Gedichte? Ja!: Die Welt ist überschaubar

Nr. 19 –

Ein Lyrikvermittler darüber, warum er lieber auf ein weisses Blatt Papier mit ein paar Wörtern schaut, als einen Roman wegzulesen.

Matthias Claudius: «Die Liebe»; ausgewählt von Urs Engeler, gestanzt, geklebt und fotografisch inszeniert von Ursula Häne. Aus: «Der Mond ist aufgegangen. Gedichte und Prosa von Matthias Claudius». Insel Verlag. Berlin 2009.

«Gedichte? Nein …»: So beginnt ein Aufsatz von Durs Grünbein in der «Schweizer Korrektur», einer «Partitur zur Poetik der Gegenwart» aus dem Jahr 1995, mit Texten von Grünbein, Brigitte Oleschinski und Peter Waterhouse – das erste Buch, das ich herausgegeben habe.

Gedichte? Nein, nicht weil ich ein Leser bin. Weil ich kein Leser bin. Wie man mit Spannung 500 Seiten Roman weglesen kann, ist mir immer unverständlich geblieben. Nach zwanzig Seiten lege ich die Schmöker weg und schaue zu meiner Geliebten, in den Garten, in den Kühlschrank oder in einen Gedichtband, in eine Zeitschrift.

Es gibt ja so viele davon! «Schreibheft», «Sprache im technischen Zeitalter», «Sinn und Form», «Manuskripte», «Akzente», «Bella triste», «Edit», «La Liesette littéraire». Gedichte? Ja, einen Moment lang, dreissig Sekunden, ein paar Zeilen, viel Weiss – und mit nichts war ich länger beschäftigt, nichts hat mich stärker umgetrieben, nichts stärker mein Leben bestimmt.

Gedichte? Nein, ich hatte keine Wahl. Mittlerweile akzeptiere ich, dass andere auch keine haben und keine Gedichte lesen. Ich habe keine Mission mehr. Die Welt ist überschaubar: Entweder man liest Gedichte, oder man lässt es sein. Deshalb brauche ich mich, als Verleger, nicht mehr zu kümmern um die, die nicht. Ich weiss, dass «die, die» sich unweigerlich einfinden, wenn es gute Gedichte zu lesen gibt.

Gedichte? Ja, wir sind wenige. Nein, wir leiden nicht darunter. Wir haben so viel: «Sic!», «kolik», «Krachkultur» und «Der Poet», die Editionen Rugerup, Qwertzuiopü und Schock Edition Fünf mal zwölf Gedichte, Engstler, Keicher und Klever, Kookbooks, Luxbooks und Roughbooks, «Lyrikwelt», «Planet Lyrik» und «Fixpoetry», die «Karawa.net», «Lyrikkritik» und «Lyrikline», das System «Brüterich» und die «Lyrikzeitung & Poetry News». Wir haben das Lyrik-Kabinett, die Literaturwerkstatt, das Kreuzwort und die Liedertafel der Sing-Akademie zu Berlin.

Gedichte? Ja, wir haben Sappho, die Dickinson, H. D., Mayröcker, Erb, Köhler, Rinck und Wolf, das Wessobrunner Gebet, die Merseburger Zaubersprüche und den Lorscher Bienensegen, den von Kürenberg, die von Magdeburg und den von der Vogelweide, Hoffmann von Hoffmannswaldau, von Haller und von Droste-Hülshoff, Günther, Klopstock, Claudius, Goethe, Hölderlin und Eichendorff, Mörike, Rilke, Rimbaud, Baudelaire und George, Kästner, Benn und Brecht, Celan, Artmann, Pastior und Rosenlöcher, Stolterfoht, Donhauser und Waterhouse.

Gedichte? Ja, wir haben Gegenwart. Wir haben Kerstin Preiwuss, Johanna Schwedes, Daniela Seel, wir haben Christian Filips, Bertram Reinecke, Michael Fiedler und Konstantin Ames.

Gedichte? Ja, wir haben Zukunft.

Urs Engeler war Herausgeber der Lyrikzeitschrift «Zwischen den Zeilen» und Verleger von Urs Engeler Editor. Heute bietet er Gedichtbände via Internet im Direktvertrieb an: www.roughbooks.ch.