Durch den Monat mit Flurina Marugg (Teil 3): Sie diskutieren lieber im Kreis herum, bis Sie tot umfallen?

Nr. 46 –

Wegen eines Zahnarzttermins kam Flurina Marugg erst auf dem Lindenhof an, als der gewaltlose Widerstand schon gebrochen war. Während des Gesprächs räumen Mitarbeiter der Stadt Zürich die Tipis auf dem Lindenhof ab. Wie es weitergeht, ist unklar.

Flurina Marugg: «Ich habe ein wenig Angst, dass wir zu einer starren Institution werden, weil das mit allen Bewegungen irgendwann passiert ist.»

WOZ: Die Räumung des Lindenhofs war beschlossen worden. Hegten Sie Hoffnungen, nachdem sie Sonntagnacht und Montag nicht erfolgte?
Flurina Marugg: Der Einsatz hat uns überrascht. Jetzt ist es wenigstens vorbei. Das ist ja das Problem des gewaltlosen Widerstands: Du kannst damit nicht gegen Gewalt gewinnen, sondern höchstens ein Zeichen setzen. Oh, jetzt werfen sie aber nicht das Schwein in den Abfall? (Sie steht auf, begibt sich zum Entsorgungskommando der Stadt und kann es gerade noch davon abhalten, das selbst gebastelte Occupy-Schwein abzuführen.)

Es hat keinen Hintern mehr.
Ja, der ist schon im Abfall, aber den kann man wieder montieren. Moment, ich muss noch meine Boni in Sicherheit bringen. (Sie kommt mit in Goldpapier gewickelten oder mit Noten bedruckten Kartonschachteln zurück.)

Kritiker monieren, dass die Bewegung zugrunde geht, weil sie keine konkreten Forderungen hat. Aber es gäbe doch Forderungen, die den Idealen der Bewegung entsprächen und auch Chancen haben. Eine Steuer auf Finanztransaktionen zum Beispiel.
Klare Forderungen können bei Bedarf von Einzelpersonen aufgenommen werden, doch die Bewegung würde sich damit einen zu grossen Stempel aufdrücken. Eine Finanztransaktionssteuer fände ich schon gut, aber in unseren Augen ist das Problem grösser, und es kann nicht die Lösung sein, wenn man einfach überall Pflästerli draufklebt.

Sie diskutieren lieber im Kreis herum, bis Sie tot umfallen?
Ich erkenne das Problem. Es wäre sinnvoll, die Forderungen und Aktionen im Kleinen zu koordinieren, ohne das Grosse aus den Augen zu verlieren. Ich habe einfach ein wenig Angst, dass wir zu einer starren Institution werden, weil das mit allen Bewegungen irgendwann passiert ist.

Jetzt stellen Sie das Camp vor der Offenen Kirche am Stauffacher auf, mit Erlaubnis. Das hat nicht mehr viel mit «occupy», mit der Besetzung des öffentlichen Raums, zu tun …
Ich fände es natürlich schöner, wenn wir die Kreativität und die Ressourcen hätten, spontan etwas auf die Beine zu stellen, das freier, radikaler und unabhängiger wäre, als auf dem Kirchenareal zu campieren. Aber man muss es auch praktisch betrachten. Wir haben halt nichts gefunden, es ist eine Notlösung.

Die Bewegung – oder was davon übrig ist – nimmt dankbar die Brosamen, die ihr jemand aus lauter Gutmütigkeit hinwirft?
Ja, schon irgendwie. Ich gebe wohl ein schlechtes Bild der Bewegung ab, ich bin ziemlich desillusioniert im Moment.

Was werden Sie tun?
Ich habe keine Lust, ins normale Leben zurückzukehren und als isoliertes Atom herumzuirren. In der Freizeit ein bisschen Politik und ein alternativer Freundeskreis, das ist mir zu wenig. Der Lindenhof war die Idee einer Gemeinschaft, die funktionierte. Jetzt ist sie weg, und es braucht Zeit, bis sich etwas Neues entwickelt.

Was zum Beispiel?
Ich fände es spannend, auf dem Land eine Kommune zu bilden, welche die Bewegung mit Nahrung versorgt, während die Leute in der Stadt die politischen Aktionen organisieren. So ist es auch einfacher, die Frage zu beantworten, wie wir uns eine alternative Gesellschaft denn konkret vorstellen. Dann können wir sagen: Schaut her, wir leben sie in der Praxis.

Das klingt sehr nach innen gekehrt. Ist das nicht das Gegenteil einer Bewegung, die sich gerade durch ihre Öffentlichkeit charakterisierte?
Nicht nur. Nehmen wir all die gemeinschaftlichen Urban-Gardening-Projekte oder Gemüsekooperationen, die sich eines regen Zulaufs erfreuen. Da kommen stets neue Leute, die sich für diese Modelle interessieren. Ich habe mit vielen jungen Leuten gesprochen, die sagten, dass sie gerne eine Welt hätten, die ihnen verständlich sei. Eine Kommune schafft Strukturen, macht Abläufe verständlich. Da steht man vielleicht mal einen ganzen Tag gebückt im Feld und jätet, aber am Ende hat man etwas Sinnvolles gemacht.

Gemüse pflanzen ist schön und gut – aber worin bestünde die politische Arbeit?
Das Zusammenleben im Camp war für mich nie der Inbegriff politischer Tätigkeit. Da muss mehr sein. Flyer verteilen, Flashmobs, Wände tapezieren, Werbeflächen zurückerobern, Diskussionen anzetteln, Gemeinderatsversammlungen stürmen – die ganze Bandbreite eben. Eine Stadtguerilla, nicht extrem gewalttätig, aber schon so, dass es nervt. Wir sollten beständig für kurze Momente des Unbehagens sorgen, die die Leute zwingen, innezuhalten und nachzudenken. Wenn man sich so klein fühlt, dass man glaubt, nichts mehr bewirken zu können, sollte man sich daran erinnern, wie es ist, sich mit einer surrenden Stechmücke im selben Raum zu befinden. Wir sollten die Stechmücke für die Stadt sein.

Was, wenn sich die Stadt, die Bevölkerung daran gewöhnt?
Ich gewöhne mich eigentlich nie an Stechmücken, Sie schon?

Flurina Marugg (22) ist an der Goldküste aufgewachsen und hat in Neuseeland bereits Kommunenerfahrung gesammelt. Die Konsumwelt, in der wir uns bewegen, hält sie 
für eine äusserst unattraktive Lebensform.