Gregor Gysi: «Das Bürgertum läuft aus dem Ruder»

Nr. 17 –

Er spricht an der 1.-Mai-Kundgebung in Zürich und ist einer der klügsten Köpfe der deutschen Linken: Gregor Gysi über die Notwendigkeit einer antikapitalistischen Energiewende, die Defizite der Grünen und die Probleme seiner Partei Die Linke, die vor einem schwierigen Übergang steht.


WOZ: Die Katastrophe von Fukushima zeigte erneut: Menschen nutzen Techniken, die sie nicht beherrschen. Kann eine Partei wie Die Linke da einfach als Partei der sozialen Gerechtigkeit weitermachen?

Gregor Gysi: Natürlich stehen wir vor der Frage: Gehen wir raus aus der Atomenergie und steigen wir um – nicht nur in eine neue Energieversorgung, sondern in ein neues Industriezeitalter? Ich bin kein Maschinenstürmer, ich will neue Techniken. Aber es gibt eine nicht verhandelbare Bedingung: Die Techniken müssen im Fall einer Katastrophe beherrschbar sein. Die Atomtechnik ist es nicht. Deshalb müssen alle Parteien, die sich nicht prioritär mit Fragen der Atomenergie und der Ökologie beschäftigt haben, ihre Politik deutlich erweitern. Das gilt auch für Die Linke.

Die Grünen und andere sprachen bisher von einem New Green Deal. Wir brauchen aber einen New Social Green Deal, also einen sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft. Denn eine Gesellschaft ist nur dann bereit, einen solchen anspruchsvollen Weg mitzugehen, wenn der New Green Deal untrennbar mit der sozialen Gerechtigkeit verknüpft wird. Wenn dies nicht der Fall ist, dann können Sie bestenfalls einen Teil der Mittelschichten dafür mobilisieren.

Diejenigen, die auch nach Fukushima mit Atomenergie weiterhin ihre Milliarden verdienen wollen, versuchen jetzt schon, die ärmeren Teile der Gesellschaft gegen den Ausbau alternativer Energien mit dem Argument zu mobilisieren: Das kommt euch teuer zu stehen.

Das Antikapitalistische an Ihrer Energiewende besteht also darin, das Soziale dabei zu beachten. Oder unterscheidet sich Ihr Konzept einer Energiewende, verglichen mit den anderen Parteien, noch in anderen Punkten?

Wir erleben in Deutschland momentan eine Auseinandersetzung zwischen der Union und den Grünen. Die Grünen wollen einen moderneren Kapitalismus, die Unionsparteien sind in grossen Teilen noch dem alten Modell verpflichtet. Das ist ein gewaltiger Unterschied.

Nicht alle in meiner Partei sehen übrigens diesen Unterschied, was ich für einen grossen strategischen Fehler halte. Die Grünen sagen zu den vier grossen Energiekonzernen: Ihr dürft bleiben, aber euren Profit bezieht ihr künftig nicht aus Atomenergie, sondern aus erneuerbaren Energien. Dann sagen sie: Frau und Mann sollen gleichberechtigt sein. Die Botschaft an die Unternehmen ist: Ihr dürft künftig die Frauen nicht mehr als die Männer ausbeuten. Und Menschen mit Migrationshintergrund sollen so intensiv wie die Deutschen ausgebeutet werden, aber auf keinen Fall mehr, denn das wäre ja ungerecht.

Ich hingegen gehe davon aus, dass der Kapitalismus die ökologische Frage im Grundsatz nicht beantworten kann. Weil seine entscheidenden Triebkräfte sich immer gegen das Ökologische wenden. Warum kommen wir denn in der Klimafrage seit Jahrzehnten nicht voran? Weil immer noch die herrschenden wirtschaftlichen Interessen dagegen stehen.

Das heisst, wer Ökologie ernst nimmt, muss zugleich antikapitalistisch sein?

Ganz genau. Wer das ernst nimmt, muss zugleich dafür eintreten, Wirtschaft und Gesellschaft hin zu einem demokratischen Sozialismus zu transformieren. Ein Beispiel: Es gibt ein Bedürfnis nach ökologischen Produkten. Das kann vom Kapitalismus befriedigt werden. Für Waschmittel wird ja inzwischen nicht mehr damit geworben, dass sie gut waschen, sondern dass sich die Flüsse wie wahnsinnig auf sie freuen, weil sie ja so umweltverträglich seien.

Aber es gibt im Kapitalismus keinen Druck, diese ökologischen Produkte auch auf ökologische Weise herzustellen. Man müsste also ökologische Produktionsweisen mithilfe von Gesetzen erzwingen. Aber ich habe im Staatssozialismus gelernt, und das ist im Kapitalismus nicht anders, dass juristische Gesetze immer schwächer sind als ökonomische Gesetze. Deshalb stossen alle, die es mit der Ökologie ernst meinen, an dieser Stelle an eine Grenze. Und deshalb brauchen wir zwangsläufig die Transformation, von der ich eben gesprochen habe.

Und der zweite Punkt: Ich muss mir die ökologische Wende leisten können. Ohne soziale Gerechtigkeit und die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse wird eine ökologische Wende nie ein gesellschaftliches Fundament haben.

Welche Rolle spielt dabei die Frage der Eigentumsform?

Das Privateigentum an Produktionsmitteln hat sich dort, wo Wettbewerb herrscht – zum Beispiel zwischen Handwerkern oder mittelständischen Unternehmen – bewährt. Wo es keinen Wettbewerb gibt und wo es um grundlegende Bedürfnisse der Gesellschaft geht, ist privates Eigentum immer hochgefährlich. Deshalb brauchen wir in Bereichen wie Gesundheit, Energie oder Altersversorgung öffentliche Lösungen. Diese Bereiche gehören in die Zuständigkeit der Öffentlichkeit, also der demokratischen Politik, und dafür ist öffentliches Eigentum unverzichtbar. Deshalb will ich die vier Energieriesen in Deutschland in kleinere Einheiten zerlegen und nach Möglichkeit rekommunalisieren. Damit sie nicht länger die Politik beherrschen, sondern die Politik ihnen einen Rahmen setzen kann.

Haben Sie dafür Bündnispartner?

Also, die Grünen sehe ich da nicht, und die Sozialdemokraten sind auch in dieser Frage wirr. Das heisst, es kommt auf den öffentlichen Druck an. Dann würde die SPD wohl mitmachen.

Sieht Ihre Vorstellung von Transformation generell eine öffentlich organisierte Wirtschaft vor?

Nein. Bei anderen grossen Unternehmen, die allgemeine Wirtschaftsgüter herstellen, brauchen wir solche Lösungen nicht. Da geht es uns vielmehr darum, Schritt für Schritt das Eigentum der Belegschaften an den jeweiligen Unternehmen auszubauen – Eigentum, das beispielsweise in einer Stiftung gebündelt ist, welche dann die Interessen der Belegschaft auch im operativen Geschäft vertritt.

Hier gilt ebenfalls das Prinzip: Mitbestimmung per Gesetz ist wichtig. Aber das könnte die nächste Regierung wieder kassieren. Miteigentum jedoch kriegt die nächste Regierung nicht weg. Wirtschaftliche Mechanismen sind auch hier viel wirksamer als juristische.

Zum demokratischen Sozialismus komme ich nicht mit Umstürzen und Revolutionen, sondern über Machtkämpfe unter demokratischen Bedingungen, mit denen sich die Gesellschaft nach und nach immer stärker verändert.

Müsste Die Linke nicht eigentlich viel mehr wagen: für die 25-Stunden-Woche, für autofreie Grossstädte, für die Umstrukturierung von Automobilkonzernen in Mobilitätskonzerne, für ein Grundeinkommen, für Boykottkampagnen gegen Grossunternehmen, die schädliche und nutzlose Produkte herstellen?

Vielen Dank für diese Hinweise. Wir werden über all das nachdenken. Auf jeden Fall streiten wir schon jetzt für eine Arbeitszeitverkürzung bei der Lebensarbeitszeit und der Wochenarbeitszeit. Wir streiten für eine ökologische Gestaltung der Grossstädte und verlangen die Konstruktion eines Autos, mit dem auch sämtliche Chinesinnen und Chinesen fahren könnten, ohne die Umwelt zu belasten. Bei Grossunternehmen fordern wir, wie gesagt, mehr Demokratie und Miteigentum der Belegschaften. Wir wollen auch eine sanktionsfreie soziale Grundsicherung, allerdings nicht ein Grundeinkommen für jede und jeden, schon weil das nicht bezahlbar wäre.

Die soziale Kluft in Deutschland ist tiefer denn je. Immer mehr Menschen sind skandalös arm, immer mehr sind skandalös reich – oft ohne selbst etwas dafür zu leisten. Warum gibt es darüber keine öffentliche Empörung?

Armut ist anonymisiert. Es gibt keine Schlangen mehr auf den Sozial- und Arbeitsämtern; die kümmerlichen Unterstützungen werden aufs Konto überwiesen. So gibt es keine Bilder mehr von der massenhaften Armut. Und die Betroffenen verschweigen ihre Armut aus Scham. Dazu kommt, dass die SPD und die Grünen das alles durchgesetzt haben. Sie haben das Hartz-IV-System eingeführt, prekäre Beschäftigungsverhältnisse ausgeweitet und die Spitzensteuersätze reduziert. Wenn so was die SPD macht, sagen viele, dann ist es eben nicht anders gegangen.

Und dann schauen die ärmeren Leute eher zur Seite als nach oben. Der mit dem kleinen Geldbeutel misstraut dem angeblich faulen Hartz-IV-Empfänger, aber nicht dem Millionär. Das ist eine Frage der Aufklärung. Dazu brauchen wir die Medien. Doch die Medien gehören denen, die an einer solchen Aufklärung keinerlei Interesse haben. Und die öffentlich-rechtlichen Medien sind weitgehend kontrolliert von Union und FDP.

Aber über den Reichtum wird doch intensiv berichtet.

Das ist eine andere Welt. Du beneidest die Millionäre nicht, du bewunderst sie. Das ist das Problem. Wenn Josef Ackermann das Doppelte des Taxifahrers verdienen würde, dann würde der sich Gedanken darüber machen, ob das gerecht ist. Aber nicht wenn der Ackermann zehn Millionen verdient. Da gibt es keinen Bezug mehr.

Es gibt aber auch eine andere Entwicklung. Das Bürgertum wird rebellisch. Es verdient gut, leistet viel und stellt fest, dass dieser Staat kein Geld mehr hat, um ordentliche Toiletten in den Schulen seiner Kinder zu finanzieren – aber innerhalb einer Woche Hunderte Milliarden Euro bereitstellt, um die Banken aus ihrer selbstverschuldeten Finanzmarkt-Kernschmelze herauszuhauen. Da stimmt für viele etwas nicht.

Und deshalb funktioniert auch das nicht mehr, was bisher stillschweigend akzeptiert wurde – dass alles geht, solange es von Parlamenten und Gerichten abgesegnet ist. Das läuft jetzt nicht mehr, siehe etwa den Widerstand der Bürger in Stuttgart gegen das unterirdische Bahnhofsprojekt S21 oder den Volksentscheid der Bürger in Hamburg für eine elitäre und gegen eine etwas gerechtere Schulbildung. Das Bürgertum läuft buchstäblich aus dem Ruder. Es hat die Methoden der direkten Demokratie für sich entdeckt: Demonstrationen und Volksentscheide. Deren Ergebnisse behagen mir zwar nicht immer, siehe Hamburg, aber entscheidend ist, dass das Bürgertum diese Methoden der direkten Demokratie anwendet. Union und FDP kommen mit diesen Umwälzungen gar nicht zurecht, die Grünen aber umso mehr.

Und Die Linke steht als missgelaunte Beobachterin abseits, verliert bei den Landtagswahlen, zerstreitet sich über ihre Misserfolge und schaut zu, wie die rot-grüne Machtoption zurückkehrt.

Das ist leider richtig, wir spielen in dieser Auseinandersetzung noch eine untergeordnete Rolle.

Was tun? Abwarten und Tee trinken?

Wir dürfen nicht abwarten, auch wenn wir momentan ins Hintertreffen geraten sind. Es ist von elementarer Bedeutung, dass wir an unseren sozial-ökologischen Konzepten arbeiten, also die ökologische Frage stärker einbeziehen und sie direkt mit der sozialen Frage verknüpfen. Das können die Grünen nicht, weil sie inzwischen auch in Oberschichten und Mittelschichten beheimatet sind. Wer ist es denn, der in Deutschland die Milliardengewinne der Energiekonzerne thematisiert? Ausser uns tut das niemand.

Ihre Partei ist wegen der Misserfolge sehr unruhig, viele Landes- und Kreisvorsitzende fordern neue Strategien. Wollen die, was Sie wollen, Herr Gysi ...

... da bin ich mir nicht sicher ...

... oder haben die ganz andere Vorstellungen, sodass hier etwas grundsätzlich auseinanderdriftet?

Der Zustand unserer Partei ist etwas besser, als er dargestellt wird. Wir haben vor allem Probleme zwischen den Funktionären, weniger an der Basis. Den einen fehlt etwas, was es in der PDS [der vorwiegend ostdeutschen Vorläuferorganisation, Red.] gab. Und den anderen fehlt das gar nicht. Daraus entstehen Konflikte.

Aber die sind und müssen beherrschbar sein. Alle müssen akzeptieren, dass wir nur mit einem gewissen Pluralismus stark sind. Die einen wie die anderen müssen akzeptieren, dass sie allein nur verlieren können oder sogar ihre politische Existenz aufs Spiel setzen.

Die Linke ist jung und vereinbart schier Unvereinbares: Ost und West, ehemalige Regierungspartei und radikale Opposition, Volkspartei und Nischenpartei. Ist die Phase bereits überwunden, in der eine Spaltung in die früheren Bestandteile möglich ist?

Ich glaube, eine Spaltung steht nicht an. Dazu sind wir alle zu klug.

Der momentane Kampf geht wieder einmal um die Frage, wer dominiert. Das nützt keinem und schadet allen. Wir brauchen noch mehr Zentristen, also Leute von Gewicht, die zuerst an die Partei denken und nicht an ihren Flügel. Und wir brauchen beide Generationen, die Alten wie die Jungen. Es geht immer um die natürliche Autorität, nicht um jene aufgrund des Amts. Die Alten dürfen nicht zu früh gehen, aber müssen gehen. Und die Jungen dürfen erst dann ganz vorne einsteigen, wenn sie schon eine natürliche Autorität haben, sonst werden sie frühzeitig verschlissen. Ich finde, wir Alten lassen bereits los, und die Jungen sind schon ganz gut vertreten, in Medien und Ämtern.

Das alles ist eine grosse Herausforderung, ein ganz schwieriger Prozess. Und in dem sind wir mittendrin.