«Die Gottfriedkinder»: Ein freundlicher und freigiebiger Onkel

Nr. 21 –

Eine Ostschweizer Familiensaga voller katholischer Enge, bigotter Sexualmoral und Ausbruchsversuche: Das ist der Roman-Erstling des 82-jährigen Theatermanns Max Peter Ammann.


Toggenburg, im Spätherbst 1919: Zwei junge Arbeitslose ziehen einen hohen Zweiradkarren durch das dichte Schneegestöber auf der Suche nach Kundschaft für Barchentunterwäsche und Baumwollüberkleider. So beginnt die Geschäftspartnerschaft von Jo&Go, von Jonas und Gottfried. Bald schon eröffnen sie in der Altstadt von Tugutswil ihren ersten Laden, treiben mit Dumpingmethoden die alteingesessenen Krämer in den Konkurs und beginnen zu expandieren.

Geschäftspartner bleiben sie während Jahrzehnten, ansonsten aber wächst die Distanz zwischen ihnen: Jonas ist schwul und lässt sich von einem ruinierten Konkurrenten bei ausschweifender Lustbarkeit mit drei Rekruten beobachten. Als Gottfrieds Geschäftspartner bleibt er danach nur dank eines cleveren Anwalts tragbar – und weil er sich zur Ehe nötigen lässt. Von da an kann er seine Sexualität bloss noch anlässlich kurzer, erniedrigender Kontakte auf Bahnhoftoiletten leben.

Gottfried dagegen bemüht sich um ein durch und durch gottgefälliges Leben. Er ist moralisch rigide, hart gegen sich und andere, und wenn viel später sein Sohn Marc mit einem Notendurchschnitt von 5,82 die Matur schafft, sagt er bloss: «Eine 6 wäre runder gewesen.» Dieser Gottfried heiratet, hat mit seiner Frau die drei Kinder Jan, Marc und Lis, und als die Frau bei der Geburt des vierten Kindes stirbt, heiratet er ein zweites Mal und wird erneut Vater. Insbesondere die ersten drei Kinder geben dem Buch den Titel.

Der Roman ist Chronik, Sittengemälde und Familiensaga in einem. Ammann beherrscht die Kunst der prägnanten Formulierung und zeichnet mit präzisen Strichen ein buntes Geflecht von Figuren und Situationen; nicht selten gelingen ihm in wenigen Sätzen vollständige, sprechende Geschichten. Diese Stücke fügt er zu einem Flickenteppich aus Familien-, Dorf- und Zeitgeschichte, von der grossen Grippeepidemie (1918) über die Bombardierung von Ludwigshafen (1943/44) bis zur Uraufführung von Friedrich Dürrenmatts «Der Besuch der alten Dame» in Zürich (1956).

Bigott bis ins Letzte

Im Zentrum stehen die dreissiger und vierziger Jahre. Erlebbar gemacht werden sie weniger durch einen zentralen Plot als durch die episodische Entfaltung einer katholisch imprägnierten Welt, die noch dort, wo sie menschlich wirkt, bigott bleibt: Im Innersten zusammengehalten wird die heile Jo&Go-Welt dadurch, dass Jonas mit einer Frau ganz aus «Jüngferlichkeit» eine Ehe führt, die in keinem Moment eine ist. Und zeitlebens spielt dieser Mann für Gottfrieds Kinder den immer freundlichen und freigiebigen Onkel, während er in der Erwachsenenwelt als resignierender Alkoholiker allmählich untergeht.

Im Lauf der Erzählung verengt sich der vorerst allwissende Blick des Erzählers immer deutlicher auf die Perspektive des mittleren Gottfriedkinds Marc, der schliesslich ganz im Zentrum der Darstellung steht: Marc (offensichtlich Ammanns Alter Ego) arbeitet sich langsam, aber beharrlich aus der Engnis seiner Herkunft heraus.

Die vierzig Romankapitel lassen sich in drei Teile gliedern: Der erste Teil ist den frühen Jahren von Jo&Gos Geschäftstätigkeit gewidmet, das Hauptstück der Schilderung von Kindheit und Jugend der Gottfriedkinder und der Epilog dem Werdegang Marcs, der sich via Lehrerberuf und nach Auslandaufenthalten zum Schauspieler ausbilden lässt und später erfolgreicher Dramaturg wird.

«Dramaturgie ist alles»

Die zunehmende Verengung der erzählerischen Perspektive, die man sich als reizvolles Stilmittel denken könnte, wird von Ammann allerdings nicht souverän eingesetzt. Eher unterläuft sie ihm als Folge einer Schwäche der Konstruktion. Der Autor, der – 82-jährig – seinen Erstling schreibt, hat bei der Bewältigung des Stoffs einer Frage zu wenig Beachtung geschenkt: Soll der Text – wie nun auf dem Umschlag behauptet – ein Roman sein, oder steht er im Dienst einer literarisch gestalteten Autobiografie der Jugendjahre?

Ammann hat darauf keine klare Antwort. Darum sucht er im abschliessenden Teil als Autobiograf, der er nicht sein will, einen Romanschluss, den er bereits verpasst hat: Der Spannungsbogen ist weg, die in der Geschichte eingeführten Figuren und Motive sind verabschiedet oder vergessen. Trotzdem folgen noch mehrere, additiv gereihte Kapitel, in denen Marc/Ammann – nicht gefeit vor Selbstgefälligkeit – unverhofft sein Talent zur Schauspielkunst entdeckt. Die abschliessende Sentenz des Buches habe ich deshalb unwillkürlich auf den Romanschluss bezogen: «Dramaturgie ist alles. Sonst wirds Rosenkranz.» «Die Gottfriedkinder» sind trotz des Schlusses lesenswert.

Max Peter Ammann: Die Gottfriedkinder. Rotpunktverlag. Zürich 2011. 346 Seiten. 38 Franken