Ägypten : Wer will schon Lügner wählen?

Nr. 48 –

Weder die Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag noch die Präsidentschaftswahl 2011 wird Kairo den politischen Wandel bringen. Stimmen aus der Achtzehnmillionenmetropole.

«Warum wir Wahlen haben? Nun, weil es in der Verfassung steht.» Hani Schukrallah, Chef­redaktor der neuen Internetzeitung «Al Ahram» schmunzelt. «Wie immer wird es keine Überraschung geben; die Nationale Demokratische Partei wird eine klare Mehrheit erhalten.» Das gelte nicht nur für die Parlamentswahlen von vergangenem Sonntag: So werde es auch nächstes Jahr aller Vor­aussicht nach bei den Präsidentschaftswahlen sein.

Die Nationale Demokratische Partei (NDP) von Präsident Hosni Mubarak halte die Zügel fest in der Hand, sagt der Journalist. «Es gibt weder ernst zu nehmende Gegner noch Reformen.» Niemand sei in der Lage, die Herrschenden herauszufordern. Dafür sorgten nicht zuletzt das breite Netz von Klientel- und Vetternwirtschaft sowie die Einschüchterung und Anwendung von Gewalt. Den Wählern habe man klargemacht, für wen sie zu stimmen hätten.

Armut neben Luxus

Die oppositionelle Muslimbruderschaft werde niedergemacht, und die älteste Oppositionspartei al-Wafd sei von einem Geschäftsmann übernommen worden, der sich von der NDP rund fünfzig Sitze ausbedungen habe. «So steht die Regierungspartei nicht als Alleinherrscherin da.» Um Ägypten politisch verstehen zu wollen, müsse man sich nur das tägliche Verkehrschaos in der Achtzehnmillionenmetropole Kairo ansehen, meint Schukrallah, der vor fünf Jahren vom Chefsessel der «Al-Ahram»-Druckausgabe vertrieben und einige Jahre in die berufliche Verbannung geschickt worden war: «Wir leben in einer Art Kriegszustand. Die solidarische, hilfsbereite Gesellschaft von einst existiert nicht mehr, das soziale Gefüge bricht auseinander.»

Zu Besuch im Heliopolis, einem Quartier, in dem Kairos Reichtum zu besichtigen ist. Für die Damen gibt es hier Haute Couture zu kaufen, für die Herren Schweizer Uhren oder BMW-Limousinen. Die Kinder vertreiben sich die Freizeit bei Starbucks, in Diskotheken oder auf dem Tennisplatz. Sattes Grün säumt die breiten Alleen. Gleich nebenan liegt Manschiat an-Nasr, ein Slum, der als Müllhalde der Altstadt dient und in dem rund 60 000 MüllsammlerInnen leben und arbeiten. Täglich werden TouristInnen aus aller Welt in klimatisierten Bussen durch die schmale Hauptstrasse des Slums kutschiert, um dort das Kloster des heiligen Simeon zu besichtigen. Die Fahrt im Bus bewahrt einen vor dem beissenden Geruch und den Scharen von Fliegen, die über den Müllbergen kreisen. Frauen sitzen zwischen ausgeleerten Müllsäcken und sortieren Metall von Plastik, Glas von Papier. Rund um sie spielen Kinder, Katzen und Hunde suchen nach Nahrungsresten.

Die MüllsammlerInnen sind überwiegend Kopten (Christen), die vom oberen Nil nach Kairo kommen. Seit die Regierung vor zwei Jahren wegen der Schweinegrippe sämtliche Schweine der MüllsammlerInnen töten liess, bleibt der organische Abfall liegen, sagt der 24-jährige Moussa al-Ghawy. «Die Schweine waren für die Müllsammler gute Partner», fügt der Arzt Ateef Farih hinzu, der die Familien unentgeltlich in Hygiene unterweist sowie Krankheiten wie Augenentzündungen und Gelbsucht behandelt. Das Töten der Schweine liegt bereits zwei Jahre zurück, doch al-Ghawy ist noch immer empört. «Das wollten sie schon lange tun und haben die Schweinegrippe zum Vorwand genommen.»

Der ehemalige Hoffnungsträger

Auch in der Stadt der Müllsammler hatten KandidatInnen wenige Tage vor den Wahlen Plakate und Transparente aufgehängt und den Menschen ein besseres Leben und ein Krankenhaus versprochen. Doch kaum jemand glaubt ihnen. «Niemand wählt hier», ist sich al-Ghawy sicher. «Politiker sind alles Lügner. Ich werde keinem einzigen meine Stimme geben.»

Zurück im Stadtzentrum: Mohamed Aboulghar teilt Moussa al-Ghawys Skepsis. Das Land werde von der Polizei, dem Geheimdienst und der Armee regiert, sagt der siebzigjährige Universitätsprofessor und Arzt. Für ihn repräsentiere Ägypten die schlimmste Art von Diktatur: Sie bezeichne sich selbst als Demokratie und stelle die Menschen mit kleinen Geschenken ruhig.

Anfang Jahr noch hatte Aboulghar mit grossem Enthusiasmus die oppositionelle Gesellschaft für Wandel (NAC) rund um Mohammed al-Baradei unterstützt, die zum Boykott der Wahlen aufgerufen hatte. Doch der frühere Chef der Internationalen Atomenergiebehörde hat seine AnhängerInnen enttäuscht. Nach der Ankündigung im Februar, für den politischen Wandel in Ägypten zu kämpfen, habe al-Baradei insgesamt nur sechs Wochen im Land verbracht, sagt Aboulghar. Eine ernst zu nehmende Opposition lasse sich auf diese Weise nicht aufbauen.