Frankreich: Nur kein «Schock der Enttäuschungen»

Nr. 10 –

François Hollande will seinen Präsidentschaftswahlkampf mit einer Prise Klassenkampf ankurbeln. Die Gewerkschaften lassen ihn dabei im Stich.

Auch so kann man sich für eine wichtige Wahl empfehlen: «Ich bin nicht gefährlich», verkündete François Hollande letzte Woche in London demonstrativ vor Mikrofonen und Kameras. Ungefährlich will der aussichtsreiche sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat vor allem für die KapitalvertreterInnen sein. Darunter auch die Finanzbranche, die in London eine ihrer internationalen Hochburgen hat.

Harmlos für das transnational aktive Kapital ist selbst Hollandes bisher überraschendster Coup: Kurz vor seiner Abreise nach London verkündete er, dass er bei den höchsten Einkommen einen neuen Spitzensteuersatz von 75 Prozent einführen wolle. Das klingt zwar fast schon klassenkämpferisch. Doch der Satz würde erst ab einem individuell versteuerten Jahreseinkommen von einer Million Euro greifen. Dies beträfe in Frankreich maximal 30 000  Personen, gemäss manchen Quellen gar nur 7000. Und auch bei diesen Personen würden die Beträge unter einer Million Euro zu weitaus tieferen Sätzen besteuert.

Hollandes aufsehenerregende Ankündigung hätte deshalb kaum reale Auswirkungen, sollte er Anfang Mai gewählt werden. KapitaleigentümerInnen und Grossverdienende sind auch erfahren genug und bestens beraten, sodass sie die Einkünfte verstecken oder aber die zahlreichen Abschreibungsmöglichkeiten nutzen würden.

Hingegen erhofft sich Hollande durch die spektakuläre Ankündigung eine Ankurbelung seines Wahlkampfs. Dieser erlahmte in den letzten Wochen sichtlich, als sein Widersacher, der amtierende Präsident Nicolas Sarkozy, die Aufmerksamkeit wieder auf sich zog.

Hoffnungslose Kandidaten

Der Coup sollte auch andere programmatische Leitsätze überdecken, die Hollande kurz davor verkündet hatte. Insbesondere im linken Lager kam Hollandes Ankündigung schlecht an, dass er die Anfang 2009 durch Präsident Sarkozy beschlossene Rückkehr Frankreichs ins Militärkommando der Nato nicht rückgängig machen würde.

In der Bevölkerung weckt François Hollande keine grossen Hoffnungen auf positive soziale Veränderungen. Laut einer jüngsten Umfrage des Instituts Ipsos erhoffen sich zwar 34 Prozent der Befragten im Fall einer Wahl Hollandes eine Verbesserung ihrer Lebens verhältnisse, doch 37 Prozent befürchten eine Verschlechterung. Sarkozy schneidet allerdings noch schlechter ab: Durch seine Wiederwahl erwarten nur 20 Prozent der Befragten bessere Lebensverhältnisse – fast die Hälfte hingegen eine Verschlechterung. Diese Resultate widerspiegeln wohl zu einem grossen Teil den allgemeinen Pessimismus im Zuge der Wirtschaftskrise.

Zersplitterte Gewerkschaften

Auch auf die Gewerkschaften kann sich Hollande kaum verlassen. Seit ihrer schweren Niederlage im Kampf um die Rentenreform vom Herbst 2010 haben sie kaum noch eine grössere Mobilisierung zustande gebracht. Am 29. Februar demonstrierten die Gewerkschaften «gegen die Sparpolitik» und die Abwälzung der Krisenlasten auf die Lohnabhängigen. Doch selbst ein so grosses Thema brachte nur wenige Leute auf die Strassen: gemäss amtlichen Schätzungen in ganz Frankreich gerade mal 48 000, davon etwa 8000 in Paris. Solch ein geringes Mobilisierungsvermögen gab es in der französischen Geschichte selten.

Weder für das Mobilisierungspotenzial noch für den Wahlkampf hilft es, dass die Gewerkschaftsverbände untereinander zerstritten sind. Die zweit- und drittstärksten Dachverbände – die einst sozialdemokratische CFDT und die eher populistische Force Ouvrière – erhoben vor kurzem öffentlich Vorwürfe gegen die grösste Gewerkschaft: Die «postkommunistische» CGT verletze mit ihrer unverblümten Unterstützung Hollandes das Prinzip «parteipolitischer Neutralität».

Zwar wünschen sich fast alle Gewerkschaften eine Ablösung der jetzigen Regierung. Und Beschlüsse wie die kürzliche Mehrwertsteuererhöhung – sie wurde Ende Januar von Sarkozy im Fernsehen angekündigt und einen Monat später im Parlament verabschiedet – sind auch bei ihnen unbeliebt. Doch an einem gemeinsamen Strick ziehen die Gewerkschaften nicht.

Vor diesem Hintergrund kann Hollande nur wenig Enthusiasmus für seine Kandidatur entfachen. Vielleicht fährt der Parti Socialiste besser, wenn sein Kandidat einfach als das «kleinere Übel» und somit ohne Erwartungen gewählt wird. Denn einen «Schock der Enttäuschungen» wie in den ersten Jahren von François Mitterrands Präsidentschaft will die Partei sicherlich vermeiden: Damals fühlten sich viele linke SympathisantInnen vor den Kopf gestossen. Und genau in dieser Zeit, ab 1983, begann der Aufstieg der extremen Rechten, der sich unter anderem aus dieser Enttäuschung nährte.