Sans-Papiers: «Wir haben schon sechs Grenzen überschritten»

Nr. 26 –

Am Samstag nahmen 5000 Personen in Bern an einer Demonstration gegen die Migrationspolitik teil, und der europäische Marsch der Sans-Papiers machte auf dem Bundesplatz halt. Die WOZ dokumentiert die Rede des französischen Sans-Papiers-Sprechers Anzoumane Sissoko.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

mein Name ist Anzoumane Sissoko, ich bin einer der Sprecher der internationalen Koalition von Sans-Papiers und Migranten, die heute auf ihrem Marsch durch Europa in Bern angekommen ist. Diese Koalition setzt sich aus Leuten zusammen, die aus der Schweiz, aus Deutschland, Italien, Belgien und Frankreich kommen. Ich bin einer ihrer französischen Sprecher.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, die Grenze existiert für uns lediglich auf dem Papier. Es gibt in Wirklichkeit keine Grenze, liebe Kameradinnen und Kameraden. Für die, die Angst haben, mit uns zu marschieren, die Angst haben, mit uns die Grenze zu überschreiten: Es ist geschafft, die Grenzen liegen darnieder. Selbst die Schweiz hat ihre Grenzen geöffnet.

Warum dieser Marsch durch Europa? Ihr wisst besser als ich, dass die Einreise und der Verbleib der Migranten heute auf europäischer Ebene geregelt sind. Aber jedes Land handhabt die Immigration nach Gutdünken.

Deshalb haben wir uns gesagt, man müsse einen Marsch auf europäischem Niveau machen, diesen Widerspruch von einem Land ins nächste tragen, in Strassburg ankommen und Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit für alle sowie die generelle Regularisierung aller europäischen Sans-Papiers einfordern.

Die europäische Migrationspolitik funktioniert seit über fünfzig Jahren nicht. Frankreich gibt heute mehr als drei Milliarden Euro aus, um Sans-Papiers auszuschaffen, Europa sogar fünfzig Milliarden Euro pro Jahr. Zwei oder drei Monate später kommen sie zurück.

«Die Veränderung kommt!»

Es reicht, es muss sich etwas ändern. Und die Veränderung ist unterwegs: Am 2. Juni sind wir aufgebrochen, heute sind wir in der Schweiz. Die Veränderung kommt! Marschieren wir durch Europa, durch die ganze Welt, die fünf Kontinente, um zu sagen, dass es die Bewegungs- und die Niederlassungsfreiheit waren, die die Stärke der Welt ausgemacht haben! Wir fordern, dass diese wiederhergestellt werden. Europa hat seine Vision, ein emanzipatorisches Projekt für die Völker der ganzen Welt zu sein, verloren – es soll diese Idee wiederaufgreifen!

Liebe Kolleginnen, schaut euch hier um, wir sind in passender Umgebung: Hier ist das Bundeshaus, und darum herum stehen Banken. Hier und in allen europäischen Ländern wird die Immigration stigmatisiert, während unsere Länder von Staatschefs geplündert werden, die mit Europa und mit der ganzen Welt Geschäfte machen! Dieses Geld kommt auf die Schweizer Banken. Für sie ist es dreckiges Geld, für uns wäre es aber sauberes: Damit könnten wir unser Land aufbauen, damit könnten wir zu Hause bleiben.

Liebe Kameraden, ich möchte alle Schweizer, die hier sind, und alle Europäerinnen bitten, sich in die Haut der Sans-Papiers zu versetzen, sei es nur für eine einzige Minute: Ist es einfach, seine Frau, seine Kinder, seine Heimat für mehrere Jahre zu verlassen? Nein, wir würden lieber zu Hause bleiben, es sind die Umstände, die uns zwingen auszuwandern.

Liebe Kolleginnen, wir haben uns zur internationalen Koalition der Sans-Papiers und Migranten zusammengeschlossen, und diese Koalition wird weit gehen, die nächsten Etappen werden Asien, Amerika und Afrika sein. Wir werden den Leuten dort, die keine Kraft haben, zeigen, dass wir die Kraft haben.

«Wir haben schon gewonnen»

Wir werden am 2. Juli in Strassburg erwartet. Zwei Gymnasien stehen uns zur Verfügung, und alle europäischen Unterstützenden, denen es möglich ist, sollen kommen. Auch wenn wir fünf- oder zehntausend sind, es hat Platz für alle. Die Mitglieder des Europarlaments erwarten uns am 4. Juli um 15 Uhr für eine Zusammenkunft.

Der Marsch trägt schon Früchte, wir haben schon gewonnen, wir haben sechs Grenzen überschritten. Heute spricht man nicht mehr von Grenzen. Heute können wir über die Bewegungsfreiheit, die Niederlassungsfreiheit und die Regularisierung aller Sans-Papiers sprechen.

Ich antworte jenen in Basel, die vom Basler Polizeichef den Rücktritt gefordert haben, wenn er uns die Grenze passieren lässt: Nein, er muss nicht zurücktreten. Im Gegenteil, es ist seine Aufgabe, die Rassisten und Fremdenfeinde zu stoppen. Es gibt keinen Platz mehr für sie auf der Welt, weder in Europa noch in Afrika noch in Amerika. Der Kampf geht weiter!

www.europaischer-marsch-der-sans-papiers.blogspot.fr