Die Mikwe: Wen das lebendige Wasser belebt

Nr. 25 –

Untertauchen, um die Unreinheit abzuwaschen: Das jüdische Ritualbad gestaltet Übergänge im Leben. Viele jüdische Frauen finden die Mikwe furchtbar – andere beginnen, sie sich neu anzueignen.


«Wir sind ins Meer gegangen und untergetaucht. Mir kam es vor, als würde ich alles aus mir herausholen, waschen und wieder neu in mich hineinbringen. Am Ufer standen unsere Freunde, jubelten, tobten und kreischten wie kleine Kinder.»

Die Berliner Künstlerin Anna Adam beschreibt das Ritual am Vorabend ihrer Hochzeit. In der Toskana heiratete sie ihre langjährige Lebensgefährtin Jalda Rebling. Rebling ist Kantorin – sie leitet jüdische Gottesdienste –, Schauspielerin und Spezialistin für jüdische Musik. Wie in der jüdischen Tradition üblich, nahmen die Frauen vor dem Heiraten ein rituelles Bad. Doch nicht wie gewöhnlich im Badhaus einer jüdischen Gemeinde, sondern im Mittelmeer; in der «Biomikwe».

Anna Adam: «Während unsere Freunde ausgelassen waren, waren wir sehr konzentriert. Dort im Meer verstand ich: In der Mikwe mache ich mich innen und aussen schön. So hat sie einen Sinn für mich. Es ist diese Lebensfreude, die ich im Judentum so lange vermisst habe.»

Kein Sex ohne Mikwe

Am Tag vor der Hochzeit besuchen strenggläubige Jüdinnen die Mikwe zum ersten Mal. Danach – wenn sie nicht gerade schwanger sind – kommen sie einmal im Monat wieder: sieben Tage nach der Menstruation. In der Bibel, im Buch Levitikus, ist es festgeschrieben: «Hat eine Frau Blutfluss und ist solches Blut an ihrem Körper, soll sie sieben Tage lang in der Unreinheit ihrer Regel verbleiben.» Vom Vortag der Menstruation bis zum Mikwenbesuch berühren strenggläubige EhepartnerInnen einander nicht und schlafen in getrennten Betten. Somit ist fast während der Hälfte des Monats jeder sexuelle Kontakt verboten.

In Hohenems im Vorarlberger Rheintal steht die älteste erhaltene Mikwe Österreichs. Ein unscheinbares Häuschen im Hof der ehemaligen jüdischen Schule. Auch das frisch restaurierte Innere ist schlicht: Einige Treppenstufen führen hinunter zum Becken, das unter dem Fussboden liegt und so vor fremden Blicken geschützt ist. Das Wasser steht heute nur noch einige Zentimeter hoch.

Die Mikwe war schon länger ausser Betrieb, als die Nazis nach dem «Anschluss» 1938 mit Vertreibungen und Deportationen begannen. «Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren die meisten hier nicht mehr so fromm», sagt Hanno Loewy, der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems. «Die Frauen hatten wohl keine Lust mehr, in die Mikwe zu gehen. Aber es gibt keine Dokumente darüber, wann sie damit aufhörten.» In den zwanziger Jahren nutzte ein Wagner das Häuschen als Werkstatt und nach dem Krieg die jüdische Nachfolgegemeinde in Innsbruck das Gebäude. «Da hiess die Mikwe im Kaufvertrag nur noch ‹Waschküche›.»

Jetzt ist die Mikwe restauriert – und das Jüdische Museum Hohenems hat sie als Anlass für eine Ausstellung genommen. Sie hat nicht den Anspruch, das Thema allumfassend zu behandeln: «Dafür hätten wir viele Jahre gebraucht», sagt Hanno Loewy. «Denn es gibt sehr wenig Literatur zum Thema, wir hätten fast alles selber erarbeiten müssen. Und wir dachten, sollen wir uns jahrelang mit einer historischen Verrücktheit beschäftigen ...» So stehen nun nicht Forschungen im Zentrum der Ausstellung, sondern Bilder.

Wie das Wasser lebendig wird

Eine Frau unter Wasser. Die langen Haare hüllen einen Teil ihres Körpers ein, während sie zum Grund eines weiss gekachelten Beckens taucht. Luftblasen steigen in die Höhe. Die US-amerikanische Fotografin Janice Rubin hat in ihrem «Mikvah Project» mit einer Unterwasserkamera in der Mikwe fotografiert. Sie zeigt Frauen, die ganz bei der Sache sind, gleichzeitig entspannt und konzentriert im «lebendigen Wasser».

Hanno Loewy: «Lebendiges Wasser stammt aus einem weltumspannenden Kreislauf. Die frühen Mikwen wurden meist von Grundwasser gespeist, aber auch ein Fluss oder das Meer kann eine Mikwe sein. Wenn das Wasser in einem geschlossenen Behälter getragen wurde oder sich zu lange in Röhren aufgehalten hat, verliert es seine Lebendigkeit.

In der Stadt, im Ghetto, war es aber oft nicht so einfach, an einen Fluss oder an Grundwasser zu kommen. Daher kam wohl die Idee mit dem Regenwasser. Aber davon hat man auch nicht immer genug. Darum hat man sich mit einem Trick geholfen: Ein Regenwassertank, der durch ein Rohr mit der Mikwe verbunden ist, macht das Mikwenwasser auch lebendig. Auch wenn der Wasseraustausch fast null ist. Es heisst, das Regenwasser ‹umarme› das andere Wasser, und damit geht sozusagen der ‹Spirit› über.

In einem Talmudtraktat wird genau festgelegt, wie gross die Wassermenge in einer Mikwe sein muss. Sie muss reichen, damit du vollständig unter Wasser schweben kannst, ohne den Boden oder die Wände zu berühren. Du sollst dich öffnen, die Augen aufmachen, die Finger spreizen und in die Schöpfung eintauchen. So weit, wie es geht.»

Nicht alle Bilder des «Mikvah Project» sind unter Wasser aufgenommen. Janice Rubin hat auch Mikwenbesucherinnen in ihrem religiösen und profanen Alltag fotografiert. Die Schriftstellerin Leah Lax hat die Geschichten aufgeschrieben, die ihr diese Frauen erzählt haben.

Eine Familie auf dem Bett: Der bärtige Mann hält die Hand der Frau, die eine orthodoxe Kopfbedeckung trägt, und streichelt zugleich das kleine Kind, das zwischen ihnen liegt. Aus Leah Lax’ Text erfahren wir, dass die Frau zwei schreckliche Ehen hinter sich hat. Nun habe sie endlich den Richtigen gefunden. «Als ich in der Nacht vor meiner dritten Hochzeit in der Mikwe stand, begann ich zu weinen.» Zwei junge Frauen, unscharf im Hintergrund, halten ihre verschränkten Hände in die Kamera. Nach ihrem Coming-out als Lesbe, das zu Konflikten mit der Familie führte, entschloss sich eine von ihnen, in die Mikwe zu gehen. «Die Mikwe war ein Wendepunkt für das Ausleben meiner Sexualität.»

«Unerträglich»

Der Mikwenbesuch als Übergangsritual – für viele Frauen, die Leah Lax befragte, ist dieser Aspekt wichtig. Sie berichten, wie ihnen die Mikwe nach der Scheidung oder einem sexuellen Übergriff geholfen habe – oder auch ganz traditionell als Vorbereitung auf die Hochzeit. Es sind intime, warme Bilder und zu einem grossen Teil positive Geschichten.

Hanno Loewy: «Schön am ‹Mikvah Project› finde ich, dass es auf einer sehr persönlichen Ebene die Motive ins Spiel bringt, in die Mikwe zu gehen. Aber das ist ja nur die halbe Miete. Fast alle Frauen erzählen da, wie toll die Mikwe sei. Ich kenne aber keine Frau, die das toll findet. Diese kritischen Frauen haben wir nun selber gefragt.»

Diese Zitate bilden einen scharfen Kontrast zu den Texten aus den USA: Eine Zürcherin erinnert sich «nur vage an einen engen, nicht sehr ansprechenden Raum und einen leichten Widerwillen». Härter formuliert es eine Frau aus Wien: «Ich finde religiöse Rituale, die einen Zugriff auf den Körper darstellen, unerträglich.»

Dass die Mikwe auch abweisend sein kann, zeigt die andere Hälfte der Ausstellung. Der Frankfurter Fotograf Peter Seidel hat Mikwen in ganz Europa fotografiert: uralte und ganz neue, bescheidene wie in Hohenems und monumentale wie im hessischen Friedberg: eine Kathedrale von einer Mikwe, ein Turm, der in die Tiefe führt. Es sind betörend schöne Bilder, aber sie laden nicht ein zum Baden. Seidel zeigt die Bäder, auch die modernen, ohne eine Spur von Menschen. Die Becken wirken bodenlos tief. Und das Wasser sieht sehr kalt aus.

Die inhaltliche Auseinandersetzung zur Ausstellung findet auf Radio Mikwe statt, einem Internetradio mit täglich wechselndem Programm. Radio Mikwe bietet ein Forum für Diskussionen über Ritual und Freiheit, Sexualität und Religion und schlägt auch immer wieder den Bogen zum Christentum und zum Islam.

Hanno Loewy: «Grundsätzlich geht es bei solchen Ritualen immer darum, Grenzen zu ziehen. Und klare Unterscheidungen zu behaupten. Wir sind heute daran gewöhnt, dass unsere Körpergrenzen intakt sind. Aber früher war jede Verletzung, jeder Schnitt lebensbedrohlich, eine existenzielle Frage. Wir leben so aseptisch heute, dass wir uns das gar nicht mehr vorstellen können. Jeder Austausch von Körperflüssigkeiten war eine Frage, die ganz viel aufwarf.

Und das Zweite ist die Grenze zwischen Tod und Leben, die eine wahnsinnige Bedeutung hatte. Die Begegnung mit dem Tod war eine Gefährdung, sie zieht dich selbst sozusagen auf die falsche Seite. In diesen Ritualen ging es darum, diese Grenzen akzeptieren zu lernen und im Alltag mit ihnen umzugehen. Sie sind wie eine Sprache, die nicht aus Worten, sondern aus Handlungen besteht. Diese Sprache betrifft alles, was dich gefährdet: den Kontakt mit dem Göttlichen und die Begegnung mit Sexualität, die ja eine Begegnung mit Leben und Tod ist, mit der Grenze, wo Leben anfängt und aufhört.»

Der Himmel auf dem Kopf

Tirza Lemberger ist eine Frau, die nach den orthodoxen religiösen Regeln lebt. Die Wienerin hat acht Kinder grossgezogen, bevor sie 1985 ihr Judaistikstudium begann. Heute lehrt sie am Institut für Judaistik der Universität Wien.

Die Einstellung zu Ehe und Kinderkriegen sei im Judentum grundlegend anders als im Christentum, erklärt Lemberger in einem Vortrag. «Die Heirat ist gottgewollt. Schon bei der Beschneidung wird einem Jungen gewünscht: Er soll lernen, heiraten und gute Taten vollbringen.» Ein Rabbiner müsse unbedingt Familie haben. «Dahinter steht die Überzeugung: Nur wer die Verantwortung für eine Familie trägt, versteht, wofür er betet.»

Und die Gesetze seien der Schritt zur glücklichen Familie, sagt Tirza Lemberger. Auch in strenggläubigen Gemeinden seien immer wieder junge Frauen empört, dass sie einen Teil des Monats als unrein gelten. «Auch meine eigene Tochter hat mich gefragt: Bin ich denn ein Mensch zweiter Klasse? So wirkt es, wenn man es nicht versteht.» Wer sich genauer mit den Gesetzen beschäftige, erkenne, dass sie auch dem Schutz der Frauen dienten. «Der Mann ist verpflichtet, Rücksicht auf die Frau zu nehmen. Er kann nicht einfach seine Triebe ausleben, wie er will. Während fast der Hälfte des Monats ist die Kommunikation zwischen den Ehepartnern nur verbal. Das zeigt dem Mann: Die Frau ist kein Sexobjekt, sie ist ein Mensch! In dieser Zeit lernt man, miteinander zu sprechen.»

Offenbar geben die Regeln jenen, die sie akzeptieren, eine grosse Kraft. Der Alltag hat eine genaue Struktur, wird zum Ritual. «Wenn du drin bist, dann funktioniert es», so beschreibt es eine Frau aus Israel in einem der Mikwenstatements im Hohenemser Museum. «Du unterschreibst die Bedeutung von Reinheit und Unreinheit, und dann fühlst du entsprechend. Wenn du nicht gehorchst, dann fühlst du dich nicht wohl. Dann ist es, als falle dir der Himmel auf den Kopf.»

Der Film «Eyes Wide Open» von Haim Tabakman, der diesen Frühling in den Kinos lief, zeigt genau das: Wie schnell einem ultraorthodoxen Familienvater, der Geborgenheit in den Ritualen findet, der Himmel auf den Kopf fallen kann – weil er sich in einen Mann verliebt. Das respektierte Gemeindemitglied wird zur Bedrohung der Gemeinde und darum von ihr bedroht. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: sich anpassen oder verschwinden. Die Mikwe – ein Felsenbecken in der Natur – spielt in diesem Film eine wichtige Rolle. Sie symbolisiert den Moment, in dem der gläubige Aaron sein Begehren für den schönen Ezri nicht mehr unterdrücken kann.

Aber was machen Männer überhaupt in der Mikwe?

Hanno Loewy: «Vor der Zerstörung des Tempels im ersten Jahrhundert, als es noch Opferkulte gab, bezogen sich die Mikwenrituale vor allem auf die Männer. Sie waren es, die im Tempel mit dem Allerheiligsten zusammenkamen. ‹Wenn ich in die Nähe davon komme›, so hat man gedacht, ‹dann muss ich rein sein, sonst bringt mich das um.› Deswegen gab es unheimlich viele Vorschriften für alle, die mit dem Tempel zu tun hatten. Aber mit der Zerstörung des Tempels wurden sie fast alle abgeschafft. Thoraschreiber sind heute die einzigen Männer, die in die Mikwe müssen. Viele orthodoxe Männer besuchen die Mikwe trotzdem, manche sogar jeden Tag. Aber es gibt darüber keine Zeile geschriebenen Text.

Die Aufmerksamkeit hat sich völlig auf die Frauen verlagert, weil sie über das Allerheiligste, nämlich die Schaffung von Leben, verfügen. Und alles, was damit zu tun hat, mit dem heiligen Akt der Sexualität, wird sozial von der Mikwe geregelt. Göttlichkeit und Heiligkeit wurden quasi aus dem Tempel raus in die Privatsphäre verlegt. Und haben sich dabei natürlich mit den patriarchalen Vorstellungen verbunden, dass Frauen gefährlich seien und sozial kontrolliert werden müssten, damit ihre Potenz, Leben zu schaffen, unter Kontrolle bleibt.»

Konversion im Bademantel

Die Autorin und Kulturjournalistin Bettina Spoerri konvertierte vor neun Jahren in Zürich. Ihr Vater ist jüdisch, ihre Mutter christlich, doch beide nicht religiös. «Die Frage der Identität begann mich mit etwa zwölf Jahren stark zu beschäftigen, als ich realisierte, dass ich für keine der beiden Religionen dazugehörte.» Da im Judentum die Religion über die Mutter «vererbt» wird, war sie offiziell nicht jüdisch. «Ich fühlte mich dem Judentum aber näher als dem Christentum. Nicht in erster Linie der Religion, sondern einem assimilierten Kulturjudentum, wie es meine jüdischen Verwandten lebten: eine Lebenseinstellung, eine besondere Art von Humor, die Erfahrung, zu einer Minderheit zu gehören.»

Jüdisch werden ist gar nicht so einfach. «Wer immer wieder kommt, wird beim dritten Mal vielleicht angehört», sagt Spoerri. «Anders als Christinnen, die konvertieren wollen, war ich ja schon mit einem Bein drin. Aber auch mir machte man es nicht einfach.» Schliesslich konnte sie einen Kurs für Frauen bei einer religiösen Jüdin besuchen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Religion, zu der auch das Erlernen des hebräischen Alphabets gehört, ist Bedingung für die Konversion. Am Ende steht eine Prüfung: Drei Rabbiner befragten Spoerri zu ihrem Wissen und ihrer Motivation. «Dazu gehörten knifflige Fragen, zum Beispiel: Wie isst man am Schabbat einen Fisch?»

Der Besuch der Mikwe besiegelt den Übertritt. Für Bettina Spoerri eine zwiespältige Erfahrung: Die drei Rabbiner standen am Beckenrand, während sie, in einen Bademantel gehüllt, ins Wasser tauchte. «Das war sehr seltsam, erschreckend, und ich fühlte mich irgendwie ausgeliefert – ausserdem sog sich der Bademantel voll Wasser und wurde ganz schwer ...»

Seither war sie nie mehr in der Mikwe. «Für mich ist sie mit bestimmten religiösen Ansichten und Interpretationen über die Unreinheit der Frau verbunden. Aber als moderne Frau finde ich, mein Körper gehört mir.» Spoerri bezeichnet sich als «Dreitagejüdin»: Sie begeht die drei wichtigsten Feiertage. Ab und zu besucht sie heute die Synagoge, vor allem aber beteiligt sie sich aktiv am Gemeindeleben.

Ein hoher Zaun um die Thora

In der Schweiz ist die Mikwe heute fast ausschliesslich eine orthodoxe Angelegenheit. Andernorts beginnen sich aber Frauen und auch Männer neu für die Mikwe zu interessieren, losgelöst von der genau geregelten Pflichterfüllung. Die Bewegung des Jewish Renewal, die vor allem in den USA stark ist, verbindet eine Vorliebe für Rituale und Mystik mit Offenheit für Feminismus, Lesben- und Schwulenrechte oder ökologische Anliegen. Während es manche als «New-Age-Judentum» kritisieren, betonen seine AnhängerInnen, das Rituelle sei immer ein Teil der jüdischen Tradition gewesen.

In Berlin gehört der Verein Ohel Hachidusch (Zelt der Erneuerung), der die Kantorin Jalda Rebling und die Künstlerin Anna Adam angehören, zur Bewegung des Jewish Renewal. «Zu uns kommen Jüdinnen und Juden, weil sie in den traditionellen Gemeinden keinen Raum für ihre spirituellen Bedürfnisse finden – oder weil ihre gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen nicht respektiert werden», erzählt Jalda Rebling. «In vielen Gemeinden ist wenig Raum für Kreativität. Der Zaun um die Thora wird sehr hoch gebaut.» Seit Rebling als Kantorin ordiniert wurde, hat sie viel zu tun. Zusammen mit Interessierten lernt sie und gestaltet jüdische Rituale neu, zum Beispiel Hochzeiten.

«2004 bin ich zum ersten Mal mit einem Trupp Frauen in die Mikwe in der Oranienburger Strasse gegangen. Wir haben den Raum geschmückt, Kerzen aufgestellt und die Mikwe für uns erobert.» Jalda Rebling ist überzeugt, dass sich das Reinigungsritual vom Kontext der rituellen Unreinheit lösen lässt, den viele Frauen als belastend empfinden. «Wasser ist einfach ein wunderbares Mittel, um etwas zu klären. Das merken wir ja auch im Alltag: Es tut gut, das Gesicht unters kalte Wasser zu halten, wenn wir wütend sind, oder nach einer schwierigen Therapiestunde zu duschen.» Seither entwickeln die Frauen von Ohel Hachidusch ihre Mikwenrituale weiter, oft draussen, an einem See in der Nähe von Berlin. Er hat einen Zufluss und einen Abfluss – damit ist das lebendige Wasser gewährleistet.

Anna Adam geht überhaupt nur noch in die «Biomikwe»: «Ich bin gerne in Gesellschaft von Fischen und Eidechsen. Mit den gekachelten Räumen konnte ich mich dagegen nie anfreunden. Da spürte ich die Blicke der Mikwenfrau auf mir und dachte immer: Mein Gott, hoffentlich habe ich keinen Krümel auf meiner linken Schulter übersehen ...»

Adam erzählt von heissen Quellen im US-Staat Colorado, wo IndianerInnen vor Jahrhunderten Becken in den Stein gehauen haben, die aussehen wie Mikwen. Das Wasserritual bekommt etwas Universelles, das über das Jüdische hinausgeht. «Trotzdem finde ich es als Jüdin schön zu wissen: Es gibt in meiner Tradition diese Rituale, und ich kann sie mir aneignen. Sie verlieren damit das Starre, Vorgegebene.» Schliesslich hätten fast alle Menschen das Bedürfnis, Übergänge im Leben zu gestalten, um ihnen weniger ausgeliefert zu sein. «Eine Freundin von mir ist nach der Scheidung zu einem Bergbach gewandert und ins eiskalte Wasser getaucht. Sie hat einen Teil der Trauer, der Frustration und des Streits abgewaschen. Natürlich ist nachher nicht alles einfach vorbei. Aber es hilft wirklich.»


Die Ausstellung «Ganz rein!» im Jüdischen Museum Hohenems wird bis zum 3. Oktober 2010 gezeigt.

www.jm-hohenems.at

Wer hat das Patriarchat erfunden?

«Es entwickelt sich zurzeit ein neuer Mythos in christlich-feministischen Kreisen», schrieb die feministische jüdische Theologin Judith Plaskow vor mehr als dreissig Jahren. «Es ist ein Mythos, der uns erzählt, dass die alten Hebräer das Patriarchat erfanden: dass vor ihnen die Göttin in matriarchaler Vollmacht regierte und dass nach ihnen Jesus versuchte, Gleichstellung wieder aufzurichten, was ihm aber durch die Beharrlichkeit jüdischer Ansichten innerhalb der christlichen Tradition vereitelt wurde.»

Die christliche feministische Theologie, die mit der neuen Frauenbewegung nach 1968 entstand, versuchte das Christentum von seiner patriarchalen Tradition zu lösen. Dabei die Trennlinie zwischen Jesus und der jüdischen Welt, in der er lebte, zu ziehen, schien manchen verführerisch einfach – und führte oft direkt in den Antisemitismus.

Heute ist diese Debatte vergessen. Jetzt ist es der Islam, der unvereinbar sein soll mit der Frauenbefreiung. So sehen es zumindest die Anhängerinnen von Alice Schwarzer und Julia Onken. Das Christentum wird in den Islamdebatten oft zum Gegenbild verklärt, zum Symbol für Nächstenliebe und den aufgeklärten Westen.

Aber wer Frauenfeindliches sucht, wird in allen drei monotheistischen Religionen fündig – in den Schriften genauso wie im «Volksglauben». Das zeigte auch das Symposium «Reinheit und Reinigung», das Anfang Juni im Frauenmuseum Hittisau im österreichischen Bregenzerwald stattfand, angelehnt an die Ausstellung «Ganz rein!» in Hohenems (vgl. Haupttext). Vorstellungen von weiblicher Unreinheit gab und gibt es im Christentum genauso wie im Judentum und im Islam. Die Empörung über den Islam wirkt oft wie eine Wut auf Verdrängtes in den eigenen Traditionen. Und die prägen auch jene, die nichts mit Religion zu tun haben wollen.