US-Immigrationspolitik: Kleine Schritte auf dem Weg zur Legalisierung

Nr. 20 –

Obwohl sie kaum noch Arbeit finden, kommen immer mehr ImmigrantInnen in die USA. Viele nichtstaatliche Organisationen fordern seit langem eine Reform des US-Einwanderungsgesetzes; jetzt arbeitet der Senat an einem Entwurf. Aber wird dadurch etwas besser?


Gerade wird Kaffee ausgeschenkt, und für kurze Zeit füllt sich das sogenannte Day Labor Center für TagelöhnerInnen in Downtown Los Angeles. Es ist kurz nach 10 Uhr morgens, doch die Sonne brennt bereits, und hier gibt es etwas Schatten. Das Center ist eigentlich nur ein überdachter Stand von etwa zehn mal zwanzig Meter mit einem kleinen Büro, einem Putzraum und einer Toilette. Ein offenes Gitter und ein paar Sträucher grenzen es zur Strasse hin notdürftig ab. Dennoch ist das Center ein geschützter Raum, in dem die TagelöhnerInnen Hilfe, Verpflegung und manchmal auch medizinische Versorgung finden.

Morgens um 6.30 Uhr öffnet Geronimo Salgero das Center. Er arbeitet für die Organisation Central American Resource Center (Carecen) und ist der Leiter dieser Stätte, in der sich TagelöhnerInnen treffen, die fast alle aus lateinamerikanischen Ländern stammen. Salgero ist seit der Eröffnung 2004 dabei und kennt die meisten der ArbeiterInnen, die hier täglich vorbeikommen. «Jedes Jahr stossen etwa 600 neue Mitglieder hinzu», sagt er.

Rechtshilfe und Englisch

Heute ist Donnerstag, aber die Tage gleichen sich. Das Center ist wie der grosse Do-it-yourself-Markt an der Ecke Wilshire und Union Street täglich geöffnet – allerdings nur bis am frühen Nachmittag. An jeder der vier Einfahrten zum riesigen Parkplatz des Markts stehen Dutzende Latinos, die auf Arbeit warten – irgendeine: Sie jobben beim Hausbau, erledigen Garten- oder Schreinerarbeiten, installieren elektrische Geräte oder schleppen Umzugskartons. Wer bis 9 oder 10 Uhr keine Arbeit gefunden hat, geht meist leer aus. Viele bleiben trotzdem hier und warten auf dem Parkplatz – andere gehen ins Center, das mit etwas Glück ebenfalls einen Job vermitteln kann.

Auf den rund vierzig Plastikklappstühlen, die wie in einem Vortragsraum aufgestellt sind, sitzen mal zwei, mal zwanzig Männer, zwischen zwanzig und fünfzig Jahre alt. Sie kommen aus El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua – die Mexikaner sind auf der anderen Seite des Parkplatzes. Man bleibt lieber unter sich, auch wenn es keiner offen zugibt. Frauen sind heute keine zu sehen. «Sie kommen nur selten in dieses Center, da hier vor allem Leute für körperlich anstrengende Arbeit gesucht werden», erklärt Salgero. Allerdings gebe es in Pasadena ein Center, das vor allem Arbeit für weibliche Hausangestellte vermittelt.

Um im Center Mitglied zu werden, müssen die ArbeiterInnen ein einfaches Formular mit ihren Personalien ausfüllen. Damit werden sie auf eine Liste gesetzt und ihren handwerklichen Fähigkeiten oder Erfahrungen gemäss weitervermittelt, wenn eine Firma im Center nach Arbeitskräften fragt. Sie erhalten aber auch Rechtsberatung, wenn ein Unternehmen oder ein privater Auftraggeber den vereinbarten Lohn nicht bezahlen will oder ihnen mit der Immigrationsbehörde droht. «Das kommt öfter vor, als man denkt», sagt Salgero. In den meisten Fällen kann das Center das Problem mit einem Anruf oder einem Brief lösen – oder einer Anzeige. «Sobald die Auftraggeber sehen, dass die Arbeiter Unterstützung haben und für ihren Lohn kämpfen, geben sie nach.»

Viele der Arbeitsuchenden hier im Center sind illegal im Land. Sie arbeiten seit Jahren oder gar Jahrzehnten ohne Papiere und kennen oft ihre Rechte nicht. «Viele sprechen nur schlecht oder gar kein Englisch und können sich deshalb kaum wehren», sagt Salgero. «Und oft wissen sie nicht, dass sie auch als Papierlose ihren Lohn einfordern können.» Deshalb veranstaltet Carecen in Zusammenarbeit mit anderen nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) im Center immer wieder Informationsworkshops – und zweimal die Woche kommt die Englischlehrerin Virginia Trujillo für eine Stunde Unterricht vorbei. So auch heute.

Arbeit für fünf von hundert

Wie ein Dutzend andere Glücklose setzt sich der fünfzigjährige José Felix Robles in die Unterrichtsstunde. Später erzählt er, dass er seit über zwanzig Jahren in den USA lebt – und noch immer kaum ein Wort Englisch spricht. Warum? Er lächelt hilflos und zuckt mit den Schultern. Irgendwie will es nicht klappen. «Es ist über drei Wochen her, dass ich das letzte Mal Arbeit hatte», sagt Robles. «Ich kann nur überleben, weil meine beiden Söhne ebenfalls hier sind und einer von ihnen eine feste Stelle hat.» Robles ist täglich im Center und wartet.

Für die Tagelöhner hat sich die Situation in den letzten zwei Jahren massiv verschlechtert. «Zwischen 2004 und 2007 haben hier noch vierzig bis fünfzig Prozent der Leute täglich eine Arbeit gefunden», erläutert Salgero. «Doch inzwischen sind es nur noch fünf bis zehn Prozent.» Es sei schon vorgekommen, dass Firmen im Center anrufen und nach Arbeit fragen, statt welche anzubieten. Vermehrt müssen auch die Familien in den Heimatländern Geld in die USA schicken, damit die ImmigrantInnen überhaupt die Miete zahlen können.

«Die Immigranten, besonders die papierlosen, sind in dieser Gesellschaft völlig schutzlos», sagt Salgero. Die Frustration unter ihnen ist hoch. Nicht nur sind sie häufig arbeitslos, manchmal obdachlos und von ihren Familien getrennt, sie leben auch in ständiger Angst vor den Immigrationsbehörden und einer möglichen Ausschaffung. Und selbst wenn sie legal oder illegal eine Arbeit gefunden haben, so müssen sie auf diesen Lohn zwar Steuern zahlen, haben aber keinerlei Anrecht auf Leistungen wie Sozialhilfe oder Arbeitslosenunterstützung. Das Hauptziel von Carecen wie auch von NDLON, der nationalen Dachorganisation der TagelöhnerInnen, ist es deshalb, für die ImmigrantInnen einen dauerhaften Job zu finden. Dafür müssen aber erst die Gesetze verändert werden.

Druckmittel Wiederwahl

Seit Jahren fordern NGOs, die sich für ImmigrantInnen einsetzen, eine umfassende Reform des Immigrationsgesetzes. Die letzte Anpassung wurde 1986 vorgenommen. Die wichtigsten Punkte waren damals das Verbot für Unternehmen, illegale ImmigrantInnen anzustellen; gleichzeitig fielen alle Papierlosen, die mindestens seit 1982 im Land waren, unter eine Amnestie und erhielten die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung.

Seither sind weitere Reformen im US-Kongress stets gescheitert, zuletzt 2007. Und dies, obwohl sich die Zahl der illegalen ImmigrantInnen in den USA seit Mitte der neunziger Jahre beinahe verdoppelt hat. Die US-Regierung und NGOs schätzen ihre Zahl heute auf mindestens zwölf Millionen. 2005 wurde hingegen eine Gesetzesänderung angenommen, die schärfere Grenzkontrollen, härtere Strafen, höhere Bussgelder sowie ein vereinfachtes Prozedere zur Deportation von illegalen ImmigrantInnen zur Folge hatte.

Die 1986 gegründete Coalition for Humane Immigrant Rights of Los Angeles (Chirla) ist eine der wichtigsten Organisationen in Kalifornien, die sich für ImmigrantInnen einsetzt; sie ist auch Mitglied der nationalen Kampagne Reform Immigration for America. Diese Kampagne wird von 750 Organisationen getragen. Ende März rief sie zu einer Grossdemonstration in der Hauptstadt Washington auf und mobilisierte über 200 000 Menschen. Die VertreterInnen der Kampagne überreichten Präsident Barack Obama ihre Forderungen und eröffneten ihm: «Entweder Legalisierung oder keine Wiederwahl», wie Chirla-Pressesprecher Jorge-Mario Cabrera im Gespräch mit der WOZ erzählt.

Die Kampagne laufe auf zwei Ebenen, erläutert Cabrera. Zum einen würden die NGOs direkt im Kongress lobbyieren. Andererseits werde auf Gemeindeebene viel Aufklärung betrieben, um den ImmigrantInnen auf ihrem Weg zur Staatsbürgerschaft zu helfen und die Leute dazu zu bewegen, sich als WählerInnen registrieren zu lassen. Cabrera, der aus El Salvador stammt und 1986 legalisiert wurde, ist vorsichtig optimistisch: «Noch Anfang Jahr war ich unsicher, ob wir eine Reform zustande bringen.» Seit der Washingtoner Massendemonstration im März und der Manifestation am 1. Mai, als Chirla allein in Los Angeles nach eigenen Angaben 250 000 Menschen auf die Strasse brachte, hat sich das Blatt gewendet. «Wir hoffen, in den nächsten Wochen einen Entwurf für die Reform zu erhalten», sagt Cabrera. Wenn der politische Willen vorhanden sei, könne eine Reform bereits diesen September angenommen werden. «Vor 24 Jahren ging es genauso schnell. Und Geschichte kann sich ja wiederholen.»

Ethnische Rasterfahndung

Ganz so einfach wird es aber nicht werden. Zwar veröffentlichte der Senat Ende April das Konzept für einen Gesetzesentwurf, der inhaltlich von den meisten NGOs als bittere Pille bezeichnet wird, aber als Gesamtes akzeptiert wurde. Doch einen Tag später schien die Immigrationsreform schon wieder vom Tisch zu sein. In einer Rede erklärte Obama, es fehlten der politische Wille und der «Appetit» der Legislative, sich vor den Senatswahlen im November auch noch mit einer Immigrationsreform auseinanderzusetzen. Dann kamen die landesweiten Demonstrationen vom 1. Mai. Inzwischen liegt der Entwurf wieder auf dem Tisch.

Welche Kompromisse zwischen den Parteien in den jetzt laufenden Verhandlungen gemacht werden, sei noch offen, sagt Carl Bergquist, politischer Berater für Chirla. Absolute Priorität habe eine Legalisierung der MigrantInnen, meint er; dafür würde Chirla auch die sehr restriktiven Elemente der Reform in Kauf nehmen (vgl. «Noch mehr Kontrolle» weiter unten) – so zum Beispiel einen weiteren Ausbau der Gefängnisse oder eine Ausweitung der Datenbanken, mit der vom Departement für Heimatschutz und der ihr unterstellten Immigrations- und Grenzschutzbehörde (ICE) jedes noch so kleine Vergehen von ImmigrantInnen erfasst werden kann.

Darüber, dass eine Reform des Immigrationsgesetzes dringend nötig ist, sind sich alle einig – von links bis rechts. Keine Einigkeit besteht aber in der Frage, in welche Richtung sie gehen soll. Das zeigte sich ebenfalls Ende April, als in Kaliforniens Nachbarstaat Arizona die republikanische Gouverneurin Jan Brewer ein verschärftes Einwanderungsgesetz unterzeichnete und damit das «Racial Profiling», eine Art ethnische Rasterfahndung, ermöglichte. Damit kann die Polizei in Arizona jede Person festnehmen, die sie verdächtigt, sich illegal im Lande aufzuhalten. Nach der Unterzeichnung kam es in vielen Bundesstaaten zu Protestkundgebungen. Verschiedene NGOs haben inzwischen zum Boykott gegen Geschäfte und Institutionen in Arizona aufgerufen – mit Erfolg. So hat der einflussreiche Stadtrat von Los Angeles County sämtliche Vertragsverhandlungen mit Arizona eingefroren.

NGOs wie Chirla bekämpfen das Racial Profiling seit Jahren. Im County Los Angeles ist es der Polizei bereits seit 1979 verboten, Personen nur wegen des Verdachts auf illegalen Aufenthalt anzuhalten und sie nach ihrem Status zu fragen. «Trotzdem kommt das auch in Los Angeles immer häufiger vor», sagt Bergquist. Grund dafür ist die Zusammenarbeit lokaler Polizeibehörden mit der ICE-Behörde, mit der die Polizei autorisiert wird, auch Aufgaben der Immigrationsbehörde zu übernehmen – Bereiche, die sonst strikt getrennt sind.

Die Folgen für die Gemeinschaft der MigrantInnen seien verheerend, sagt Bergquist. Das Vertrauen in die Polizei schwinde – und in der Folge würden viele legale wie auch illegale ImmigrantInnen aus Angst vor einer möglichen Deportation keine Verbrechen mehr melden, auch wenn sie selber Opfer davon geworden seien. Durch die stärkere Zusammenarbeit der Polizei mit der ICE kann es zudem passieren, dass eine Person mit Immigrationsstatus zwar nur wegen eines kleinen Verkehrsdelikts angehalten wird, aber trotzdem in der ICE-Datenbank landet. In dieser Datenbank werden sämtliche Delikte von ImmigrantInnen gesammelt – unabhängig von der Art der Delikte. Fährt jemand bei Rot über die Ampel, so wird er genauso registriert, wie wenn er einen Raubüberfall begeht.

«Bei den Behörden herrscht Willkür, es ist völlig unklar, welche Fälle mit harter Hand bearbeitet werden und welche nicht», sagt Bergquist. So sei es möglich, dass sogar legale ImmigrantInnen ohne Anklage in einem Internierungslager oder im Gefängnis landeten. Ohne Papiere laufen sie schnell Gefahr, deportiert zu werden. Auch hier ist eines der Hauptprobleme, dass viele ImmigrantInnen zum Teil nur schlecht Englisch sprechen, ihre Rechte nicht kennen und deshalb oft ein Formular unterschreiben, mit dem sie einer «freiwilligen Deportation» zustimmen – und danach während zehn Jahren nicht mehr in die USA einreisen dürfen. «Mit dieser Methode werden jährlich Zehntausende deportiert und viele Familien auseinandergerissen.»

Immer mehr Razzien

Seit Obamas Amtsantritt hat sich an diesem Vorgehen kaum etwas verändert. «Es hat nur kosmetische Verbesserungen gegeben», sagt Bergquist. Immerhin: Seit letztem Jahr gibt es kaum noch ICE-Razzien im grossen Stil, bei denen schwer bewaffnete Einsatzteams die ImmigrantInnen mitten in der Nacht aus ihren Häusern geholt haben. Stattdessen mehren sich die Razzien oder Überprüfungen, sogenannte Audits, von Firmen, bei denen die ganze Belegschaft kontrolliert wird. Wer keine Papiere hat, wird mitgenommen. «Doch auch eine Arbeitserlaubnis schützt nicht vor dem Verlust des Jobs», sagt Bergquist. So entlassen manche Unternehmen mehr Leute, als von ihnen verlangt wird, in vorauseilendem Gehorsam. Sie wissen, dass sich die meisten ImmigrantInnen nicht dagegen wehren. «In der gegenwärtigen Wirtschaftslage ist das für die Betroffenen eine Katastrophe.»

Einige von ihnen landen dann vielleicht in einem Day Labor Center. Vielleicht sogar bei Geronimo Salgero, der vor fast zwanzig Jahren vor dem Bürgerkrieg in El Salvador geflüchtet ist und selbst als Tagelöhner angefangen hat. «Egal, wie schwierig die Situation in den USA ist: Es werden immer Menschen hierherkommen», sagt Salgero. Denn die Arbeitssituation in den Heimatländern ist meist noch schlechter. «Oft kommen sie auf der Suche nach dem amerikanischen Traum hierher – und finden dann heraus, dass es den nicht gibt.» Selbst wenn sie zurückgehen und davon erzählen, würden es die Leute nicht glauben. «Jeder Mensch hat das Recht auf Arbeit. Die Immigranten verlangen nichts Illegales», sagt Salgero. «Wir sind Teil dieser Gemeinschaft. Alles, was wir wollen, ist, für unsere Arbeit anerkannt werden – durch eine Legalisierung.»



«Niemand fragt nach den wahren Gründen der Immigration»

Nicht Immigration sei das Problem, sondern Ungleichheit und Armut, sagt Maria del Rosario Rodriguez im Gespräch mit der WOZ in Miami. Sie ist Mitbegründerin und Geschäftsführerin der Florida Immigrant Coalition (FLIC), eines Verbands aus rund hundert Organisationen, der sich für die Rechte und die Integration der Immigrant in Florida einsetzt.

WOZ: Maria Rodriguez, über die Hälfte der Einwohner von Miami sind Immigranten, sehr viele von ihnen stammen aus Kuba oder Haiti. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Maria Rodriguez: Es ist in Miami sehr schwierig, für die Rechte der Immigranten zu arbeiten. Es gibt hier auf der einen Seite ein starkes Machtgefüge der kubanischen Einwanderer und auf der anderen Seite eine grosse unterdrückte schwarze Bevölkerung. Die Mehrheit der schwarzen US-Bürger in Miami glaubt, dass sie von der Regierung zugunsten der Immigranten übergangen worden ist. Allgemein besteht die Haltung, dass die Einwanderer bereits sehr viele Rechte haben.

Wie äussert sich das Machtgefüge der Kubaner?

Es ist ein Machtgefüge von meist politisch rechts stehenden, konservativen Kubanern, die ab den fünfziger Jahren hierhergekommen sind. Durch ein Gesetz von 1966, den sogenannten Cuban Adjustment Act, wird ihnen die Integration stark erleichtert. So erhalten sie einfacheren Zugang zu Krediten, beispielsweise für den Hauskauf. Und da viele zudem eigenes Kapital mitgebracht haben, konnten sie sehr schnell eine wichtige Rolle in der Stadtentwicklung spielen. Auch in der Politik und in den Behörden sind sie inzwischen stark vertreten. Dadurch wächst die Angst der Einheimischen, von den Immigranten verdrängt zu werden. Allerdings unterscheiden die Leute nicht zwischen wohlhabenden kubanischen Exilanten und armen mexikanischen oder salvadorianischen Papierlosen.

Setzen sich die Kubaner denn für die Rechte der Immigranten ein?

Nein, die meisten nicht. Viele, besonders der älteren Generation, sehen sich selber nicht als Immigranten, sondern als Exilanten, quasi: Wir haben es uns ja nicht ausgesucht hierherzukommen, sondern wurden vom kubanischen Regime vertrieben.

Wie sehen das die anderen Immigrantengruppen?

In Miami gibt es eine intensive Diskussion über den Rassismus in der US-Immigrationspolitik. So gibt es den Ausdruck «wet foot, dry foot», der bedeutet: Wenn man als Kubaner einen Fuss noch im Wasser und nur einen schon an Land hat, erhält man bereits Hilfe vom Cuban Adjustment Act. Die Haitianer sprechen hingegen vom «black foot, white foot» und wollen so darauf aufmerksam machen, dass ein «schwarzer Fuss» von der US-Regierung wesentlich schlechter behandelt wird als ein «weisser Fuss».

Dennoch scheint es gerade in Miami sehr viel Solidarität, zum Beispiel mit den Flüchtlingen aus Haiti, zu geben, die von schweren Naturkatastrophen vertrieben werden.

Es gibt hier tatsächlich viel Wohltätigkeit, aber leider nur sehr wenig Systemanalyse. Wenn etwas Schlimmes wie das Erdbeben in Haiti passiert, dann wollen alle helfen: die einfachen Leute, die Medien, die Politik. Aber niemand spricht über den Status der Immigranten, über die Situation der Arbeitsrechte in den USA oder über den starken Rassismus  – und erst recht nicht spricht man über die wahren Gründe der Migration, nämlich Freihandelsverträge wie Nafta oder die Rolle der US-Konzerne im Ausland.

Was ist der Grund dafür?

Meiner Meinung nach ist die politische Bildung der Bevölkerung schlecht. Es gibt zwar viel persönliche Freiheit, aber nur wenig politische Freiheit. Die Rhetorik beschränkt sich auf einigende Slogans wie «Wir sind Amerika» oder «Veränderung braucht Mut». Dass eine echte Debatte fehlt, sehen wir bei unserer Arbeit. Wenn wir, wie Ende März in Washington, eine grosse Demonstration für die Reform des Immigrationsgesetzes veranstalten, dann sprechen wir dort bewusst nicht über Rassismus, denn das ist für viele Leute ein unangenehmes Thema. Würden wir es trotzdem tun, könnten wir schnell die Stimmen der politischen Mitte verlieren.

Die Demonstration in Washington war ein grosser Erfolg für Hilfsorganisationen wie FLIC. Seither ist die Reform des Immigrationsgesetzes vermehrt ein Thema in der Politik und den Medien. Wie geht es jetzt weiter?

Wir werden die Märsche und Demonstrationen fortsetzen. An der Basis der sozialen Bewegungen besteht der Wunsch nach einer Ausweitung der Aktivitäten, einige sprechen schon von zivilem Ungehorsam. Das ist durch den Patriot Act, das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus nach dem 11. September 2001, das auch die Bürgerrechte einschränkt, allerdings schwieriger geworden. Es gilt für uns aber auch, die Gruppen und Organisationen noch stärker zu vernetzen. Zurzeit gibt es keine echte Massenorganisation, vieles läuft noch immer über persönliche Beziehungen der Aktivisten. Deshalb versuchen wir, stärkere Allianzen mit den Bewegungen der Arbeiter, der Bürgerrechtler, der Schwarzafrikaner oder der Umweltschützer zu bilden. Wir wollen eine starke linke Achse, die ein Gegengewicht zu den erzkonservativen Rechten der Tea-Party-Bewegung schafft.

Noch mehr Kontrolle

Mit dem Entwurf für eine umfassende Reform des Immigrationsgesetzes will die US-Regierung vor allem die Zahl neuer MigrantInnen kontrollieren. Verhandelt werden zurzeit folgende Punkte des Entwurfs:

Die Immigrations- und Grenzschutzbehörde erhält zusätzliches Personal und technische Ausrüstung. Damit soll sie an den Grenzen besser gegen illegale Immigration und Schmuggel vorgehen sowie illegale ImmigrantInnen in den USA leichter auffinden, festnehmen und deportieren können. Eine Art biometrischer Identitätskarte erleichtert den Behörden zudem die Kontrolle der Arbeitserlaubnis.

Mit neuen Visabestimmungen, Gastarbeiterprogrammen und speziellen Arbeitsgenehmigungen kann die Zahl der ImmigrantInnen flexibel den Bedürfnissen des US-Marktes angepasst werden.

Illegale ImmigrantInnen, die sich bereits in den USA befinden, können sich registrieren lassen. Wenn sie ein Bussgeld zahlen und/oder rückwirkend Steuern entrichten, gewährt ihnen die Regierung den Status eines «zukünftig legalen Immigranten». Allerdings kann es acht Jahre und länger dauern, bis sie eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung erhalten. Hilfsorganisationen für ImmigrantInnen befürworten diesen «Weg zur Legalisierung».



Quelle: www.aila.org

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