Wohin steuert Ägypten?: Mit vollem Elan in die Tage der Ungewissheit

Nr. 7 –

Überrascht vom eigenen Erfolg muss sich die Protestbewegung in Ägypten plötzlich politisch organisieren. Und dies in einem rechtlichen Vakuum, von dem niemand weiss, wie und wann der Hohe Rat der Streitkräfte es füllen wird.

Nach achtzehn Tagen Aufruhr scheint Kairo zur Normalität zurückzukehren. Die Geschäfte sind wieder geöffnet, das Ausgehverbot ist deutlich verkürzt. Damit sind auch die zweifelhaften Bürgerwehren, die in den Quartieren mangels ausreichender Polizei- und Armeekräfte für Ruhe und Ordnung sorgen sollten, verschwunden, ebenso die Schlangen vor Bäckereien und Gemüse- und Fleischhändlern. Die Facebook-Jugend hat den Tahrir-Platz geputzt – dass sie sich dafür Plastikhandschuhe überzogen, fanden ihre RevolutionsgenossInnen aus armen Quartieren ziemlich lustig. Nun strömt auf den Platz der alltägliche Verkehr und kommt hupend ins Stocken wie eh.

Wer ist dieser Militärrat?

Nur die an strategischen Stellen aufgestellten Armeepanzer zeigen, dass sich etwas geändert hat – wobei: Auch vor dreissig Jahren, nach dem Attentat auf Präsident Anwar as-Sadat standen Panzer in der ganzen Stadt und sicherten den Übergang zum Regime von Hosni Mubarak. Was garantiert, dass diesmal alles besser herauskommt?

Es war Mubarak, der dem Hohen Rat der Streitkräfte vor einigen Tagen die Macht übertragen und damit die Verfassung ausser Kraft gesetzt hat – diese hätte andere Nachfolgeregelungen vorgesehen. «Wer ist denn dieser Rat überhaupt? Von dem habe ich noch nie gehört und keine Ahnung, wer dort drin sitzt», wundert sich der Kunstprofessor Paul Geday im Garden City Club, einem vom Industriemagnaten Nagib Sawiris gesponserten Intellektuellen- und Künstlerzirkel. Tatsächlich trat ein solcher Hoher Rat in der Geschichte Ägyptens erst zweimal zusammen – während der Kriege von 1967 und 1973 gegen Israel.

Der Hohe Rat löste das letzten Herbst in gefälschten Wahlen zustande gekommene Parlament auf, beliess jedoch das in letzter Minute von Mubarak eingesetzte neue Kabinett voller alter Gesichter unverändert im Amt. Weder haben die Militärs das seit dem Sadat-Attentat geltende Notrecht abgeschafft noch politische Gefangene oder alle während der Proteste festgenommenen DemonstrantInnen freigelassen.

Im Gegenteil: Ägyptische Menschenrechtsgruppen kratzen am guten Image der Armee, die von der Protestbewegung mit dem Slogan «Die Armee und das Volk sind eine Hand» begrüsst und gefeiert wurde. Sie beschuldigen das Militär, während der Unruhen Hunderte, wenn nicht Tausende von DemonstrantInnen verhaftet, zum Teil gefoltert und massiv eingeschüchtert zu haben. Viele von ihnen werden immer noch vermisst – laut Human Rights Watch mindestens achtzig Personen.

Viele Hoffnungen

Wem der Hohe Rat Regierungskompetenzen übertragen wird, ist unklar. Zwei seiner Mitglieder haben sich am Sonntag mit einer Delegation der Protestierenden getroffen. Laut deren Protokoll vom Treffen versprachen die Armeevertreter angeblich, in den nächsten zehn Tagen einen Verfassungsentwurf zu erstellen und das Volk innerhalb von zwei Monaten darüber abstimmen zu lassen. Die Armeeseite hat diesen Zeitrahmen inzwischen bestätigt, es sollen aber vorderhand nur die sechs umstrittensten Verfassungsartikel geändert werden. Am Mitwoch fand ein weiteres Treffen zwischen der Armee und der Bewegungsdelegation statt.

Dabei drängt die Zeit. Die Hoffnungen der Menschen nach dem raschen und überraschenden Sieg über das Regime Mubarak sind gross, und die Geduld scheint klein. Anfang Woche streikten die Bankangestellten für bessere Löhne und für die Entlassung ihrer Bosse. Am Montag gingen Polizisten für das Gleiche auf die Strasse – und für die Strafverfolgung ihres früheren Bosses, des Innenministers Habib al-Adly. Tourismusangestellte demonstrieren für die Rückkehr der TouristInnen. Ein Lehrer sagte einer Zeitung zum Valentinstag, der Umsturz gebe ihm Hoffnung, dass er vielleicht nicht zum Heer von neun Millionen über 35-jährigen ledigen Männern gehören werde, sondern bald seine Liebe finden und dank besserer ökonomischer Verhältnisse auch heiraten können werde. Und im Hotel fragt der Rezeptionist: «Meinst du, wir können bald in der Welt herumreisen wie ihr und die Araber aus dem Golf?»

So viele Wünsche, und noch ist völlig unklar, welches die ersten Schritte sein sollen. Mit wem wird der Hohe Rat verhandeln? Parteien gibt es zwar erstaunlich viele für ein so undemokratisches Land. Doch die meisten sind bedeutungslos, aufgrund der staatlichen Repression, aber auch wegen innerer Streitigkeiten. Ähnlich sieht es auch bei nichtstaatlichen Organisationen aus: In nicht weniger als fünfzig Gruppen haben sich nur schon die VerteidigerInnen der Menschenrechte aufgespalten.

Auch die noch am besten organisierte Oppositionsbewegung Ägyptens, die Muslimbrüder, hat sich seit ihrem Wahlerfolg von 2005 zerstritten. Am Montag dieser Woche kündigte sie an, aus ihrer «sozialen Bewegung» eine eigentliche Partei zu formen – «sobald eine veränderte Verfassung dies zulässt». Die Protestbewegung der «Jugend des 25. Januar» wurde zwar von etlichen Bürgerbewegungen getragen – keine davon ist jedoch eine Partei mit einem Programm. Dazu müssen sie sich nun erst noch formieren, und einige sind fleissig daran: Mehrere «Roadmaps» für die nächsten Schritte verschiedener Foren, Koalitionen und Ligen sind im Umlauf.

Viele Fragen

Die Vorschläge gehen weit auseinander: Soll es weiterhin ein Präsidialsystem geben oder ein parlamentarisches System? Proporz- oder Mehrheitswahlen? Welches Wahlrecht? Bisher mussten sich die BürgerInnen in Wahlregister eintragen – wer gegen das System war, foutierte sich um diesen Wahlausweis. Wer kann künftig wählen gehen? Es ist nicht mal klar, was aus Omar Suleiman, dem kurzfristig zum Vizepräsidenten beförderten Geheimdienstchef, geworden ist: Spielt er, wie es sich die USA wünschten, noch eine Rolle, oder ist er wie Mubarak irgendwo in einem inneren Exil?

So viele Fragen, von denen sogar umstritten ist, an wen sie zu richten sind. Die Menschen auf dem Tahrir-Platz forderten: «Madania, misch askaria!» – einen zivilen, und keinen militärischen Staat. Der Hohe Rat der Streitkräfte erkärte am Dienstag, er suche die Macht nicht, und er «hoffe, innerhalb von sechs Monaten die Führung einer zivilen Behörde, einschliesslich einem gewählten Präsidenten» übergeben zu können. Vielleicht vermag eine für Freitag angesagte neuerliche Grossdemonstration auf dem Tahrir-Platz dieser Hoffnung Nachdruck zu verleihen.