der Nationalmannschaft eingeladen und offiziell begrüsst. Und Berti Vogts hat gesagt: ‹Ich habe in Argentinien keine politischen Gefangenen gesehen.› Während zur selben Zeit, wo er gespielt hat, Leute im Stadion erschossen wurden. Solche Schwachköpfe werden dann Bundestrainer. Schwachköpfe produzieren Schwachköpfe. Das war eine muffige, stinkige Bundesrepublik. Der letzte Furzladen. Helmut Kohl – Kleinwurst vor dem Herrn – und Kleingeister, die alles bestimmen und aussitzen.»

Ippig steht auf, verlässt das Lokal, in dem Rauchverbot herrscht, dreht sich vor der Tür eine Zigarette, entspannt sich wieder, lächelt und rappt einen Text der Punkband Fehlfarben von 1980: «Verbrannte Erde, Schüsse in der Nacht, Bombenteppich, U-Boot-Jagd. Ernstfall, es ist schon längst so weit. Ernstfall, Normalzustand seit langer Zeit. Roland, Marder, Wiesel, Phantom. Albatross, Milan, Tornado, aus den Waffenschmieden der Nation. Tag und Nacht in steter Produktion. Einkaufsbummel im Erdnussland. Was übrig bleibt, wird Entwicklungshilfe genannt.»

Er nimmt einen Zug an seiner Kippe und sagt: «Das habe ich damals immer gehört. Das geht nicht mehr raus aus dem Kopf. Damit kann ich heute bei der Rapgeneration ganz gut punkten.»

Bei der Verabschiedung sagt er: «Nach der Abstiegssaison kamen diverse Verletzungen: Rücken, Schulter. Millionär werden konnte man damals noch nicht. Es gab kein Fernsehgeld. Man lebte von Eintritten, popligen Werbeeinahmen. Nach meiner Karriere als Torwart wurde meine Verletzung zum Glück als Arbeitsunfall anerkannt. Deshalb bin ich nicht so tief gefallen. Ich habe eine Umschulung zum Heilpraktiker bezahlt bekommen, jedoch die Prüfung nicht geschafft. Ich wurde Torwarttrainer. Auf St. Pauli, in Münster, in Lübeck, beim Verband in Schleswig-Holstein und dann beim VfL Wolfsburg. Die jetzige Arbeit am Hafen ist okay. Die Bezahlung ist in Ordnung. Und ich bin zufrieden. Heiraten und Kinder kriegen war die beste Entscheidung meines Lebens. Hat richtig viel Spass gemacht und macht immer noch viel Spass.» Dann steigt er in den Polo, lässt Grüsse ausrichten für die Leute aus den alten Tagen und fährt davon.

Das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen

«Wir haben einen Fussballverein, den wir lieben, zu einem Symbol für Antirassismus gemacht. Das kam nicht von oben. Es ist von unten gewachsen», sagt Slime-Sänger Dirk. «Glücklicherweise waren wir plötzlich so viele, dass wir Druck machen konnten. Ich kann mich erinnern, dass wir mit dem damaligen Manager Herbert Liedtke durch das Millerntor-Stadion gelaufen sind und uns alle Tische rausgepickt haben, die die damals üblichen Fanartikel verkauft haben: Reichskriegsfahnen und ‹Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein›-Aufnäher.

Wir haben Liedtke gesagt: ‹Das kommt weg. Das kommt weg. Das kommt weg. Oder der Stand kommt weg.› Es war klar: Entweder der Verein macht diesen Leuten eine Ansage, oder wir hauen die Stände weg. Da hat der Verein diese Symbole nicht mehr zugelassen. Stattdessen hat er in der Stadionordnung verankert, dass Sexismus und Rassismus im Stadion nichts zu suchen haben und ein Freundschaftsspiel gegen Galatasaray Istanbul organisiert – als Zeichen gegen Rassismus. Das Spiel wurde in der Türkei live übertragen. Die Mannschaft ist mit antifaschistischen Bannern eingelaufen. Die Reaktionen waren heftig. Einerseits waren wir nun in den meisten Stadien das Feindbild Nummer eins. Andererseits merkten wir: Es gibt auch an anderen Orten linke Fans.»

Das Erstarken der linken Szene bei St. Pauli habe sich bei den Nazis schnell rumgesprochen. «Der Ehrenkodex, Hooligans schlagen sich nur mit Hooligans, ist der grösste Quatsch, den ich je gehört habe», sagt Sven Brux. «Es war für uns völlig neu, sich im Fussballzusammenhang aufs Maul zu hauen. Es war für uns eine absurde Vorstellung, sich wegen Fussball zu prügeln.»

Die Geschichte, wie aus dem FC St. Pauli ein Verein wurde, der sich mit aller Deutlichkeit gegen Rassismus, Faschismus, Sexismus und Diskriminierung ausspricht, ist auch eine Geschichte von Gewalt und Strassenschlachten: Hunderte Hooligans versuchten nach dem EM-Halbfinal Deutschland gegen Holland in Hamburg 1988 die Hafenstrasse zu stürmen und wurden zurückgeschlagen. Hunderte Rostocker versuchten mehrmals, den Gästeblock zu stürmen, wenn der FC St. Pauli in Rostock spielte. Dirk sagt: «Die Bullen und die Ordner waren dort immer gut Freund mit den rechten Hooligans und haben uns das auch zu verstehen gegeben. Also war klar, dass man sich nur helfen kann, indem man sich selbst erwehrt. Nonverbal.»

Es ist eine Feindschaft, die bis heute andauert, die eine klar politische Angelegenheit ist und zu deren Eskalation Ereignisse im August 1992 beigetragen haben: Damals kommt es in Rostock-Lichtenhagen zu den heftigsten ausländerfeindlichen Ausschreitungen seit der Nazi-Diktatur. Während Tagen attackieren unter dem Applaus von mehreren Tausend Schaulustigen Hunderte rechtsextreme Randalierer eine Zentrale Aufnahmestelle für AsylbewerberInnen. Unter den Neonazis: Hansa-Hooligans. Unter jenen, welche die Vorfälle nie verurteilt haben: der FC Hansa Rostock. «Die hatten einfach keinen Bock, es sich mit den eigenen Leuten zu verscherzen», sagt Dirk. Am 30. August 1992 schrieben die Macher des «Millerntor Roar!»: «Es gibt wichtigeres als den MR! Auch wir waren gestern in Rostock, um uns an der Demonstration gegen den rassistischen Terror zu beteiligen, anstatt uns um die Fertigstellung des neuen MR zu kümmern. Nummer 24 erscheint deshalb nicht wie geplant zum Spiel gegen den VfL Wolfsburg, sondern eine Woche später gegen den FC Nürnberg. Flüchtlinge haben alles Recht, hierherzukommen, Asyl ist ein Menschenrecht!»

1993 kam es in Rostock beim Filmdreh zu «Schicksalspiel», einem Fernsehfilm nach dem Romeo-und-Julia-Motiv (FC-St.-Pauli-Junge verliebt sich in Hansa-Rostock-Mädchen) zu nicht im Drehbuch vorgesehenen Massenschlägereien zwischen Komparsen – alles echte Fans des einen oder des anderen Vereins. «Als dann die Rostocker im Film die eindeutig negativ besetzten Figuren waren, die Einfältigen, Dummen, gaben sie uns dafür die Schuld, was die Eskalation weiter anheizte», sagt Brux. «Offenbar hatten sie im Gegensatz zu uns das Drehbuch vorher nicht gelesen und bloss auf das Komparsengeld geschielt.»

«Schwuchtel», «Fotze», «Nigger»

Pünktlich zum 100-Jahr-Jubiläum eskaliert auf St. Pauli ein Streit zwischen Fangruppen, zwischen solchen, die sich in der Tradition jener sehen, die den Verein zum Vorreiter in Sachen Antirassismus und Fanrechten gemacht haben, und anderen, die bloss Fussball gucken wollen. FC-St.-Pauli-Präsident Corny Littmann hatte im Vorfeld des Spiels gegen den FC Hansa Rostock, das der Reporter und der Fotograf der WOZ besuchen, die Liga davon zu überzeugen versucht, keine Gästefans zuzulassen. Man müsse sonst davon ausgehen, dass es wie in den Jahren zuvor zu schweren Krawallen kommen würde. Die Liga machte das publik, der Aufschrei der Empörung war gross, die Polizei nahm den Steilpass in Erwartung von Krawallen dankbar auf und beschnitt das Kontingent der Rostocker von 2000 auf 500, worauf der FC Hansa Rostock seine Fans dazu aufrief, das Spiel in Hamburg zu boykottieren. Die St.-Pauli-Ultras sahen grundsätzliche Fanrechte in Gefahr und blockierten bis fünf Minuten nach Spielanpfiff den Zugang zur eigenen Tribüne. Auch Idioten hätten Rechte, und wenn die Polizei damit beginne, unliebsame Gästefans zu verbieten, sei man selbst auch bald an der Reihe.

Doch auch auf St. Pauli gibt es Leute, die mit Protest und Boykott für ein grösseres Ganzes nicht viel anfangen können, sondern einfach Fussball gucken wollen. Darunter auch einige, die sich nicht um die vor 25 Jahren erkämpfte Stadionordnung kümmern, dass Rassismus und Sexismus am Millerntor nichts verloren haben. Einer beschimpft an diesem Tag einen Blockierer als «verdammte Schwuchtel», eine Blockiererin ist eine «dumme Fotze». Es kommt zu Rangeleien, und in der selbstverwalteten Kurve wird der Ruf nach Polizei laut. Ein Blockierter bittet den Schreibenden, «110» zu wählen, den Polizeinotruf. Weil der Schreibende der Bitte nicht nachkommt, macht es der Mann dann selber per iPhone. Das Präsidium spricht später von Nötigung, verzichtet aber auf eine Anzeige.

Und Sven Brux raucht Kette. Ausgerechnet er, der in Deutschland an erster Stelle für Fanrechte und gegen Diskriminierung gekämpft hat, steht als Unterstellter des Präsidiums nun zwischen den Fronten. Vom Präsidium übergangen, das sehr wohl wusste, dass er sich gegen den Entscheid gewehrt hätte, und von den Ultras nicht über die bevorstehende Blockade informiert. Zwei Wochen später – nach zahlreichen heftigen Diskussionen – verteilen Mitglieder der Skinheads St. Pauli, einer alteingesessenen Gruppe traditioneller Skinheads mit antifaschistischem Grundverständnis und rund siebzig schlagkräftigen Mitgliedern, beim Heimspiel gegen den FC Augsburg Flugblätter: «‹Schwuchtel›, ‹Fotze›, ‹Nigger› am laufenden Band ... das waren nicht nur sogenannte Ausrutscher. Was für Vollidioten laufen eigentlich in unserem Stadion herum? Dies ist eine letzte Warnung an diese Leute. Verpisst euch vom Millerntor! Mit rassistischen und sexistischen Arschlöchern wollen und werden wir unseren Verein auch in Zukunft nicht teilen!»

Beim Treffen mit den Skinheads Carsten, Kaeser und Michi in der Fankneipe «Jolly Roger» ist der Tenor klar: Das Vorgehen des Präsidiums des FC St. Pauli, dessen Fans Vorreiter im Kampf um Fanrechte waren, sei «ein Schlag ins Gesicht der eigenen Geschichte». «Kein unerwarteter Schlag», wie Michi sagt.

Dann fallen ganz schön kritische Worte zum Verein: «Der FC St. Pauli bezeichnet sich als ‹Non established since 1910› – aber wäre die linke Fanszene nicht derart stark, dann würde es hier anders aussehen: Verkauf des Stadionnamens, Einführung einer Alternativwährung in Form von Plastiktalern – das stand alles zur Debatte, stiess aber auf heftigen Protest bei den Fans.»

Kaeser sagt, die Vereinsführung drohe ständig zu vergessen, warum der Verein überhaupt ein Kultverein sei. «Bestimmt nicht, weil er sportlich erfolgreich war. Erst durch die Unterstützung und Einmischung der Antifa-Szene wurde der Verein zu dem, was er heute ist.»

Carsten, der nebenbei im Fanladen arbeitet, sagt: «Ich muss mir das schon bewusst machen, dass es nach wie vor etwas Besonderes ist hier, weil das Image eben ziemlich breitgetreten wird. Wir brauchen ein neues Stadion, das ist schon klar. Man soll nicht ewiggestrig sein. Aber bestand der VIP-Bereich früher aus zwei Containern, so hat seit dem begonnenen Neubau auch auf St. Pauli das Logenwesen Einzug gehalten, wo sich dann Werber über den Köpfen des Pöbels zuprosten.»

Am «Galao-Strich»

Wenn sich in einem Stadion wirklich die Gesellschaft spiegelt, wie sehr (oder wie schnell) wird sich dann ein Verein verändern, dessen geografisches Umfeld im Wandel ist? Ein Stadtviertel, in dem in den letzten zehn Jahren das alternative Quartierleben, besetzte Häuser und günstiger Wohnraum einem «Galao-Strich» gewichen sind (Galao: portugiesisch für Milchkaffee), wie es der Fanbeauftragte Stefan sagt, ein Ur-St.-Paulianer, «wo sich inzwischen eine Milchkaffeebar an die andere reiht und wo die besetzte ‹Rote Flora›, um die sich früher im Viertel alles gedreht hat, inmitten der SUVs und Sportwagen und adretten Menschen in der Frühlingssonne, wie ein Fremdkörper wirkt.»

Der «Galao-Strich» ziehe sich durch ganz St. Pauli. «Häuser werden entkernt, saniert und zu teuren Eigentumswohnungen umgebaut. Das Viertel wandelt sich deutlich.» Und der Verein? Carsten sagt, beim FC gebe es die Geschichte des politischen Non-established-Seins, das Bestreben der Fans, sich in die Vereinspolitik einzumischen, Gremien zu besetzen – «diese Kultur haben die Fans dem FC gegeben, dadurch ist der Verein berühmt geworden. Wie echt ist das noch? Oder ist es aufgesetzt? Steht der Totenkopf noch für einen Gegenentwurf, oder ist er nur noch Marketing?»

Ein Marketinginstrument ist er auf jeden Fall: Bloss die Topvereine der 1. Bundesliga, Bayern München, Borussia Dortmund, HSV und Schalke 04 machen mehr Umsatz mit Fanartikeln. An erster Stelle steht dabei das Totenkopfsymbol, das Piratensymbol von Störtebecker, dem «Gleichteiler», dem Hamburger Piraten, der im 14. Jahrhundert «von den Reichen nahm und den Armen gab». Den Totenkopf schleppte ein Hafenstrasse-Hausbesetzer namens Doc Mabuse wohl 1987 als Fahne mit ins Stadion. Mit dem Aufstieg 1988 wurde aus Mabuses Suffeffort «das mythisch überladene Symbol des kleinen FC St. Pauli, der jetzt im Konzert der Grossen gegen die reichen Pfeffersäcke aus Bayern spielt», wie Sven Brux sagt. «Wer will behaupten, dass das nicht perfekt gepasst hat?»

Das Totenkopfsymbol wurde zuerst Kult und dann ein eingetragenes Markenzeichen des FC, hat einen globalen Siegeszug angetreten von Hamburg über Schottland bis New York City. Mabuse, der Mann mit der Idee, sieht davon keinen Rappen und wohnt in einem Bauwagen. Und weil die Welt grundsätzlich eher schlecht als recht ist, verkaufte der FC, als er 2002 fast pleiteging, die Totenkopf-Vermarktungsrechte für ein Darlehen an eine Hamburger Sportagentur, und diese verkaufte die Rechte weiter an den französischen Mischkonzern Lagardère, der früher der Rüstungskonzern Matra war. Anwälte des FC St. Pauli versuchen in einem seit Jahren andauernden Rechtsstreit, die Rechte für den FC St. Pauli zurückzukämpfen.

Auf ein Bier mit der IRA

Dann, es ist inzwischen spät und die Kneipe voll, steht im «Jolly Roger» plötzlich Michael Dickson vor mir. 1996 hat Dickson alias «Dixie» als Teil eines Kommandos der IRA in Osnabrück mit einem Mörsergranatenwerfer eine Basis der Britischen Armee beschossen. Dafür sass er im Gefängnis. Und er wurde verdächtigt, einen Bombenanschlag auf das Hauptquartier der britischen Streitkräfte in Nordirland verübt und einen Polizeispitzel erschossen zu haben. Im Zweifel für den Angeklagten. Vor allem, wenn er spätabends in einer Bar angetrunken vor einem steht.

Der General Manager der Sinn-Fein-Wochenzeitung «An Phoblacht», einst meistgesuchter Mann Schottlands, Exhäftling in einem deutschen Hochsicherheitstrakt und Zigarettenschmuggler, ist Teil einer für das Rostock-Spiel angereisten Delegation von Celtic-Glasgow-Fans.

«This is one love», sagt Dickson über die Fanfreundschaft zum FC St. Pauli, während er versucht, Sven Brux in den Schwitzkasten zu nehmen, was nicht so recht gelingen will, weil Brux drei Köpfe grösser ist. Und Brux erklärt, wie die Fanfreundschaft zustande kam: «Wir haben mit dem ‹Millerntor-Roar!› Anfang der neunziger Jahre verschiedene Fanzinemacher in England besucht, in Manchester, in London waren wir beim FC Millwall und bei den Machern des ‹When Saturday Comes›. Die letzte Station hiess Schottland, wo wir Gary aus Glasgow vom ‹Not The View›-Fanzine trafen. Und da hatten wir das Glück, auf der alten Stehplatzgerade ein Spiel gegen den Lokalrivalen besuchen zu können, die Glasgow Rangers. Das hat uns tief beeindruckt, und in den Gesprächen gab es politische und andere Parallelen: Zwei Vereine in der Stadt, die einen eher rechts, die anderen eher links – das passte alles ziemlich gut. Darüber haben wir dann in unserem Fanzine einen Bericht geschrieben. Und so haben sich immer mehr Leute dafür zu interessieren begonnen.»

Dirk, der Glasgow erstmals in einem Antwerpener Vorort spielen sah und dem Verein in sechzehn Länder hinterherreiste, gibt einen historischen Kürzestabriss der Beziehung: «Von Anfang an spielte die politische Komponente rein: Celtic ist nun mal ein irischer Klub, gegründet in Schottland während der Auswanderungswelle. Im von den Engländern besetzten Irland herrschte Hungersnot. Wer das Geld hatte, nahm eine Fähre nach New York. Wer kein Geld hatte, nahm eine Fähre nach Glasgow und landete dort im East End. Du stehst in Schottland, in Glasgow, und über dem Stadion weht die irische Trikolore. Und es ist klar: Entweder bist du Loyalist und gehst zu den Rangers, oder du stehst aufseiten der Republikaner, also aufseiten der Iren, und gehst zu Celtic.»

Am 18. Mai 2010 wird es am Millerntor im Rahmen des 100-Jahr-Jubiläums zum Freundschaftsspiel zwischen dem FC St. Pauli und dem grossen Glasgow Celtic FC kommen, 1967 erster britischer Gewinner des Europapokals der Landesmeister. Erwartet werden Tausende schottische Gäste.

Mit Corny kommt der Erfolg

Der Herr Präsident schlendert mit seinem Hündchen die Reeperbahn hinab. Er schliesst die Tür zum Schmidt-Theater auf, dem erfolgreichsten nichtsubventionierten Theater Deutschlands. Und dann raucht er vierzig Zigaretten. In den siebziger Jahren hat Corny Littmann als Teil der schwulen Theatergruppe Brühwarm mit der Ur-Punk-Band Ton Steine Scherben Platten aufgenommen, hat auf der Bühne im Fummelkleid mit einer Gleitcremekanone hantiert, war Anfang der achtziger Jahre linksradikaler Spitzenkandidat der Hamburger Grünen, moderierte mit Lilo Wanders im Dritten Programm die «Schmidt Mitternachtsshow» – und bei all dem war ihm immer eines gewiss: der Erfolg. Littmanns zwei Theater Schmidt und Schmidts Tivoli gelten als Kiez-Highlight: 420 000 BesucherInnen im Jahr.

Als Littmann 2003 zum Präsidenten des FC St. Pauli gewählt wurde, lag der Verein finanziell am Boden, unter anderem wegen einer fälligen Umsatzsteuerrückzahlung in Millionenhöhe – «einer der vielen Scherze, die uns früher gespielt wurden». Heute, nach einer breit abgestützten Rettungskampagne und jahrelangem konservativem Wirtschaften, geht es dem Verein wirtschaftlich so gut wie noch nie. Das stabile Budget beträgt vierzehn Millionen Euro. Unter Littmann wird ein Plan, dessen Umsetzung während zwanzig Jahren immer wieder aufgeschoben worden war, Wirklichkeit: Schritt für Schritt entsteht am alten Ort ein neues Stadion für 28 000 ZuschauerInnen.

Alles ist wunderbar

Davon erzählt der Präsident gerne: «Wir haben lange überlegt, wie das neue Stadion aussehen soll. Es ist ja ein innerstädtisches Stadion, ein dichtes Stadion. Und diese Dichte wollten wir beibehalten, also haben wir uns für einen einrangigen Neubau entschieden nach englischem Vorbild. Weil wir in grossem Masse vom Support der Stehplätze leben, bauen wir diese aus. Im vollendeten Neubau wird – fast einmalig in Deutschland – auf der Gegengerade eine steile Stehplatzwand für 10 000 Fans stehen, was bedeutet, dass wir die Zahl der Stehplätze von 12 000 auf 15 000 erhöhen.»

Das neue Millerntor werde ein Stadion mit vier einzelnen Tribünen, sehr steil, von vier Seiten überdacht, drei Ecken werden offen sein. «Das wird für die Stimmung einzigartig.» Das Stadion bekomme rundum eine Backsteinfassade, angelehnt an die alte Architektur am Hafen. Und Logen gebe es auch, schon jetzt, die aber Séparées heissen, weil man sie rund um die Uhr nutzen könne. Das sei alles wunderbar, viel wunderbarer aber sei noch, dass man sich mittelfristig in der 1. Bundesliga etablieren wolle. «Es geht dabei nicht um den kurzfristigen Erfolg. Wir stehen nicht unter dem wirtschaftlichen Zwang, aufsteigen zu müssen. Wir wollen uns ganz einfach weiterentwickeln.» Erreichen wolle man dieses Ziel mit Kontinuität. Man hoffe, Holger Stanislawski halten zu können, Exspieler, seit vier Jahren Trainer. «Er hat schon mehrere Angebote aus der 1. Liga bekommen. Es gibt Trainer, die gehen in Städte wie Ahlen, weil sie dort einfach mehr Geld kriegen. Das muss jeder für sich selber entscheiden. Wir haben einen guten Stand erreicht. Man schätzt hier den Verein, das Umfeld, und ist offensichtlich bereit, auf den einen Euro zu verzichten, um hier leben und spielen zu können.»

Kontinuität bedeute auch, sagt Littmann, dass die Mannschaft sich verständigen könne. Man habe einige Hamburger in der Mannschaft, und vor allem habe man fast nur deutsche Spieler, womit man im deutschen Profifussball die Ausnahme bilde. «Die Sprache auf dem Trainingsplatz ist Deutsch. Wir achten sehr bewusst darauf, dass Kommunikation möglich ist. Kommunikation darf nicht mit drei Dolmetschern um die Ecke geführt werden. Das heisst natürlich nicht, dass die Spieler gebürtige Deutsche sein müssen. Blödsinn. Aber sie sollten miteinander eine Sprache sprechen können. Naturgemäss ist das in Deutschland wahrscheinlich Deutsch.»

Weniger gern spricht St.-Pauli-Präsident Littmann über die aktuellen Vorwürfe, er trete Fanrechte mit Füssen. Während er eine Marlboro Menthol um die andere raucht, sagt er schliesslich: «Die Fans haben verständlicherweise auf ihre Rechte hingewiesen, aber sich bedauerlicherweise nicht zu Sicherheitsfragen geäussert und sich im Vorfeld des Spiels nicht von Gewalt distanziert. Das können wir uns nicht erlauben.»

Ein junger Mann kommt, küsst Corny Littmann auf die Stirn und führt dessen Hund Gassi. Der Präsident ordert neuen Kaffee, zündet die nächste Zigarette an und spricht über die Frage der Identität. «Authentizität und Identität sind wichtig. Sie machen ein Theaterhaus attraktiv oder eben nicht, wir haben einen Qualitätsanspruch, eine Handschrift in unseren Produktionen, sind kein Gemischtwarenladen. Und das kann man auch über den FC St. Pauli sagen, der von seiner Erlebnisqualität her, aber auch vom sozialen, politischen Hintergrund eine klare Identität hat, eine Geschichte. Diese zu wahren, ist die zentrale Aufgabe. Auch meine als Präsident.»

Die Ansprache

Am Tag vor dem aktuellen Spiel gegen den FC Hansa Rostock sitzt Slime-Sänger Dirk nachmittags in einem Frisörsalon am Paulinenplatz. Er hat es sich auf einem Ledersofa gemütlich gemacht, köpft eine Flasche «Astra» und sagt: «Manager kommen und gehen. Trainer kommen und gehen. Spieler kommen und gehen. Die einzigen, die immer, immer, immer, bis an ihr Lebensende da sind, das sind wir, die Fans. Deshalb sage ich auch: Wir sind der Verein. Jetzt haben wir Littmann. Langfristig sind wir der Verein. Wie kann sich ein Verein in einem neuen Umfeld, in einem explodierenden Geschäftsfeld, seine Seele bewahren? Ich finde, da passieren kleine, gute Sachen. Wenn neue Spieler verpflichtet werden, dann gehen diese Spieler auf einen Stadtteilrundgang, gucken sich das Viertel an, den Kiez, damit denen klar wird, ihr spielt hier nicht bei irgendjemandem, und euer Stadion liegt nicht dort hinten an der Autobahn neben der Müllverbrennungsanlage wie beim anderen Hamburger Verein.»

Und auch wenn einige Sachen seltsam laufen, es heftige Konfrontationen gebe, «und es dann an Vereinsversammlungen immer wieder mal heftig scheppert», so sehe das neue Stadion zum Beispiel eben nicht aus wie ein Versicherungspalast oder ein Einkaufszentrum. «Der Weg, den der Verein geht, ist ein Kompromiss, mit dem ich auf jeden Fall leben kann, auch wenn es immer wieder mal Ausreisser nach unten gibt. Aber ein geputztes Klo allein macht für mich noch keinen Yuppie.»

Dirk zündet sich eine weitere Zigarette an und hält dann – zu Kaffee und Brandy – so was wie eine private Jubiläumsansprache für den anderen FC St. Pauli, jenen FC, der 2010 sein 25-Jahr-Jubiläum feiert: «Wir waren erfolgreich. Lassen wir das mal so stehen. Dann sind wir es aber auch gewesen, weil wir in all unseren Aktionsformen nie eine ausgeschlossen haben, auch die nonverbalen nicht. Sie waren zwar das letzte Mittel, wenn Flugblätter und Transparente und Blablabla nichts genutzt haben. Noch Mitte der Achtziger gab es am Millerntor in der Nordkurve eine Faschogang. Und dann sind wir halt auch rein in die Nordkurve und haben denen auf die Fresse gehauen und sie rausgeschmissen. Wir haben die Gewaltdiskussion aber nie zugelassen: Darf man das? Wir haben die Gewalt nie ausgeschlossen. Die anfänglichen massiven Widerstände im Verein konnten wir abbauen, weil die Leute schnell gemerkt haben, dass wir hier keine K-Gruppe sind oder dass hier nicht der Soziologiekurs von der Uni mal kurz vorbeikommt und den Leuten erzählt, sie dürfen jetzt nicht mehr rechts sein. Die haben gemerkt, dass wir eben auch Fussballfanatiker sind und nicht irgendwelche abgehobenen Geisteswissenschaftler, die meinen, sich ein neues Betätigungsfeld erarbeiten zu müssen. So merkten die älteren: Diese Jungs tragen nicht bloss ihr Hafenstrasse-Transparent herum, sondern die stehen da immer, immer, neunzig Minuten lang, und beissen in den Zaun und heulen und explodieren. Nur so war das möglich. Wir waren authentisch.»




100 Jahre FC St. Pauli

Der FC St. Pauli wurde 1910 als Fussballabteilung des Hamburg-St.-Pauli-Turnvereins 1862 gegründet. Der Turnverein umfasste dreizehn Abteilungen (unter anderem Handball, Rugby – die erfolgreichste Abteilung – und Boxen). 1924 wurde er dann als selbstständiger Klub in das Vereinsregister eingetragen, Vereinsfarben: Braun-Weiss.

Die grössten sportlichen Erfolge des FC St. Pauli waren der viermalige Aufstieg in die 1. Fussball-Bundesliga (zwischen 1977 und 2001) und 2006 der Einzug als Regionalligist ins Halbfinale des DFB-Pokals gegen den FC Bayern München. Im Mai 2010 kämpft der FC St. Pauli um den fünften Aufstieg in die 1. Bundesliga.

Am 15. Mai, zum 100-Jahr-Jubiläum, spielt der FC St. Pauli gegen den FC United of Manchester, nicht zu verwechseln mit dem Champions-League-Teilnehmer Manchester United. Der FC United of Manchester, der in der Northern Premier League spielt, der siebthöchsten Spielklasse Englands, war 2005 von Fans aus Protest gegen die Übernahme von Manchester United durch einen US-amerikanischen Milliardär gegründet worden. Das Jubiläumsspiel soll auch als Protest gegen die Kommerzialisierung des Fussballs verstanden werden. Am 18. Mai empfängt der FC St. Pauli dann den grossen Celtic Football Club aus Glasgow.



Das Millerntor-Stadion

Das Millerntor-Stadion auf dem Heiligengeistfeld in Hamburg St. Pauli wurde 1963 eingeweiht und fasst derzeit 19900 ZuschauerInnen. In voraussichtlich acht Jahren, wenn der laufende schrittweise Neubau abgeschlossen sein soll, soll das neue Millerntor-Stadion Platz für 28000 Fans bieten. Benannt ist das Stadion nach einem ehemaligen Stadttor, das diesen Namen trug.

1970 wurde das Stadion zur Ehrung des abtretenden Präsidenten, der jahrzehntelang geamtet hatte, in Wilhelm-Koch-Stadion umbenannt. Als 1997 der Journalist René Martens, der auch für die WOZ schreibt, in seinem Buch «You’ll never walk alone», enthüllte, dass alt Präsident Koch Mitglied der NSDAP gewesen war, wurde das Stadion in einer stürmischen Mitgliederversammlung wieder in Millerntor umbenannt. Vor den Toren des Stadions steht inzwischen zudem eine zweite Gedenktafel. Die erste, jene des alten FC St. Pauli, war «dem Gedenken unserer Gefallenen» im Ersten und Zweiten Weltkrieg gewidmet. Die zweite, jene des neuen FC St. Pauli, gedenkt «den Mitgliedern und Fans des FC St. Pauli, die während der Jahre 1933 bis 1945 durch die Nazi-Diktatur verfolgt oder ermordet wurden».

WOZ-Reporter Daniel Ryser ist Autor des Bestsellers «Feld-Wald-Wiese. Hooligans in Zürich» (Echtzeit Verlag 2009), erhältlich auf www.woz.ch/wozshop.

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