«Michael Bakunin: Konflikt mit Marx»: Der Pluralist und der Staatsgläubige

Nr. 35 –

Die Auseinandersetzungen in der Ersten Internationalen gründeten nicht, wie oft erzählt, auf persönlichen Feindschaften. Es ging um zentrale Fragen zur Rolle des Staates. Und um eine Geschichtstheorie, die viele nicht teilten.


Welche Relevanz hat heute ein Buch über den Konflikt zwischen Michael Bakunin und Karl Marx? Hält man die beiden gewichtigen Bände des Karin-Kramer-Verlags in den Händen, ist man zuerst skeptisch. Noch in der Phase des letzten grossen Aufbruchs, der Zeit um 1968, konnten die alten Fragen aktualisiert werden: Vollversammlung statt Parteiaufbau, Basisgruppe statt «Vorhut des Proletariats». Doch heute? Die libertäre Strömung des Sozialismus wurde doppelt und dreifach marginalisiert. Der Durchmarsch des Kapitalismus mit seiner Fabrikdisziplin hat den autonomen Facharbeiter wie den libertären Schweizer Uhrmacher des 19. Jahrhunderts an den Rand gedrängt. Faschismus und Stalinismus liquidierten die regionale Dominanz anarchistischer Strömungen – wie in Spanien 1936. Und der schillernde Neoanarchismus der 68er wird vom Neokonservativismus arrivierter und zu Macht und Einfluss gekommener Ex-68erInnen überblendet.

Man weiss: Karl Marx und Friedrich Engels waren innerhalb der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation (1864–1876) Vertreter eines doktrinären Sozialismusverständnisses, das durch Staat und Zentralismus zur Befreiung gelangen will. Wolfgang Eckhardt hat nun zwei Bände vorgelegt, die akribisch und unheimlich packend den Konflikt aus anarchistischer Sicht darstellen. Der erste Band umfasst eine bestechend genaue und informierte Darlegung des Themas durch den Herausgeber selbst, der zweite Band enthält Quellentexte. Beim Lesen stockt einem manchmal der Atem – nicht nur wegen der intriganten Manöver der beiden deutschen Sozialisten. Sondern auch, weil man sieht, dass deren Politik im Zentrum des Generalrats von etlichen Sektionen (in Italien, Spanien, Belgien, der Schweiz) rundweg abgelehnt wurde.

Grösstmöglicher Pluralismus

Die Auseinandersetzung in der Ersten Internationalen war also kein Machtkampf zwischen Bakunin und Marx, sondern eher ein Kampf von Marx und Engels und ihren Getreuen gegen einen vielstimmigen, um Selbstemanzipation bemühten Arbeiterbewegungspluralismus voller revolutionärem Impetus. Natürlich spielte Bakunin eine wichtige Rolle, zuweilen jedoch nicht die, die man vermuten könnte. Anstelle eines doktrinären Anarchismus verfocht er einen grösstmöglichen Pluralismus innerhalb der Internationalen. Nicht einmal den Atheismus wollte der Verfasser des atheistischen Pamphlets «Gott und der Staat» als Grundsatz festgehalten wissen. Regionale Selbstbestimmung war ihm wichtiger als Dogmen.

Einziger Anker seines revolutionären Glaubens ist das Bekenntnis zu den revolutionären Leidenschaften und den «gesunden Instinkten» der rebellischen Bevölkerung. Die Staatsgläubigkeit der deutschen Sozialisten, die bereits seit Jahren gegen ihn polemisierten, erzürnte Bakunin. Er vermutete um 1871, dass Marx eine heimliche patriotisch-preussische Komplizenschaft mit Otto von Bismarck eingegangen sei. Der anarchistische Dichter Erich Mühsam schuf später den bitterbösen Spottbegriff vom «Bismarxismus».

Die eigenen Fähigkeiten als Ökonom und Wissenschaftler schätzte Bakunin eher mässig ein. Der russische Anarchist zog vor Marx’ Hauptwerk «Das Kapital» von 1867 den Hut; er sah dieses Werk, das er ins Russische übersetzte, als eine ökonomisch-wissenschaftliche Schrift, die der Selbstermächtigung der Arbeiterklasse dienen würde. Doch «Das Kapital» enthält genau die problematische Geschichtstheorie von selbsttätigen objektiven Entwicklungsprozessen, die schliesslich in einer sozialen Revolution münden würden. Deshalb setzten Marx und Engels auf Bismarcks Reichseinigung, auf die Entwicklung der Produktivkräfte, auf das Verschwinden «geschichtsloser Völker».

Vernünftigkeit des Seienden

Diese Geschichtstheorie musste schliesslich auch der Vielfalt der Internationalen den Kampf ansagen. Der Ausschluss der Libertären aus der Internationalen 1872 war nur eine Frage der Zeit. Als Strategie wurde von Marx und Engels die Politik propagiert, die bereits im Kommunistischen Manifest als verbindlich festgelegt wurde: Bündnisse mit der Bourgeoisie, Bejahung des despotischen Staates aus «List der Vernunft». Marx sei von Hegels Lehre der Vernünftigkeit alles Seienden ausgegangen, erklärte Erich Mühsam die von Marx behauptete Notwendigkeit der kapitalistischen Periode.

Deshalb, so Mühsam, bejahte Marx zunächst alle Voraussetzungen des Kapitalismus, den Staat, den Zentralismus, das Autoritätsprinzip. Auch der kritische Marxist Karl Korsch wollte an solch spekulative Geschichtsmetaphysik und handgreifliche Dominanzpolitik nicht mehr glauben, Walter Benjamin und die Kritische Theorie entwarfen eine vollkommen andere Geschichtsbetrachtung anstelle der marxschen zukunftstrunkenen. Am Anfang dieser Kritik standen jedoch Bakunin und seine Leute. Das von Wolfgang Eckhardt herausgegebene Werk lässt diesen historische Gerechtigkeit widerfahren – und eröffnet auch die Möglichkeit, Geschichte gegen den Strich zu bürsten.

Und jetzt? Heutzutage werden sich Libertäre nicht mehr so unumwunden auf die Leidenschaften und «gesunden Volksinstinkte» verlassen können wie Bakunin und die slawischen und mediterranen Sektionen. Nach dem Scheitern der einen wie der anderen Revolutionstheorie herrscht also ein Patt. Eine gute Voraussetzung, jenseits der alten Gräben neu zu beginnen.

Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften 6: Konflikt mit Marx. Teil 2: Texte und Briefe ab 1871. Mit einer Einleitung von Wolfgang Eckhardt. Karin Kramer Verlag. Berlin 2011. 1240 Seiten. 110 Franken