­Stéphane Hessel: «Träumt! Behaltet eure Würde!»

Nr. 44 –

Mit dem Pamphlet «Empört euch!» inspirierte er Hunderttausende, auf die Strasse zu gehen. Der 94-jährige ehemalige Widerstandskämpfer Stéphane Hessel erzählt, wieso Utopien wichtig sind, was ihn an der Sozialdemokratie stört und warum er den Vorwurf des Antisemitismus gerne erträgt.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts trägt an diesem Tag einen dunklen Dreiteiler mit roter Krawatte. Stéphane Hessel, vor wenigen Tagen 94 Jahre alt geworden, steigt die Treppen hoch und führt uns in ein Sitzungszimmer. Eingeladen von der Gesellschaft Schweiz-Palästina, weilt er für einen Tag in Zürich, um über seine Streitschriften «Empört euch!» und «Engagiert euch!» zu sprechen. Es sind bloss zwei kleine Büchlein, die er verfasst hat, aber sie treffen den Nerv der Zeit.

Hessel lächelt verschmitzt, wenn er erzählt, klopft während des Gesprächs immer mal wieder auf den Tisch, um seinen Aussagen Nachdruck zu verleihen. Er spricht fliessend Deutsch, wenn auch manchmal etwas eigentümlich, aber es ist die Sprache einer anderen Zeit. 1925, als Stéphane Hessel sieben Jahre alt war, zog er mit seinen Eltern von Berlin nach Paris. Im Zweiten Weltkrieg schloss sich Hessel dem französischen Widerstand an, 1944 wurde er von der Gestapo verhaftet, gefoltert und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert.

«Wissen Sie», fragt er, als wir uns zu ihm an den Tisch setzen, «dass das Büchlein von einem für mich ausserordentlich wichtigen Menschen übersetzt wurde?» Der Übersetzer Michael Kogon ist der Sohn von Eugen Kogon, einem Publizisten, der 1946 das Standardwerk «Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager» veröffentlichte und Stéphane Hessel im KZ Buchenwald das Leben rettete: Dank ihm konnte Hessel die Identität eines verstorbenen Gefangenen annehmen und wurde erst ins Lager Rottleberode und später nach Dora verlegt. Als er im April 1945 mit dem Zug nach Bergen-Belsen deportiert werden sollte, gelang Hessel die Flucht.

Stéphane Hessel war Sekretär bei der Uno-Menschenrechtskommission, als 1948 die Allgemeine Menschenrechtserklärung verfasst wurde, und danach dreissig Jahre lang im diplomatischen Dienst. Hessel erzählt das alles mit der Gelassenheit des Alters. Er lächelt freundlich und sagt dann: «Also, ich höre euch zu.»

Herr Hessel, Ihr Büchlein «Empört euch!» erschien vor einem Jahr, mittlerweile ist es in dreissig Sprachen übersetzt und wurde millionenfach verkauft. Weltweit gehen Menschen auf die Strasse. Erfüllt Sie das mit Genugtuung?
Stéphane Hessel: Mit Genugtuung, aber auch mit ein wenig Furcht. Wenn ich in arabische Länder reise und die Leute mir sagen, mein Buch habe ihnen geholfen, dann bin ich natürlich sehr glücklich. Auch wenn mich Menschen auf der Strasse in Paris fragen, ob ich Stéphane Hessel sei, um Dankeschön zu sagen. Aber die Empörung kann leider auch in Gewalt umschlagen – auch wenn in meinem Büchlein steht, dass der richtige Weg gewaltlos ist.

Ihr Buch wurde kürzlich in den USA herausgegeben – gerade als die Bewegung «Occupy Wall Street» ihren Anfang nahm.
Ja, es ist mit dem Titel «Time for Outrage» erschienen – Zeit für Empörung. Es ist ein sehr hübsches rotes Büchlein, das von einem kleinen Verlag herausgegeben worden ist. Fast zur selben Zeit kam «Occupy Wall Street». Die Gefahr besteht, dass man mich als Auslöser für alle Proteste sieht, die sich nun auf der Welt formieren. Doch es ist ein reiner Zufall, dass das Büchlein zu dieser Zeit herausgekommen ist. Einer Zeit allerdings, in der es gute Gründe gibt, sich zu empören.

Gab es ein bestimmtes Ereignis, das Sie zum Schreiben Ihres Büchleins bewogen hat?
Eine Sitzung mit zwei Kameraden aus dem Widerstand auf dem Plateau des Glières, das ist in der Gegend von Genf, nahe der Schweiz. Wir standen da vor 3000 Zuhörern und haben gesagt: So geht es nicht weiter. Wir dachten dabei an den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und an sein Misstrauen den Werten gegenüber, die aus dem Widerstand entstanden sind, nicht wahr. Da hörte auch Silvie Grossmann zu, eine wunderbare Frau, die Verlegerin von Indigène. Sie kam zu mir und sagte: «Was Sie da gesagt haben, ist wichtig. Wir wollen daraus ein Büchlein machen.» Ich sagte: «Gut, warum nicht?»

Es wurde kurz vor dem arabischen Frühling publiziert …
Es war ein Zufall, dass das Büchlein ein paar Wochen vor dem arabischen Frühling erschien. Na ja, der arabische Frühling hat andere Ursprünge als mein Büchlein: Die Tyrannen, Mubarak, Ben Ali, Gaddafi oder Baschar al-Assad – dagegen musste man sich empören. Die Slogans des arabischen Frühlings waren sehr nah an jenen meines Büchleins. Und in Tunesien hielten die Revolutionäre «Indignez-vous!» in der Hand und sagten: «Das ist es, was wir wollen!» Der Gedanke meines Büchleins breitete sich aus. Er galt nicht mehr nur für Frankreich, sondern für alle möglichen Länder. Die Empörung richtet sich nun gegen die heutige Weltordnung und gegen die Übermacht der Finanzinstitutionen – und gegen das Unverständnis für die ökologischen Probleme. Das sind die Motive für die Empörung – und zwar in allen Ländern. Das bedeutet auch, dass die wichtigsten Probleme dieser Welt nicht mehr von den einzelnen Nationen angegangen werden können. Wir müssen versuchen, alle zusammen etwas zu verändern. Es braucht eine neue Weltordnung.

Sie sind 1917 geboren …
… ich bin 94, ja, seit ein paar Tagen bin ich 94.

Sie haben in der Résistance gekämpft, überlebten drei Konzentrationslager und waren dreissig Jahre Diplomat. Warum empören Sie sich gerade jetzt, in diesem hohen Alter?
Ich glaube, dass seit rund zehn Jahren grosse Probleme vor uns stehen – seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Einsturz der Türme, seit der Regierung von George Bush. Wir leben in einer Welt, in der die Finanzmächte immer grösser werden und sich die Regierungen abgemeldet haben. Nicht mehr wir haben die Sache in der Hand, die Wirtschaftsmächte haben das letzte Wort. Man sagt, wir hätten uns verschuldet, also müsse man nun vorsichtig sein und den Märkten möglichst viel Freiheit geben. Die Welt folgt der neoliberalen Ideologie von Milton Friedman und seinen Chicago Boys. Diese Ideologie verbreitet sich seit Mitte der siebziger Jahre, doch derart mächtig ist sie erst in den letzten zehn Jahren geworden.

Nachdem Sie im 20. Jahrhundert den Aufbau der Demokratien erlebten, erfahren Sie nun deren Zerstörung durch die Übermacht der Konzerne?
Zumindest erlebe ich den Rückzug der Ideale und Werte, die wir damals, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, als notwendig erachteten. Für einen Menschen wie mich, der damals dreissig Jahre alt war, bedeuteten diese Ideale eine grosse Hoffnung. Wir wussten, dass es Jahre in Anspruch nehmen würde, sie zu verwirklichen: die Dekolonisierung, die Verbreitung der Demokratie, die weltweite Garantie der Menschenrechte. Nach dem Weltkrieg ging es dann tatsächlich in die richtige Richtung. Alle zwei, drei Jahre erreichte man etwas Neues, und wir sagten uns: «Vorwärts, nochmals vorwärts, vorwärts.» Und nun, seit einigen Jahren, geht es wieder rückwärts. Diese Werte müssen nun wieder verteidigt werden. Heute soll man sich indignieren, empören; man soll seine Dignité, sein Würde, behalten und sagen, dass diese Werte heute noch sehr wichtig sind.

Ist Ihre Kritik eigentlich eine Kritik am kapitalistischen System? Sie scheinen den Begriff zu vermeiden.
Ich gehöre zur französischen Linken, und ich glaube, dass der Kapitalismus gefährlich ist. Karl Marx hat in seiner Kritik ganz recht. Es ist dafür zu sorgen, dass der Kapitalismus nicht wild wird. In meinem Büchlein warne ich vor dem Feudalismus der Finanz – genau das ist doch der Kapitalismus, was denn sonst? Der wild gewordene Kapitalismus ist eine der grössten Gefahren, die vor uns stehen.

Im 20. Jahrhundert gab es ein real existierendes Gegenmodell zum Kapitalismus. Aber es scheiterte kläglich als autoritärer Sowjetkommunismus. Hat diese historische Erfahrung jegliche Utopie als totalitär diskreditiert?
Die Geschichte hat uns tatsächlich gelehrt, dass auch wunderschöne Utopien in Totalitarismus umschlagen können. Das bedeutet aber nicht, dass wir Karl Marx zur Seite schieben sollten. Wir müssen ihn lesen und verstehen, wo er recht hat.

Eine linke, progressive Politik setzt bei der Frage an: Was heisst Demokratie? Der Demos ist der nichtprivilegierte Teil der Gesellschaft. Und Demokratie heisst, sich für diesen Teil der Gesellschaft einzusetzen. Heute leiden wir unter einer Oligarchie – einer Herrschaft der wenigen, die zu ihrem eigenen Vorteil regieren. Wenn die Protestierenden an der Wall Street sagen, sie seien die 99 Prozent, dann verweisen sie auf das eine Prozent, das Jachten besitzt und seine Freizeit auf Golfplätzen verbringt. Die Protestierenden wollen keine Oligarchie, sondern Demokratie.

Keine Demokratie wird so wunderbar sein, wie es sich die Kommunisten in ihrem grossen Enthusiasmus einmal vorgestellt hatten. Doch wir können dafür arbeiten, dass die Welt demokratischer wird. Und wir haben schon Fortschritte gemacht: Frauen waren jahrhundertelang unterprivilegierte Figuren – heute sind sie es zumindest weniger. Die armen Länder Zentralafrikas sind etwas weniger unterprivilegiert als noch vor fünfzig Jahren – auch wenn sie es natürlich auch heute noch sind.

In der spanischen Bewegung der Empörten fiel uns folgender Satz auf: «Wenn ihr uns nicht träumen lässt, lassen wir euch nicht schlafen» …
Shakespeare hat einmal geschrieben: «We failed because we didn’t start with a dream» – wir scheiterten, weil wir nicht mit einem Traum begannen. Ohne Traum kann man nicht vorwärtskommen. Das Träumen ist eine Notwendigkeit der Menschheit. Diese Träume haben uns dorthin gebracht, wo wir sind. Europa etwa war der Traum meiner Generation nach dem Zweiten Weltkrieg. Gott sei Dank hatten wir diesen Traum. Er war ziemlich utopisch, und er ist noch nicht vollkommen verwirklicht. Aber er hat uns geholfen, vorwärtszukommen.

Und doch gab es kaum je eine Zeit, in der man so wenig an Utopien glaubte. Heute gelten jene als glaubwürdig, die sagen, sie seien pragmatisch.
Es ist sinnlos, nur pragmatisch zu sein. Pragmatismus führt zu keiner echten Veränderung. Vor dreissig Jahren war es noch verständlicher, wenn jemand sagte, wir könnten weitermachen wie bisher. Doch heute fahren wir direkt auf eine Mauer zu. Ich spreche allerdings lieber von Visionen als von Utopien, aber diese sind heute notwendiger denn je. Wir brauchen Vorstellungen über eine mögliche Zukunft. Eine Zukunft, die ganz anders aussieht als die Gegenwart.

Bei den Schweizer Parlamentswahlen vor zwei Wochen wurden jene Parteien gestärkt, die den Pragmatismus zelebrieren und die Vergangenheit in die Zukunft fortsetzen wollen. Leute mit Visionen sind eine Minderheit.
Es waren aber immer Minderheiten, die die Weltgeschichte vorwärtsgetrieben haben. Leute wie Galileo Galilei, der sich gegen die mächtige Kirche wandte, Michail Gorbatschow in der Sowjetunion, auch die Résistance war eine kleine Minderheit. Irgendwann werden diese Minderheiten Schritt für Schritt zur Vorhut von etwas Neuem. Auch wenn heute junge Menschen in Zürich auf die Strassen gehen und sich empören, dann sind sie eine kleine Minderheit. Doch sie sagen Dinge, die der Schweiz den Weg in die Zukunft weisen könnten. Man muss den Minderheiten zuhören.

Der Occupy-Protestbewegung wird immer wieder vorgeworfen, sie hätte keine klaren Forderungen. Finden Sie den Vorwurf richtig?
Er ist vollkommen gerechtfertigt. Man kann sich nicht nur empören und keine Vorschläge machen, wie es besser wäre.

Der Philosoph Slavoj Zizek warnte kürzlich davor, Forderungen zu stellen, weil sie sogleich wieder zerpflückt werden können. Er sagt: «Dieses Schweigen ist unser ‹Terror› – bedrohlich und gefährlich, ganz so, wie es sein muss.»
Na ja, das ist aber auch ein bisschen gefährlich. Abstrakt zu sein, ist eine Gefahr. Wissen Sie, wenn man so ein langes Leben hat wie ich, dann sagt man sich: Ich habe zwar viel geredet, aber was ist mir gelungen? Man möchte, dass man nicht nur geredet hat, sondern dass daraus auch etwas entstanden ist, etwas Konkretes.

Was raten Sie der Occupy-Bewegung?
Macht gewaltlos vorwärts – und mit den existierenden Mitteln. Geht durch die Parteien, werdet Bürger, werdet Wähler. Steht nicht ausserhalb. Die einzige Gefahr, die ich in diesen Bewegungen, die mir sehr sympathisch sind, sehe, ist, dass sie sich verausgaben, dass sie müde werden – und dass am Ende nichts passiert. Man muss sie dazu bringen, dass sie die richtigen Wege finden, Einfluss auszuüben. Bei den letzten Wahlen in der Schweiz ist es ja schon in die richtige Richtung gegangen, da war doch schon ein bisschen weniger Blocher, nicht? Aber mir wäre es lieb, wenn die Jungen noch mehr in die Parteien gehen würden, die sich eben gegen diese populistische Art wehren.

In Ihrem Büchlein berufen Sie sich immer wieder auf General Charles de Gaulle, der die Résistance anführte. Gelten heute die Ideen alter, staatstragender Konservativer bereits wieder als links?
Vorsicht: De Gaulle war für mich ein notwendiger Held, der Frankreichs Ehre rettete. Doch er war auf keine Weise ein sozialer Visionär. Das Programm des nationalen Widerstandsrats war gerade ein Versuch, de Gaulle zu sagen: Das ist das Frankreich, das wir wollen. De Gaulle stand diesen Forderungen offen gegenüber, aber er blieb nach dem Krieg ja nur noch ein Jahr am Steuer – Präsident wurde er erst viel später. Dann entstand die Vierte Republik. Und diese war ein Wohlfahrtsstaat. Die Ideologie der Sozialdemokratie hat es auch in der Schweiz gegeben, in der deutschen Bundesrepublik und zu einem gewissen Grad auch in Frankreich und in Italien. Heute existiert sie nicht mehr.

Wie meinen Sie das?
Das ist der Grund, warum ich das Büchlein «Empört euch!» geschrieben habe: Die Sozialdemokratie existiert nicht mehr – oder zumindest nicht mehr in der Art, wie man es sich wünschen könnte. Das ist doch offensichtlich.

Ist das auch eine Kritik an der Sozialdemokratie in Europa? An der Entwicklung, in der sie in England mit Tony Blairs New Labour oder in Deutschland mit Gerhard Schröder nach rechts rutschte?
Genau, das Rutschen. Dagegen soll man sich empören. Es braucht keine Revolution. Man soll sich ohne Gewalt empören, demokratisch empören. Und auch mit Wahlen andere Menschen ans Steuer bringen.

Sie sind ein sehr internationaler Mensch. Sie sagten einmal in einem Interview, Sie seien früher Patriot gewesen, heute müsse man Weltbürger sein. Was heisst das?
Weltbürger zu sein, heisst vor allem einzusehen, dass es heute keine Frage mehr gibt, die nicht eine Weltfrage ist: Wir müssen natürlich vieles lokal lösen – es braucht ja auch in Zürich eine gute Verwaltung –, aber wenn wir wirklich weiterkommen wollen mit den grundsätzlichen Fragen, mit den grundsätzlichen Gefahren auch, dann können wir das nur auf Weltebene regeln. Wir brauchen eine Weltgouvernanz.

Da hat die junge Generation, Ihre Generation und noch Jüngere, einen grossen Vorteil gegenüber meiner: Als ich jung war, hatten wir gerade mal das Telefon, wir hatten Schwierigkeiten mit der Post, Fernsehen gab es noch nicht – heutzutage hat die junge Generation enorme Möglichkeiten, sich mit anderen Leuten weltweit zusammenzuschliessen und zu verständigen.

Stehen wir nicht vor dem grundsätzlichen Problem, dass es global keine Demokratie gibt – und selbst Europa es nicht geschafft hat, eine richtige Demokratie aufzubauen?
Der Unterschied zwischen dem Stand Europas, als ich noch jung war, und dem Stand heute ist enorm. Da darf man nicht ungerecht sein. Das sind die zwei vielleicht wichtigsten Sachen, die meine Generation geleistet hat: zum einen die Entkolonialisierung. Heute gibt es keine Kolonien mehr, sondern 194 Völker, die eigene Staaten haben. Noch nicht sehr gute Staaten, aber immerhin. Und zweitens: Es gibt ein vereintes Europa, zwar sehr imperfekt …

… ohne die Schweiz.
Die Schweiz ist Teil dieses Europas. Sie ist ja auch im Europarat. In der Union ist sie zwar noch nicht, aber das kommt auch noch.

Heute haben wir höchstens eine Weltregierung der Eliten, die sich in der Uno oder in der EU treffen. Aber die Menschen sind nicht Teil dieser Regierung. Sehen Sie da kein Demokratiedefizit?
Ja, das stimmt. Zum Beispiel besteht das Problem, dass das EU-Parlament, das ja immerhin von den Bürgern demokratisch gewählt wird, nicht genügend Macht gegenüber den Staatseliten hat. Und die Staaten wiederum haben zu wenig Macht gegenüber der Wirtschaft. Das Aufkommen der Demokratie würde bedeuten, dass die Menschen wirklich Weltbürger wählen würden. Und nicht nur das: Sie müssten auch weiter mit ihnen arbeiten und ihre Bedürfnisse vertreten und vorwärtsbringen. Es ist im Prinzip sehr einfach: Wir brauchen mehr Demokratie, als wir jetzt haben.

Sie schreiben, Ihre persönliche Empörung gelte den Palästinensern, die unter Israels Besatzung leiden. Weshalb?
Einerseits interessiert mich als Jude das, was in Israel passiert, mehr als das, was in Guatemala, in Honduras oder im Sudan geschieht. In den letzten Jahren war ich ungefähr siebenmal in Israel und in Palästina. Da sah ich einfach viel, was mich empört. Es ist also ein ganz persönlicher, einfacher Grund. Andererseits ist es auch wahr, dass eine Lösung dieses Konflikts enorme politische Auswirkungen haben würde. Der Konflikt hat schon eine spezielle historische Wichtigkeit. Man kann mir vorwerfen, dass ich es übertreibe. Man kann mir sagen: Warum empören Sie sich nicht über Tschetschenien und Nordkorea? Aber Palästina ist ein Teil meiner Biografie. Darum empört es mich ganz besonders.

Andere französische Intellektuelle, etwa Bernard Henri-Lévy, verteidigen Israel mehr oder weniger bedingungslos. Können Sie das verstehen?
Lévy ist nicht so schlimm wie zum Beispiel Alain Finkielkraut. Diese Leute sagen, die Israelis müssten sich halt so benehmen, wie sie das tun, weil sie sonst umkommen würden. Das ist eine ganz falsche Haltung. Ich sage im Gegenteil: Wenn sich die israelischen Regierungen weiter so dumm benehmen, wie sie es seit ungefähr zwanzig Jahren tun, dann wird es Israel schlecht gehen. Und das will ich auf keinen Fall. Ich wünsche mir vielmehr, dass Israel ein starkes Land im Nahen Osten bleibt. Und das kann es nur dann, wenn es mit seinen palästinensischen Nachbarn Frieden schliesst. Wer weiss schon, wie lange die Umgebung von Israel militärisch so schwach ist, dass Israel keine Angst zu haben braucht.

Es ist eine ganz falsche Politik, die Israel dazu bringt, weiter ein Land zu besetzen und zu kolonialisieren, das seine Freiheit ebenso braucht wie jedes andere Volk der Welt. Das steht ja auch in der Charta der Uno geschrieben: Ein Volk braucht einen Staat. Und wenn jetzt Mahmud Abbas nach New York kommt und sagt: Ich will meinen Staat, so macht er genau das, was jedes Volk tun kann. Der Südsudan hat es gemacht – und hat sofort einen Staat bekommen. Warum sollte Palästina das nicht?

Misst man den israelisch-palästinensischen Konflikt am Völkerrecht, ist die Lage klar: Ein Land besetzt seit vierzig Jahren ein Gebiet, das es Schritt für Schritt annektiert. Weshalb ist die Frage trotzdem so umstritten?
Die Feigheit Israel gegenüber ist geschichtlich verständlich. Man hat die Juden jahrhundertelang schlecht behandelt. Auch wenn es nicht immer so schlimm war wie in der Schoah. Aber jahrhundertelang war es so, dass die Juden eine verfolgte Minderheit waren mit allerlei Ghettos und anderem … Daher hat die Welt ein schlechtes Gewissen den Juden gegenüber. Und wenn sie jetzt einen Staat haben, hat man wenig Lust zu sagen: Hier übertretet ihr das Recht, das dürft ihr nicht. Wobei: Man sagt es ihnen ja sogar. Es steht in den Resolutionen des Uno-Sicherheitsrats, es steht in der ersten Rede von US-Präsident Obama – man sagt es ihnen immerhin. Aber man tut nichts! Man übt keinen wirklichen Druck auf Israel aus, weil man Angst hat, Antisemit zu heissen. Und das ist das Schrecklichste, was einem geschehen kann. Das passiert mir immer wieder, aber ich ertrage es gern.

Sie gelten als Antisemit?
Natürlich. Wenn man mein Buch liest, dann sagt man sich doch: Der ist ein Antisemit. Denn ich sage darin ja, Israel tue etwas Schlechtes. Und was im Gazakrieg geschehen ist, das war ein Kriegsverbrechen. Wenn man also sagt, Israel hat ein Kriegsverbrechen begangen, sagt niemand: Der hat recht. Sondern man sagt: Der ist ein Antisemit.

Obwohl Sie selbst jüdischer Herkunft sind?
Ja, zumindest halb. Mein Vater war Jude, wenn auch kein wirklich guter. Ich hatte keine jüdische Erziehung. Aber Juden sind mir sehr lieb. Ich würde gern ein Israel haben, auf das ich stolz sein könnte. Doch das kann ich heute leider nicht.

Hat Europa aus der Geschichte die Verantwortung, Israel bedingungslos zu stützen?
Aus der Geschichte heraus hat man wohl die Verpflichtung, Israel ernst zu nehmen und zu sagen: Ja, wir sind daran schuld, dass es einen Staat geben musste. Wenn es eine arabische Armee gäbe, die Israel bedrohen würde, so würden ganz natürlicherweise Europa und andere Freunde Israels sagen: Wir unterstützen eure Sicherheit. Wenn Israel aber die ganzen Regeln des internationalen Rechts verletzt, dann müssten wir mit derselben Stärke der israelischen Regierung sagen: Das dürft ihr nicht. Denn das tun wir mit allen Ländern, die Menschenrechte verletzen. Warum tun wir es nicht mit Israel?

Stéphane Hessel (94) lebt in Paris. Zuletzt von ihm erschienen: 
«Empört euch!» und «Engagiert euch! Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten». Beide aus dem Französischen übersetzt von Michael Kogon. Ullstein Verlag. Berlin 2011. 29 respektive 60 Seiten. Je Fr. 6.50.